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Gilbert Keith Chesterton

Ein Pfeil vom Himmel - Pater Brown

Hunderte von amerikanischen Detektivgeschichten fangen damit an, dass ein amerikanischer Millionär ermordet wird; aus dunklen Gründen betrachtet man ein solches Ereignis als Unglück. Auch die vorliegende Geschichte beginnt erfreulicherweise mit einem ermordeten Millionär. Ja, in gewissem Sinn sogar mit dreien, was manche ohne Zweifel als ein Zuviel des Guten empfinden werden. Aber gerade durch diese Häufung von verbrecherischen Anschlägen zeichnete sich dieser Fall vor anderen Kriminalfällen aus, wurde er zu einem so absonderlichen Rätsel.

Allgemein hieß, sie seien einer Vendetta oder einem Fluche zum Opfer gefallen, der sich an den Besitz einer geschichtlich wie geldlich gleich wertvollen Reliquie heftete – eine Art Kelch, der mit kostbaren Steinen eingelegt und in Kennerkreisen als „Koptenpokal“ bekannt war. Sein Ursprung war zweifelhaft, der Zweck vermutlich kirchlich. Manche führten das Schicksal, das seine Besitzer zu ereilen pflegte, auf den Fanatismus irgendeines orientalischen Christen zurück, der sich darüber entsetzte, dass der heilige Gegenstand durch so weltliche Hände ging. Der geheimnisvolle Mörder hatte bereits, ob Fanatiker oder nicht, in der Welt der Presse und des Klatsches eine brennende und sensationelle Neugier erweckt. Der Namenlose war mit einem Namen – besser gesagt einem Spitznamen, versehen. Wir aber beschäftigen uns nur mit der Geschichte des dritten Opfers. Denn nur in diesem Falle hatte ein gewisser Pater Brown, der Held dieser Skizzen, Gelegenheit, seine Anwesenheit zur Geltung zu bringen. Sobald Pater Brown den Ozeandampfer verließ und den Fuß auf amerikanischen Boden setzte, mußte er die Entdeckung machen – wie schon andere Engländer vor ihm – dass er eine über Erwarten wichtige Persönlichkeit sei. Seine untersetzte Gestalt, sein Gesicht mit den kurzsichtigen und einfachen Zügen, seine etwas abgenutzte schwarze geistliche Kleidung wären bei ihm zu Hause niemals aufgefallen – höchstens als besonders unauffällig. Amerika aber hat eine geniale Art, den Ruhm zu züchten. Sein Mitwirken bei ein oder zwei merkwürdigen kriminellen Fällen und seine lange Bekanntschaft mit dem früheren Verbrecher und jetzigem Detektiv Flambeau hatten in Amerika aus einem bloßen Gerücht, wie es in England verbreitet war, ihm einen Ruf geschaffen. Sein rundes Gesicht war starr vor Staunen, als ihm eine Gruppe Journalisten am Kai auflauerte wie eine Räuberbande und ihm eine Reihe von Fragen stellte, für die er sich am allerwenigsten maßgebend vorkam – wie zum Beispiel die Frauenmode oder die Verbrecherstatistik des Landes, das er in diesem Augenblick zum erstenmal erblickte. Vielleicht fiel ihm gerade im Gegensatz zu der Einmütigkeit dieser schwarzen Gruppe eine andere Gestalt ins Auge, die sich ebenfalls gegen das zu dieser Zeit und an diesem Orte blendend weiße Tageslicht schwarz abhob, aber ganz einsam dastand: ein langer, gelblicher Mann mit großer Brille, der ihn, als die Journalisten fertig waren, mit einer Bewegung aufhielt und fragte: „Verzeihen Sie, aber vielleicht suchen Sie Hauptmann Wain?“

Zu Pater Browns Entschuldigung – denn er selbst hätte sich gewiß aufrichtig entschuldigt – muß man anführen, dass er Amerika zum erstenmal sah – besonders aber diese besondere Sorte Hornbrille, die damals noch nicht in England Mode war wie heute. Er hatte im ersten Augenblick die Empfindung, ein Meerungeheuer mit riesigen, hervorstehenden Augen zu erblicken, das eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Taucher hatte. Der Herr war im übrigen höchst geschmackvoll gekleidet, und dem naiven Pater schien die Hornbrille den eleganten Menschen förmlich zu entstellen, als hätte sich ein Geck als letzten Schick ein Holzbein zugelegt. Auch die Frage setzte ihn in Verlegenheit. Ein amerikanischer Flieger namens Wain, ein Freund seiner französischen Freunde, stand allerdings auf der langen Liste von Personen, die er während seines Besuches in Amerika besuchen wollte, aber er hatte nie erwartet, ihn so bald zu treffen.

