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Die gleichmäßig graue Wolkendecke ließ zum ersten Mal in diesem Winter feine Flocken auf die Londoner Innenstadt fallen. Unten auf der Straße verwandelten sie sich in hellbraunen Matsch, der den Fahrern, die an diesem Freitagnachmittag Anfang Dezember unterwegs waren, schlitternde Bremsmanöver bescherte. Schon wenige Zentimeter Schnee konnten die Metropole an der Themse vollkommen lahmlegen – es gab ihn selten, man war nie darauf vorbereitet und kaum ein Fahrzeug in England fuhr mit Winterreifen.

Lena stand beim Fenster im letzten Stockwerk des Aldersgate Towers, dem dunkelblauen Glaskomplex mitten in der City, der beim Postman’s Park neben dem historischen Museum von London aufragt. Sie schaute fasziniert über die Dächer der Londoner Börse und der Temple Bar auf die sich langsam weiß färbende Kuppel der St. Pauls Cathedral, die zum Greifen nahe schien. Wie der frisch gestärkte Reifrock einer eleganten Frau aus dem vorigen Jahrhundert, so kam ihr das gewölbte Dach des Doms vor.

Dahinter wand sich die Themse in einer weiten Linksbiegung durch die Millionenstadt. Auf den Brücken, die von hier aus zu sehen waren, pulsierte dichter Verkehr. Alles war geschäftig auf den Beinen nach Hause oder am Einkaufen für das bevorstehende Wochenende und staute in überfüllten Fahrbahnen nach allen Richtungen quer durch die Stadt. Lena genoss den Anblick des bunten Treibens, es fühlte sich lebendig an und für eine Journalistin konnte hinter jedem der Menschen eine Story stecken, die es wert war, erzählt zu werden.

In dem eleganten Office-Building, hoch über den Dächern der Stadt, residierte das Redaktionsbüro Barod International, für das Lena seit letztem Sommer arbeitete. Sie kannte Shyam Barod, den Besitzer der Firma, schon lange aus der Branche. Ihr gefiel seine Entschlossenheit, heikle Themen aufzugreifen. Shyam hatte eine gute Hand für Storys, was der Grund für seinen Erfolg und die rasche Karriere war. Mehrmals hatte er bereits versucht, Lena von ihrem alten Job abzuwerben, bis sie ihm schließlich die Reportage anbot, die sonst niemand machen wollte: Business and Terror – Wer profitierte vom Anschlag am elften September?

Er bewies auch diesmal Mut, griff sofort zu und gab Lena ein eigenes Sendeformat für politische Dokumentationen. In ihrer Reportagereihe Behind Headlines sollten regelmäßig anspruchsvolle Hintergrundberichte zu politischen Ereignissen erscheinen, die er plante, in allen wichtigen News-Kanälen Englands unterzubringen.

Lena ging zurück in den Besprechungsraum, wo schon einige vom Team, die andere Programmschienen betreuten, warteten. Alle sahen gespannt auf Shyams jungen Assistenten Clark, der die Statistiken betreute und die Listen mit den laufenden Quoten ausgebreitet vor sich liegen hatte.

»Ja, euer Chef-Analyst sagt euch«, eröffnete er lachend die Runde, »wir haben wieder einmal den Vogel abgeschossen.«

Der quirlige Clark war erst Anfang dreißig, stets bester Laune und mit seinen bunt gemusterten Sakkos der schräge Vogel in der arrivierten Mannschaft. Er nahm die Kopien von den Berichten und schob sie über den Tisch, während sich Lena bei der Kaffeemaschine neben dem Eingang einen Cappuccino zubereitete.

»Vier unserer aktuellen Reportagen sind in ganz England gelaufen, zwei haben sich auch nach Deutschland, die Schweiz und Frankreich verkauft und dein Bericht über die neuen Entwicklungen in der IRA«, er nickte einem älteren Mitarbeiter mit dunklem Haarzopf und runder Nickelbrille zu, »hat es bis nach Übersee geschafft – gratuliere, tolle Arbeit. Aber diesmal habt ihr es schwer, Lenas neues Reportformat hat alle Erwartungen übertroffen.«

Clark stand auf und winkte Lena mit einer einladenden Geste zu sich. Sie warf Zucker in ihre Tasse und ging umrührend hinüber zum Tisch.

