Читать книгу Триумфальная арка / Arc de Triomphe - Эрих Мария Ремарк, Erich Maria Remarque - Страница 3
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ОглавлениеDer kleine Operationsraum war taghell erleuchtet. Er sah aus wie eine hygienische Metzgerei. Eimer mit blutgetränkter Watte standen herum, Verbände und Tupfer lagen auf dem Fußboden. Veber saß im Vorraum an einem lackierten Stahltisch und machte Notizen; eine Schwester kochte die Instrumente aus. Nur der Körper auf dem Tisch lag ganz für sich selbst da – ihn ging das alles nichts mehr an.
Ravic ließ die flüssige Seife über seine Hände rinnen und begann sich zu waschen. Er trocknete sich die Hände ab und zündete sich eine Zigarette an. Die Schwester öffnete ein Fenster. – «Bravo, Eugenie», lobte Veber. «Immer nach der Vorschrift.»
«Ich habe Pflichten im Leben. Ich möchte nicht gern in die Luft fliegen.»
«Das ist schön, Eugenie. Und beruhigend.»
«Manche haben eben keine. Und wollen keine haben.»
«Das geht auf Sie, Ravic!» Veber lachte. «Besser, wir verschwinden. Eugenie ist morgens sehr aggressiv. Hier ist sowieso nichts mehr zu tun.»
Ravic sah sich um. Er sah die Schwester mit den Pflichten an. Sie war ein Mensch wie er, aber sie war ihm fremder als ein Baum. «Entschuldigen Sie», sagte er. «Sie haben recht.» Auf dem weißen Tisch lag das, was vor ein paar Stunden noch Leben gewesen war. Jetzt war es nur noch ein toter Körper – und der menschliche Automat, Schwester Eugenie genannt, der stolz darauf war, nie einen Fehler zu machen, deckte es zu.
«Auf Wiedersehen, Eugenie», sagte Veber. «Schlafen Sie sich aus heute.»
«Auf Wiedersehen, Doktor Veber. Danke, Herr Doktor.» «Auf Wiedersehen», sagte Ravic. – «Entschuldigen Sie mein Fluchen.»
«Guten Morgen», erwiderte Eugenie.
Es war grauer Morgen draußen. Die Müllabfuhrwagen fuhren durch die Straßen. Veber schlug seinen Kragen hoch. «Soll ich Sie mitnehmen, Ravic?»
«Nein, danke. Ich will gehen.»
«Bei dem Wetter? Ich kann Sie vorbeifahren.»
Ravic schüttelte den Kopf. «Danke, Veber.»
Veber sah ihn prüfend an. «Sonderbar, daß Sie sich immer noch aufregen, wenn Ihnen jemand unter dem Messer bleibt[1]. Sie arbeiten doch schon seit fünfzehn Jahren und kennen das.»
«Ja, ich kenne das. Ich rege mich auch nicht auf.»
Wie konnte man ihm etwas erklären und was war daran zu erklären? Ravic zündete sich eine neue Zigarette an. «Einundzwanzig Jahre war sie alt», sagte er.
«Sie haben großartig gearbeitet. Ich könnte das nicht. Daß Sie nicht retten konnten, was ein Dilettant gemacht hat, das ist etwas, was Sie nichts angeht. Wo kämen wir hin, wenn wir anders dächten?»
«Ja», sagte Ravic. «Wo kämen wir hin?»
«Nach allem, was Sie mitgemacht haben, müßten Sie doch verdammt abgehärtet sein.»
Ravic sah ihn mit einer Spur von Ironie an. «Abgehärtet ist man nie. Man kann sich nur an vieles gewöhnen.»
«Das meine ich.»
«Ja, und an manches nie.»
Veber stieg in seinen Wagen. Er startete und beugte sich aus dem Fenster. «Soll ich Sie nicht doch rasch absetzen? Sie müssen sehr müde sein.»
Wie ein Seehund, dachte Ravic abwesend. Er gleicht einem gesunden Seehund. Aber was soll das schon? Wozu fällt mir das ein? Wozu immer dieses Doppeldenken? «Ich bin nicht müde», sagte er. «Der Kaffee hat mich aufgeweckt. Schlafen Sie gut, Veber.»