„Verzeihen Sie“, fragte er zögernd, „sind Sie Hauptmann Wain? Oder – oder kennen Sie ihn?“

„Dass ich nicht Hauptmann Wain bin, steht für mich so ziemlich fest“, antwortete der Bebrillte mit unbeweglichem Gesicht. „Das war mir klar, als ich ihn da drüben im Auto auf Sie warten sah. Aber die zweite Frage ist nicht so einfach zu beantworten. Ich glaube Wain und seinen Onkel und den alten Merton zu kennen – ich kenne den alten Merton, aber der alte Merton kennt mich nicht. Verstehen Sie?“

Pater Brown verstand nicht ganz. Er blinzelte die glänzende Seelandschaft und die Türme der Stadt an, und dann auch den Bebrillten. Nicht nur die Maske auf den Augen ließ sein Gesicht undurchdringlich erscheinen. Etwas in seinem gelben Gesicht sah asiatisch, ja sogar chinesisch aus – seine Sprache schien aus verschiedenen Lagen Ironie zu bestehen. Er gehörte zum Typ des rätselhaften Amerikaners, der sich mitten in der offenherzigen und geselligen Bevölkerung manchmal findet.

„Ich heiße Drage“, sagte er, „Norman Drage, und bin amerikanischer Bürger, was vieles erklärt. Jedenfalls vermute ich, dass ihr Freund Wain ihnen so manches mitteilen möchte – also gedulden wir uns noch etwas.“

Pater Brown wurde in benommenem Zustand zum Auto geschleppt, das in einiger Entfernung wartete. Ein junger Mensch mit Büscheln von zerzaustem blondem Haar und etwas gequältem und abgespanntem Gesichtsausdruck rief ihn von weitem an und stellte sich als Peter Wain vor. Bevor Pater Brown zur Besinnung kam, saß er schon fest im Wagen und fuhr mit beträchtlicher Geschwindigkeit durch die Stadt und darüber hinaus. Er war das heftige amerikanische Zugreifen nicht gewohnt und fühlte sich so verwirrt, als hätte ihn ein mit Drachen bespannter Wagen ins Märchenland entführt. Unter so beunruhigenden Umständen hörte er zum ersten Male in langen Monologen von Wain und in kurzen Sätzen von Drage die Geschichte des Koptenpokals und der beiden Verbrechen, die damit zusammenhingen.

Wain hatte, wie es schien, einen Onkel namens Crake und dieser einen Kompagnon namens Merton. Dieser Merton war der dritte Besitzer des Pokals, wie die ersten beiden ein reicher Geschäftsmann. Der erste, der bekannte Kupferkönig Titus P. Trant, hatte von einem Unbekannten, der sich Daniel Boon nannte, Drohbriefe erhalten. Der Name war vermutlich ein Pseudonym, vertrat aber nun bereits eine sehr bekannte, wenn nicht volkstümliche Figur. Denn soviel stand bald fest: der Schreiber der Drohbriefe beschränkte sich nicht auf Drohungen. Jedenfalls wurde der alte Trant eines Morgens tot aufgefunden. Sein Kopf lag in seinem eigenen Zierteich, und vom Täter fehlte jede Spur. Glücklicherweise wurde der Pokal auf der Bank aufbewahrt. Er ging mit dem übrigen Vermögen an Trants Vetter Brian Horder über, der ebenfalls schwer reich war und von dem namenlosen Feinde bedroht wurde. Man fand ihn tot am Fuße eines Felsens in der Nähe seiner Strandvilla, in der ein Einbruch – diesmal großen Stils – stattgefunden hatte. Denn obwohl der Pokal wieder heil davonkam, wurden so viele Aktien und Pfandbriefe gestohlen, dass Horders Angelegenheiten in die größte Verwirrung gerieten.