»Sensationell«, fuhr er fort und hielt ihr den Ausdruck hin, »deine Story über 9/​11 hat sich bisher in zwölf Länder verkauft, darunter USA, Japan, Australien und Island – dort hatten wir noch nie etwas auf Sendung – und wurde insgesamt dreißig Mal ausgestrahlt. In Amerika warst du damit im Hauptabendprogramm und hast eine Welle von erbosten Reaktionen der konservativen Republikaner ausgelöst, die auf den sozialen Netzwerken deine Spekulationen zur Beteiligung der Waffenlobby an den Vorgängen empörend fanden. Es ist daher anzunehmen, dass du ins Schwarze getroffen hast. Mehr als dieses Echo kann man sich für eine Reportage nicht wünschen …«

Alle Kollegen pochten mit den Knöcheln anerkennend auf die Tischplatte und Lena rührte verlegen im Cappuccino.

»Und von Shyam, der nicht hier sein kann, weil er in der Schweiz zu tun hat«, warf Ruth ein, die auch beim Tisch saß, »soll ich dir ebenfalls ausrichten, dass er froh über den Erfolg deiner ersten Arbeit für uns ist.«

»Danke euch, das freut mich sehr. Es war oft an der Kippe, ob ich das Thema gegen den politischen Widerstand durchbringe«, sagte Lena und ihre Augen wurden feucht, »auch habe ich einen lieben Freund in dieser Zeit verloren.«

»Ich weiß: Niels«, sagte Ruth tröstend. »Er war ein bemerkenswerter Kollege, den auch wir sehr geschätzt haben. Schon deshalb ist es wichtig, dass deine Sendung jetzt eine derartige Anerkennung findet.«

Lena setzte sich an den Tisch und verfolgte die weiteren Gespräche mit dem wehmütigen Gefühl, dass Niels nicht mehr da war, aber auch mit Zufriedenheit ob des neuen Jobs. Sie arbeitete gerne in dieser ruhigen, sachlichen Crew und sie mochte Ruth, Shyams Mutter, gut leiden. Sie war eine große, elegante Frau Mitte sechzig, hatte kurze dunkle Haare mit einer Silbersträhne und trug mit Vorliebe streng auf Figur gearbeitete Hosenanzüge. Ruth mischte sich in Shyams Leitung der Redaktion nicht ein. Sie machte mit Clark zusammen die Statistiken, half bei der Buchhaltung und absolvierte gelegentlich die offiziellen Termine, wenn ihr Sohn unterwegs war.

»What’s next?«, fragte sie Lena nach der Besprechung, als nur noch sie beide und Clark im Raum waren, zu deren neuen Plänen. »Hast du schon ein Folgeprojekt im Auge, das 9/​11 toppen kann?«

»Was schwer sein wird, denn es gibt nicht viele Ereignisse, die von so allgemeinem Interesse sind«, gab Lena zurück. »Ich werde jetzt einmal über die Feiertage ausspannen und überlegen.«

»Wenn du möchtest«, warf Clark dazwischen, »stehe ich dir gerne bei einem gediegenen Abendessen für ein privates Brainstorming zur Verfügung.«

Lena schmunzelte über die Formulierung. Clark behauptete, er stamme von einem alten Adelsgeschlecht ab und versuchte, alle Frauen damit zu beeindrucken.

»Das ehrt mich sehr«, antwortete sie amüsiert, »aber die Antwort ist wie immer …«

»Du wirst das eines Tages bereuen«, ergänzte er und legte die Stirn in Falten. »Sobald ich die elterlichen Ländereien in Sheffield erbe, würde ich dich mitnehmen.«

»Ganz bestimmt«, Lena blinzelte ihn an, »und glaube mir, wenn ich zehn Jahre jünger wäre …«

»Also«, unterbrach Ruth das scherzhafte Geplänkel der beiden und wurde wieder sachlich. »Was sage ich Shyam, wenn er zurückkommt?«

»Dass ich meine zwei Wochen Urlaub benutze, um die Themen zu sondieren«, meinte Lena und packte ihre Sachen. »Ich melde mich dann nach Weihnachten bei ihm.«

»Sehr gut, nach dem Erfolg mit deiner neuen Sendung sollten wir nicht zu lange warten. Wie du ja selbst weißt, die Leute lieben Sensationen und wollen gefüttert werden.«

Lenas Wolljacke lag auf dem Beifahrersitz, die Heizung des schwarzen Mini Coopers blies auf der größten Stufe warme Luft in den Fußraum und der USB-Stick mit Chris Reas Driving home for Christmas steckte im Player – besser geht’s nicht, dachte sie.