Veber lachte. Seine Zähne blitzten unter dem schwarzen Schnurrbart. «Ich gehe nicht mehr schlafen. Ich gehe in meinen Garten arbeiten. Tulpen und Narzissen setzen.»
«Auf Wiedersehen, Veber», sagte er. «Ich rufe Sie abends noch an. Das Honorar wird niedrig sein, leider. Kaum nennenswert. Das Mädchen war arm und hatte anscheinend keine Verwandten. Wir werden das noch sehen.»
Ravic machte eine abwehrende Bewegung. «Hundert Frank hat sie Eugenie übergeben. Scheint alles zu sein, was sie hatte. Das waren fünfundzwanzig für Sie.»
Draußen hielt er ein Taxi an. «Fahren Sie zum ›Osiris‹.»
Die «Osiris» war ein großes, bürgerliches Bordell mit einer riesigen Bar in ägyptischem Stil.
«Wir schließen gerade», sagte der Portier. «Niemand mehr da.»
«Niemand?»
«Nur Madame Rolande. Die Damen sind alle fort.»
«Gut.»
Ravic steckte dem Portier ein Paket Zigaretten in die Brusttasche und ging durch die schmale Tür an der Garderobe vorbei in den großen Raum. Die Bar war leer, ein paar umgeworfene Stühle, Zigarettenreste auf dem Boden und der Geruch nach Tabak, süßem Parfüm und Haut.
«Rolande», sagte Ravic.
Sie stand vor einem Tisch, auf dem ein Haufen rosa Seidenwäsche lag. «Ravic», sagte sie ohne Erstaunen. «Spät. Was willst du – ein Mädchen oder etwas zu trinken? Oder beides?»
«Wodka. Den Polnischen.»
Rolande brachte die Flasche und ein Glas. «Schenk dir selbst ein. Ich muß noch die Wäsche sortieren und aufschreiben. Das Auto der Wäscherei kommt gleich. Wenn man nicht alles notiert, stiehlen die Chauffeure, verstehst du? Als Geschenke für ihre Mädchen.»
Ravic nickte. «Laß die Musik spielen, Rolande. Laut.»
«Gut.»
Die Musik donnerte mit Pauken und Schlagzeug durch den hohen, leeren Raum wie ein Sturm.
«Zu laut, Ravic?»
«Nein.»
Zu laut? Was war zu laut? Nur die Stille.
«Fertig.» Rolande kam zu Ravic an den Tisch. Sie hatte eine feste Figur, ein klares Gesicht und ruhige, schwarze Augen. Das schwarze, puritanische Kleid, das sie trug, kennzeichnete sie als Aufseherin; es unterschied sie von den fast nackten Huren.
«Trink etwas mit mir, Rolande.» «Gut.»
Ravic holte ein Glas von der Bar und schenkte ein. Rolande hielt die Flasche zurück, als das Glas halb voll war. «Genug! Ich trinke nicht mehr.»
«Du brauchst ein Mädchen», sagte Rolande. «Ich kann Kiki telefonieren. Sie ist sehr gut. Einundzwanzig Jahre alt.»
«So. Auch einundzwanzig Jahre alt. Das ist heute nichts für mich.» Ravic goß sein Glas wieder voll. «Woran denkst du eigentlich, Rolande, bevor du einschläfst?»
«Meistens an gar nichts. Ich bin zu müde.»
«Und wenn du nicht zu müde bist?»
«An Tours.»
«Warum?»
«Eine Tante von mir hat da ein Haus mit einem Laden drin. Ich habe zwei Hypotheken darauf gegeben. Wenn sie stirbt – sie ist sechsundsiebzig –, bekomme ich das Haus.Ich will dann aus dem Laden ein Café machen. Helle Wände mit Blumenmustern, eine Kapelle, drei Mann: Klavier, Geige, Cello; im Hintergrund eine Bar. Klein und gut. Das Haus liegt in einem guten Viertel. Ich glaube, daß ich es mit neuntausendfünfhundert Franks ein» richten kann, mit den Vorhängen und Lampen sogar. Dann will ich noch fünftausend Franks in Reserve haben für die erste Zeit. Und natürlich die Mieten aus der ersten und zweiten Etage. Daran denke ich.»
«Bist du in Tours geboren?»
«Ja. Aber niemand weiß, wo ich seitdem war. Und wenn das Geschäft gut geht, wird auch niemand sich darum kümmern. Geld deckt alles zu.»