„Brian Horders Witwe mußte alle Wertgegenstände verkaufen, glaube ich“, erklärte Wain, „und wahrscheinlich hat Brander Merton damals den Pokal erworben, denn als ich ihn kennenlernte, war er bereits glücklicher Besitzer. Aber Sie werden sich selbst sagen, dass es nicht gerade bequem ist, ihn zu haben.“

„Hat Herr Merton auch Drohbriefe bekommen?“ fragte Pater Brown nach einer Pause. „Ich glaube schon“, sagte Herr Drage, und ein Etwas in seiner Stimme ließ den Priester neugierig aufblicken, bis er bemerkte, dass der Bebrillte leise lachte, und zwar auf eine so sonderbare Weise, dass es dem Neuangekommenen kalt über den Rücken lief.

„Ich bin ziemlich davon überzeugt“, sagte Wain mit Stirnrunzeln. „Ich habe die Briefe nicht gesehen. Er zeigt seine Briefe überhaupt nur seinem Sekretär, denn er ist in solchen Dingen sehr verschlossen, ganz begreiflich bei einem so großen Geschäftsmann. Aber ich war dabei, wie er sich über Briefe wirklich aufregte und bedrückt fühlte; und gerade diese Briefe zerriß er, bevor sein Sekretär sie zu Gesicht bekam. Jetzt ist sogar der Sekretär schon nervös geworden, er behauptet, dass irgend jemand dem Alten auflauert. Kurz und gut, wir wären Ihnen für ihren Rat sehr dankbar. Man kennt ihren Ruf, Pater Brown, und deshalb hat mich der Sekretär gebeten, Sie gleich in Mertons Haus hinüberzubitten.“

„Jetzt verstehe ich“, sagte Pater Brown, dem endlich der Zweck der Entführung aufging. „Aber ich sehe wirklich nicht ein, was ich noch dabei soll. Sie sind doch an Ort und Stelle und müssen über hundertmal mehr Einzelheiten verfügen, aus denen Sie Schlüsse ziehen können, als ein zufälliger Besuch.“

„Jawohl“, sagte Drage trocken, „unsere Schlüsse sind viel zu logisch, um wahr zu sein. Wenn Sie mich fragen: was Titus P. Trant getroffen hat, kam geradeswegs von oben, ohne auf eine logische Erklärung zu warten. Es war das, was man einen Blitz aus heiterem Himmel nennt.“

„Sie wollen doch nicht behaupten“, rief Wain, „dass es übernatürlich war?“

Aber es war zu dieser Zeit gar nicht so einfach zu verstehen, was Herr Drage eigentlich meinte. Wenn er von jemand sagte, er sei sehr klug, so meinte er damit vermutlich, er sei ein Esel. Herr Drage bewahrte eine geradezu orientalische Ruhe, bis nach einer Weile der Wagen hielt. Sie waren jedenfalls am Ziel. Der Ort war merkwürdig genug. Die letzte Strecke hatte sie durch dünn bewaldetes Gebiet geführt, das in eine weite Ebene überging; gerade vor ihnen befand sich ein Gebäude, das aus einer einzigen Mauer bestand, so rund war wie ein Römerlager und ein wenig einer Flughalle glich. Die Umfriedung sah weder wie Holz noch wie Stein aus; bei näherer Betrachtung ergab sich, dass sie aus Eisen bestand.

Sie stiegen alle aus. In der Wand öffnete sich mit großer Vorsicht eine kleine Schiebetür, nachdem man daran manipuliert hatte wie an einem Geldschrank. Sehr zu Browns Erstaunen machte der Herr, der sich Drage nannte, nicht Miene einzutreten, sondern verabschiedete sich mit unheilvoller Lustigkeit. „Ich komme lieber nicht mit“, sagte er. „So viel freudige Aufregung darf man dem Alten nicht zumuten. Er liebt mich so heiß, er könnte vor Freude sterben, wenn er mich sieht.“

Er marschierte ab, und Pater Brown, dessen Verwunderung wuchs, wurde durch die Stahltür eingelassen, die hinter ihm sofort einschnappte. Drin sah man einen großen, kompliziert angelegten Garten in vielen und heiteren Farben, aber ohne Baum, Gebüsch oder Strauch. Mitten drin erhob sich ein schöner, ja imposanter Bau, der jedoch so hoch und schmal war, dass er aussah wie ein Turm. Auf dem Dache funkelte das Sonnenlicht hier und da auf Glasfenstern, aber im unteren Teile schienen sich überhaupt keine Fenster zu befinden. Überall herrschte die fleckenlose, blitzende Sauberkeit, die so gut zu der klaren amerikanischen Luft paßte. Innerhalb des Portals fanden sie sich von prächtigem Marmor, Metallen und Emaille in strahlenden Farben umgeben – aber die Treppe fehlte. In der Mitte zwischen den kompakten Mauern stieg nur der Schacht für den Aufzug in die Höhe, und der Zugang wurde durch stark gebaute, große Leute bewacht, die aussahen wie Polizisten in Zivil.