Der Verkehr hatte etwas nachgelassen, trotzdem ging es nur zäh voran. Für die zwanzig Kilometer bis nach Twickenham im Südwesten der Großstadt, wo Lena ihr Haus hatte, würde sie mehr als die übliche Stunde brauchen. Nur heute störte sie das nicht. Im Gegenteil, sie überlegte sogar, stehen zu bleiben, um einen Bummel einzulegen.

Obwohl sie im Winter ihrer Leidenschaft – mit dem Motorrad über die englischen Landstraßen zu flitzen – nicht nachgeben konnte, liebte sie diese Jahreszeit. Die letzten Wochen vor Weihnachten waren für sie schon immer etwas Besonderes gewesen. Die Menschen waren freundlich, zumindest bemühten sie sich, wenn man sie daran erinnerte, und die beleuchteten Dekorationen gaben den Straßen und Plätzen der Innenstadt ein festliches Flair. Wenn dann, so wie jetzt, auch noch Schnee fiel, mischte sich das letzte Licht des Spätnachmittags mit der Straßenbeleuchtung zu einer ganz eigenen Stimmung, die Lena an ihre Kindheit in Dänemark erinnerte.

Der kleine Ort in der Nähe von Aalborg, in dem sie aufgewachsen war, bis die Familie nach England zog, lag ebenfalls am Wasser. Der Abendhimmel über dem engen Fjord, der zur Ostsee hinauslief, hatte im Winter die gleiche rötliche Färbung in der Dämmerung. Überhaupt war das Klima durch die Nähe zum Meer ähnlich feucht und frisch wie in England. Anfangs hatte Lena unter der Umstellung sehr gelitten. Sie war erst sechs, als ihr Vater die Anstellung bei der dänischen Handelsmission in London bekam und sie von dem Dorf in die Metropole übersiedelten. Später als Teenager war sie froh, der Enge der Landgemeinde entkommen zu sein. Sie blieb dann auch in England, als ihre Eltern wieder zurückgingen. Dennoch pflegte sie ihre dänischen Freundschaften und kümmerte sich regelmäßig um die Familie in Aalborg.

Vielleicht fahre ich zu den Feiertagen wieder einmal hin, überlegte sie, während sie auf der Great Chertesey Road über die Chiswick Bridge fuhr. Die Weite des Watts in Dänemark hatte im Winter ein außergewöhnliches Flair. Wie so oft spielte sie mit dem Gedanken, sich dort für ihren Ruhestand im Alter ein Haus zu kaufen, doch in Wahrheit empfand sie die dänische Provinz bei jedem Besuch als beengend und fuhr gerne wieder nach London zurück.

Es war ein turbulentes Jahr gewesen, das sich dem Ende zuneigte. Das Aufdecken der miesen Geschäfte des Rüstungstycoons Bronsteen und seines korrupten Umfeldes, bis hin zu dessen Verstrickung in die Anschläge auf das World Trade Center, hatte ihr großes berufliches Ansehen gebracht. Verglichen mit ihrem tragischen Verlust kam ihr das jedoch bedeutungslos vor. Sie würde den ganzen Erfolg, den neuen Job und die gesamte Anerkennung gegen einen einzigen weiteren Tag mit Niels eintauschen. Anfangs hatten sie nur beruflich miteinander zu tun gehabt, später unternahmen sie rasante Motorradtouren durch die englische Landidylle, auf denen Lena sich in den eigenwilligen Sturkopf verliebte, der ihr in vielem sehr ähnlich war. Schließlich – eine endlose Zeit später – funkte es auch bei ihm. Niels, der sonst gerne raubeinig tat, erwies sich als gefühlvolle Ergänzung. Nach einigen belanglosen, ernüchternden Beziehungen genoss sie diese Partnerschaft.