«Nicht alles. Aber vieles.»
Ravic fühlte die Schwere hinter den Augen, die die Stimme langsamer machte.
«Ich glaube, ich habe genug», sagte er und zog ein paar Scheine aus der Tasche. «Wirst du in Tours heiraten, Rolande?»
«Nicht gleich. Aber in ein paar Jahren. Ich habe einen Freund da.»
«Fährst du ab und zu hin?»
«Selten. Er schreibt mir manchmal. An eine andere Adresse natürlich. Er ist verheiratet, aber seine Frau ist im Hospital.
Tuberkulose. Höchstens noch ein bis zwei Jahre, sagen die Ärzte. Dann ist er frei.» Ravic stand auf. «Gott segne dich, Rolande. Du hast einen gesunden Menschenverstand.»
Sie lächelte ohne Mißtrauen. Sie fand, daß er recht hatte. Ihr klares Gesicht war nicht eine Spur müde. Es war frisch, als sei sie gerade aufgestanden. Sie wußte, was sie wollte. Das Leben hatte keine Geheimnisse für sie.
Draußen war es heller Tag geworden. Es hatte aufgehört zu regnen. Der Portier war verschwunden, die Nacht fort» gewischt, der Tag hatte begonnen.
Die Frau hat sich erschrocken, schrie aber nicht.
«Ruhig, ruhig», sagte Ravic. «Ich bin es. Derselbe, der Sie vor ein paar Stunden hergebracht hat.»
Die Frau atmete wieder. Ravic sah sie nur undeutlich. «Wollen Sie frühstücken?» fragte er. Er hatte die Frau vergessen gehabt und dann geglaubt, als er seinen Schlüssel geholt hatte, sie sei schon gegangen. Er wäre sie gern losgeworden. Er hatte genug getrunken. Er wollte allein sein.
«Wollen Sie Kaffee?» fragte er. «Es ist das einzige, was hier gut ist.»
Die Frau schüttelte den Kopf. Er sah sie genauer an. «Ist was los? War jemand hier?»
«Nein.»
«Aber irgendwas muß doch los sein. Sie starren mich ja an wie ein Gespenst.»
Die Frau bewegte die Lippen. «Der Geruch», sagte sie dann.
«Geruch?» wiederholte Ravic verständnislos; «Wodka riecht doch nicht. Kirsch und Brandy auch nicht. Und Zigaretten rauchen Sie ja selbst. Was ist daran zu erschrekken?»
«Du lieber Himmel, es wird Äther sein», sagte Ravic, dem es auf einmal einfiel. «Ist es Äther?»
Sie nickte.
«Sind Sie einmal operiert worden?»
«Nein … es ist …»
Ravic hörte nicht mehr zu. Er öffnete das Fenster. «Wird gleich vorbei sein. Rauchen Sie eine Zigarette inzwischen.» – Er ging ins Badezimmer und drehte die Hähne auf. Im Spiegel sah er sein Gesicht. Er hatte ein paar Stunden vorher schon einmal so gestanden. Inzwischen war ein Mensch gestorben. Es war nichts dabei. Jeden Augenblick starben Tausende von Menschen. Aber für den einen, der starb, war es alles und wichtiger als die ganze Welt, die weiter kreiste. Er setzte sich auf den Rand der Wanne und zog die Schuhe aus.
Ravic warf die Schuhe in eine Ecke. Er drehte die Dusche an. Das kühle Wasser strömte über seine Haut. Er atmete tief und trocknete sich ab. Der Trost der kleinen Dinge. Wasser, Atem, abendlicher Regen. Er ging in das Zimmer zurück. Die Frau hockte in der Ecke des Sofas, die Decke hoch um sich gezogen.
«Kalt?» fragte er.
Sie schüttelte den Kopf.
«Angst?»
Sie nickte.
«Vor mir?»
«Nein.»
«Vor draußen?»
«Ja.»
Ravic schloß das Fenster. – «Danke», sagte sie.
Es war, als würde er von einer Nacht auf einem fremden Planeten zurückgenommen. Alles wurde plötzlich einfach, der Morgen, die Frau – es war nichts mehr zu denken.
«Komm», sagte er.
Sie starrte ihn an.
«Komm», sagte er ungeduldig.
1
Unter dem Messer bleiben = sterben