***

„Die Schutzmaßnahmen sind etwas kompliziert, ja“, sagte Wain. „Vielleicht finden Sie es komisch, Pater, dass Merton hier wie in einer Festung leben muß und nicht einmal einen Baum im Garten hat, hinter dem sich jemand verstecken könnte. Aber Sie wissen nicht, womit man es hier zu Lande zu tun hat. Und vielleicht wissen Sie auch nicht, was Brander Mertons Namen bedeutet. Er sieht ganz bescheiden aus, und auf der Straße würde sich kein Mensch nach ihm umsehen. Ganz abgesehen davon, dass er nur dann und wann im geschlossenen Auto ausfährt. Aber wenn ihm etwas zustieße, würde die Erde von Alaska bis zu den Südseeinseln erzittern. Ich glaube, dass vor ihm weder König noch Kaiser eine solche Macht besessen haben. Schließlich hätten Sie wohl aus Neugierde eine Einladung zum Zaren oder zum König von England angenommen. Vielleicht machen Sie sich nichts aus Zaren oder Millionären – aber Macht in irgendeiner Form ist immer interessant. Hoffentlich widerstreitet es nicht ihren Prinzipien, einen modernen Kaiser wie Merton zu besuchen.“

„Gewiß nicht“, sagte Pater Brown ruhig. „Es ist meine Pflicht, die Häftlinge und alle Unglücklichen in der Gefangenschaft aufzusuchen.“

Ein Schweigen entstand, und der junge Mensch runzelte mit einem sonderbaren, etwas schiefen Blick die Stirn. Dann sagte er unvermittelt:

„Na, schließlich dürfen Sie nicht vergessen, dass er es nicht mit gewöhnlichen Verbrechern oder der Schwarzen Hand zu tun hat. Dieser Daniel Boon ist ein Teufel. Trant hat er in seinem eigenen Garten und Horder vor seinem Hause umgebracht, und es ist ihm nichts passiert.“

Das oberste Stockwerk des Gebäudes bestand zwischen den ungeheuer dicken Mauern aus zwei Zimmern: einem äußeren, in das sie eintraten, und dem inneren, dem Allerheiligsten des Millionärs. Im äußeren Zimmer trafen sie zwei Gäste, die gerade das innere verließen. Den einen rief Peter Wain an – es war sein Onkel; ein kleiner, aber gedrungener und lebendiger Mann mit rasiertem Schädel, der kahl wirkte, und einem Gesicht, das so braun aussah, als sei es niemals weiß gewesen. Es war der alte Crake. Sein Begleiter stand im größten Gegensatz zu ihm – es war ein eleganter Herr mit dunklem Haar wie schwarzer Lack und einem breiten schwarzen Band am Monokel – Barnard Blake, der Anwalt des alten Merton, der mit den beiden Kompagnons geschäftliche Angelegenheiten der Firma besprochen hatte. Die vier Personen trafen in der Mitte des Zimmers zusammen und hielten sich im Gehen und Kommen einen Augenblick auf, um ein paar Höflichkeiten zu tauschen. Und während dieses Hin und Her saß im Hintergrund des Zimmers, neben der Türe zum zweiten, eine Gestalt, schwer und unbeweglich im Halblicht des Fensters – ein Mann mit einem Negergesicht und ungeheuren Schultern. Er war das, was man in Amerika mit schmerzhafter Selbstkritik den Bösewicht nennt – ein Wächter, wie ihn die Freunde, ein Halsabschneider, wie ihn die Feinde nannten!

Der Mensch bewegte und rührte sich nicht, um irgend jemand zu begrüßen. Sein Anblick bewog Peter Wain, seine erste, unruhige Frage zu stellen.

„Ist jemand drin?“ fragte er.

„Nur keine Aufregung, Peter“, kicherte sein Onkel. „Sein Sekretär Wilton ist drin bei ihm – das dürfte genügen. Ich glaube. Wilton gönnt sich überhaupt keinen Schlaf mehr, so sehr bewacht er Merton. Er taugt mehr als zwanzig Wächter. Und er ist so schnell und lautlos wie ein Indianer.“

„Na, das mußt du freilich am besten wissen“, lachte der Neffe. „Ich erinnere mich noch an deine Erzählungen aus den Grenzkriegen gegen die Indianer und die Indianerschliche, die du mich gelehrt hast, wie ich noch ein Junge war. Aber in meinen Indianerbüchern haben die Indianer merkwürdigerweise immer schlecht abgeschnitten.“

„Aber nicht in Wirklichkeit“, erwiderte der alte Soldat ernst.

„Wirklich nicht?“ fragte der höfliche Blake. „Ich habe immer gemeint, dass sie gegen unsere Feuerwaffen wenig ausrichten konnten.“

„Ich habe einmal einen Indianer gesehen, der unter dem Feuer von hundert Gewehren stand und nichts hatte als ein kleines Skalpmesser. Trotzdem tötete er einen Weißen, der an meiner Seite auf der Spitze eines Forts stand.“

„Ja, wie denn“, fragte der andre.

„Er warf es,“ erwiderte Crake – „warf es wie der Blitz, bevor man einen Schuß abgeben konnte. Ich weiß nicht, woher er den Trick hatte.“

„Nun, hoffentlich hast du ihn nicht von ihm gelernt“, sagte der Neffe lachend.

„Mir scheint, die Geschichte ist nicht ohne Moral“, sagte Pater Brown nachdenklich. Während sie sprachen, kam der Sekretär Wilton aus dem inneren Zimmer und wartete; es war ein blasser, blondhaariger Mensch mit viereckigem Kinn und ruhigen Augen, die an einen Hund erinnerten; man konnte sich einbilden, dem geraden Blick eines Hofhundes zu begegnen.

Er sagte nur: „Herr Merton wird Sie in etwa zehn Minuten empfangen“, aber das genügte, um die plaudernde Gruppe an den Aufbruch zu mahnen. Der alte Crake hatte Eile, und sein Neffe begleitete ihn und den Anwalt, so dass Pater Brown einen Augenblick mit dem Sekretär allein blieb. Denn der Negerriese am anderen Ende des Zimmers wirkte kaum als lebender Mensch, er saß unbeweglich da und kehrte ihnen den Rücken.

„Die ganze Einrichtung macht wohl einen komplizierten Eindruck“, bemerkte der Sekretär. „Sie haben vermutlich die Geschichte des Daniel Boon gehört und wissen, warum wir den Chef nie lange allein lassen dürfen.“

„Aber ist er jetzt nicht allein?“ fragte Pater Brown.

Der Sekretär sah ihn mit seinen ernsten grauen Augen an.

„Fünfzehn Minuten lang“, sagte er. „Eine Viertelstunde von den vierundzwanzig. Länger bleibt er nicht allein; und darauf besteht er, aus einem merkwürdigen Grunde.“

„Und was für ein Grund ist das?“ fragte der Gast.

„Der Koptenpokal“, sagte der Sekretär. Er hörte nicht auf, dem Pater ins Auge zu sehen, aber sein Mund, der eben noch ernst gewesen war, wurde bitter. „Vielleicht haben Sie den Koptenpokal vergessen – aber er vergißt ihn nie, weder ihn noch sonst etwas. Er vertraut ihn keinem von uns an. Irgendwo und irgendwie ist er in dem Zimmer dort eingeschlossen, so dass nur er ihn finden kann. Er nimmt ihn nur heraus, wenn wir alle draußen sind. Wir müssen also diese Viertelstunde riskieren, während er dasitzt und ihn anbetet; vermutlich die einzige Anbetung, zu der er sich aufschwingt. Aber eigentlich ist die Gefahr nicht groß. Ich habe dieses Haus zu einer Falle gemacht, und selbst dem Teufel würde es schwer fallen, hinein oder jedenfalls herauszukommen. Wenn dieser verdammte Daniel uns einen Besuch abstattet, wird er ziemlich lange hierbleiben, das schwöre ich Ihnen! Ich sitze hier während der fünfzehn Minuten wie auf Nadeln, und sowie ich einen Schuß oder ein anderes verdächtiges Geräusch höre, drücke ich auf diesen Knopf, und ein elektrischer Strom lädt die Gartenmauer, so dass jeder, der hinausgehen oder sie überklettern will, sofort den Tod findet. Übrigens kann es keinen Schuß geben, denn dies ist der einzige Eingang, und das Fenster, an dem er sitzt, ist oben auf einem Turm, der so glatt ist, als wäre er geölt. Und außerdem sind wir hier natürlich alle bewaffnet. Wenn Daniel wirklich in das Zimmer käme, würde er es lebendig nicht verlassen.“

Pater Brown blinzelte nachdenklich; er blickte auf den Teppich. Dann sagte er plötzlich mit einem Ruck:

„Sie nehmen es mir doch nicht übel? Mir ist eben etwas eingefallen. Es betrifft Sie.“

„In der Tat“, erwiderte Wilton. „Was meinen Sie?“

„Sie haben nur eine einzige Idee im Kopf,“ sagte Pater Brown, „und Sie müssen mir verzeihen, wenn ich sage, dass es mehr die Idee ist, Daniel Boon zu fangen als Brander Merton zu schützen.“

Wilton fuhr zusammen und starrte seinen Gast an; langsam formte sich auf seinen Lippen ein sonderbares Lächeln.

„Wieso haben Sie – wie kommen Sie darauf?“ fragte er.

„Sie sagten eben, wenn Sie einen Schuß hörten, könnten Sie den Feind auf der Flucht durch den elektrischen Strom töten. Sie haben sich doch vermutlich klargemacht, dass der Schuß für ihren Chef tödlich werden könnte, bevor der Strom für seinen Feind tödlich würde? Ich meine damit nicht, dass Sie Herrn Merton nicht schützen werden, wenn es in ihrer Macht steht, sondern dass es Ihnen erst in zweiter Linie wichtig ist. Die Vorbereitungen sind etwas kompliziert, wie Sie selbst sagen und gehen wohl auf Sie zurück. Aber Sie scheinen auch eher dazu angetan zu sein, einen Mörder zu fangen, als einen Menschen zu retten.“

„Hochwürden“, sagte der Sekretär, dessen Stimme sich beruhigt hatte, „Sie sind verdammt klug – aber sonderbarerweise sind Sie noch etwas mehr. Irgendwie gehören Sie zu den Leuten, denen man die Wahrheit sagen möchte – und außerdem wird man es ihnen ohnedies erzählen, denn man neckt mich ja bereits damit. Man sagt allgemein, dass ich eine fixe Idee habe – nämlich den Verbrecher zur Strecke zu bringen – und vielleicht stimmt das auch. Aber ich werde ihnen jetzt etwas sagen, was sonst niemand weiß: ich heiße in Wirklichkeit John Wilton Horder.“ Pater Brown nickte, als sei ihm nun alles klar, doch der andere fuhr fort:

„Dieser Mensch, der sich Daniel Boon nennt, hat meinen Vater und meinen Onkel getötet und meine Mutter zugrunde gerichtet. Als Merton einen Sekretär suchte, nahm ich den Posten an. Ich dachte, wo der Koptenpokal sei, würde sich auch der Verbrecher früher oder später einfinden. Aber ich wußte nicht, wer es war, und konnte also nur auf ihn warten. Ich hatte die feste Absicht, Merton treu zu dienen.“

„Ich verstehe“, sagte Pater Brown sanft, „aber ist es nicht eigentlich an der Zeit, dass wir hineingehen?“

„Ja gewiß“, erwiderte Wilton; er war wieder zusammengefahren, und der Priester schloß daraus, dass er sich einen Augenblick wieder seinen Rachegelüsten überlassen hatte. „Gewiß – gehen Sie nur hinein.“

Pater Brown ging geradeswegs in das innere Zimmer. Was folgte, waren keine Begrüßungen, sondern nur ein totes Schweigen. Einen Augenblick später erschien der Priester wieder in der Türe.

Im selben Augenblick bewegte sich der stumme Wächter, der an der Tür saß – es sah aus, als sei ein Riesenmöbel lebendig geworden. Etwas in der Haltung des Priesters hatte wie ein Signal gewirkt. Sein Kopf hob sich vom Licht des Fensters ab, aber sein Gesicht blieb im Schatten.

„Jetzt werden Sie wohl auf den Knopf drücken müssen“, sagte er mit einem Seufzer.

Wilton schien mit einem Ruck aus seinen wilden Grübeleien zu erwachen und sprang auf. Seine Stimme überschlug sich.

„Es war kein Schuß!“ rief er aus.

„Ja“, sagte Pater Brown, „es kommt darauf an, was Sie unter einem Schuß verstehen.“

Wilton sprang vor, und zusammen stürzten sie in das innere Zimmer. Es war verhältnismäßig klein und einfach, aber höchst luxuriös ausgestattet. Ihnen gegenüber stand ein großes Fenster weit offen – die Aussicht ging auf den Garten und die bewaldete Ebene. Nahe beim Fenster standen ein Sessel und ein Tischchen, als hätte der Gefangene während des kurzen Glücks seiner Einsamkeit gar nicht genug Licht und Luft bekommen können.

Auf dem Tischchen am Fenster stand der Koptenpokal. Der Besitzer hatte ihn jedenfalls beim günstigsten Licht betrachtet. Und es war auch der Mühe wert. Das weiße, blendende Tageslicht verwandelte die kostbaren Steine in vielfarbige Flammen, so dass er wie ein Urbild des Heiligen Gral aussah. Es war der Mühe wert, ihn zu betrachten. Aber Brander Merton betrachtete ihn nicht. Sein Kopf hing über die Lehne des Sessels, seine weiße Mähne berührte fast den Boden, und sein grauer Spitzbart wies zur Decke – in seinem Hals aber steckte ein langer, braunangestrichener Pfeil mit roten Federn.

„Ein lautloser Schuß“, sagte Pater Brown leise. „Ich hatte gerade an die neuen Erfindungen gedacht, die geräuschlosen Feuerwaffen. Dies ist freilich eine alte Erfindung – aber genau so geräuschlos.“

Einen Augenblick später fragte er: „Er ist tot, fürchte ich. Was werden Sie tun?“

Der blasse Sekretär riß sich mit einem plötzlichen Entschluß zusammen. „Ich werde natürlich auf den Knopf drücken“, sagte er, „und wenn das noch nicht genügt, um Daniel kaltzumachen, werde ich ihn in den Wäldern jagen, bis ich ihn finde.“

„Geben Sie bloß acht, dass Sie keinen unsrer Freunde kaltmachen. Sie müssen in der Nähe sein, eigentlich sollte man sie rufen.“

„Die wissen ja alle Bescheid mit der Mauer“, erwiderte Wilton. „Und sie werden auch nicht versuchen, 'rüberzuklettern – außer, wenn einer von ihnen es sehr eilig hat.“

Pater Brown ging zum Fenster, durch das der Pfeil anscheinend hereingeflogen war, und sah hinaus. Tief unten lag der Garten mit seinen ebenen Blumenbeeten wie eine zart getönte Landkarte der Erde. Die ganze Aussicht sah so weit und leer aus, der Turm schien so hoch in den Himmel zu ragen, dass ihm ein seltsamer Ausdruck in den Sinn kam.

„Ein Blitz aus heiterem Himmel“, sagte er. „Hat nicht jemand vor kurzem von einem Blitz aus heiterm Himmel gesprochen, vom Tod, der aus den Lüften kommt? Sehen Sie bloß, alles sieht so weit entfernt aus – wie unwahrscheinlich, dass ein Pfeil so weit her kommen sollte! Außer freilich ein Pfeil vom Himmel.“

Wilton war zurückgekehrt, antwortete aber nicht. Der Priester fuhr fort:

„Man denkt dabei an Luftschiffahrt. Ich muß mal den jungen Wain fragen ... nach Luftschiffahrt.“

„Der junge Wain war es sicher nicht!“ rief der Sekretär mit fast wütender Gebärde.

„Vielleicht ist er auch zu jung, um der Verbrecher zu sein“, bemerkte Pater Brown. „Man wird natürlich auch auf den alten Onkel verfallen – wir müssen ihn über Pfeile ausholen. Dieser hier sieht wie ein Indianerpfeil aus. Ich weiß nicht, wer den Indianerschuß abgegeben hat. Aber erinnern Sie sich an die Geschichte, die der Alte erzählte. Ich bemerkte, dass sie eine Moral hat.“

„Wenn sie eine Moral hat“, erwiderte der junge Mann mit Wärme, „so doch höchstens, dass ein Indianer weiter schießen kann als man annimmt. Wenn Sie den Alten verdächtigen, ist das purer Unsinn.“

„Ich glaube, Sie verstehen die Moral nicht ganz“, sagte Pater Brown.

Gar greuliche Thaten

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