Zweieinhalb Wochen später musste er zu einer sehr riskanten Recherche, die ebenfalls mit Bronsteens Netzwerk zusammenhing, und kam nicht mehr zurück. Offiziell hieß es, er wäre Opfer eines Raubüberfalls im nächtlichen Rom geworden, doch Lena wusste genau, wer wirklich dahintersteckte. Sie hatte keine Chance gehabt, die Sache zu verhindern oder Niels irgendwie davor zu bewahren. Dessen ungeachtet machte sie sich Vorwürfe und das dumpfe Gefühl, versagt zu haben, blieb. Dagegen halfen weder die Aufdeckung von Bronsteens Machenschaften noch dessen späterer Tod.

Ich brauche etwas zu essen, fiel ihr ein, was die aufkommende Traurigkeit unterbrach. Sie lenkte ihren Mini auf einen freien Parkplatz in der Nähe der kleinen Pizzeria auf der Hauptstraße. Sie hatte keine Lust zu kochen und hier gab es riesige Family-Pizzen zum Mitnehmen für sechs Pfund. Bei so einer würde sie jetzt zuschlagen, die reichte fürs ganze Wochenende. Lena kramte nach Münzen in ihrer Jacke. Normalerweise fütterte sie die Parkuhr korrekt, weil die Strafen saftig waren, wenn man erwischt wurde. Nur jetzt fand sie absolut kein Kleingeld und würde auch in wenigen Minuten wieder zurück sein. Daher ging sie das Risiko ein und ließ das Auto, ohne zu bezahlen, stehen.

Während der Vietnamese, dem das Lokal gehörte, ihre Pizza machte, ging sie nebenan in das Lebensmittelgeschäft und holte Milch und Schokolade – jetzt war sie für das Wochenende gerüstet. Spontan fiel ihr ein, dass sie die Winterhosen aus der Reinigung holen sollte, bevor diese schloss. Sie schaute, ob eine Parkplatzkontrolle in der Nähe war, doch alles sah unverdächtig aus. Deshalb lief sie schnell zum Dry Clean und war rechtzeitig zurück, als die Pizza aus dem Holzofen kam. Geschafft – zehn Minuten und kein Parkticket!

Der Duft der frischen Pizza mit Schinken und Mozzarella war zu verlockend, daher knabberte sie bereits ein Stück vom knusprigen Rand, als sie den Mini vor ihrem Haus in der Queens Road ausrollen ließ.

Ich werde es mir zwei Tage lang gemütlich machen, dachte sie, fernsehen und den halben Sonntag verschlafen. Ihre Umhängtasche und die Pizzaschachtel in einer Hand balancierend, ging sie die Stufen zum Eingang hoch, suchte mit der anderen den Schlüssel in ihrer Jacke und sperrte auf. Am Boden im Vorraum lagen die Post und Berge von Werbeprospekten. Seit beinahe zehn Jahren wohnte Lena hier und genauso lange nahm sie sich vor, einen größeren Postkorb hinter dem Briefschlitz anzubringen. Sie schob den Papierstapel mit dem Fuß beiseite, ging in den Flur zur Kleiderablage und drehte im Vorbeigehen die Heizung größer.

Sie liebte ihr Haus in der ruhigen Vorstadt im Südwesten Londons. Der rotbraune Backsteinbau mit dem vorspringenden Erker, dem hellen Steinbogen rund um die Eingangstür und den weißen Holzfenstern, die mit Sprossen in lauter kleine Quadrate unterteilt waren, strahlte eine heimelige Atmosphäre aus. Eigentlich war es für sie alleine reichlich groß – unten befanden sich eine Wohnküche mit Ausgang in den Garten, das Bad und eine verglaste Veranda, die Lena auch als Arbeitsraum benutzte. In der oberen Etage waren Wohnzimmer, Schlafzimmer mit Balkon und Kinderzimmer, das mangels Nachwuchs als Garderobe und Bügelzimmer diente.

Lena hatte das Haus gleich bei der ersten Besichtigung gekauft, da sie vor dem Treffen mit dem Makler einen ausgedehnten Spaziergang in Twickenham unternommen und sich in den beinahe ländlich wirkenden Ort an der Themse sofort verliebt hatte. Einstweilen fiel ihr die Vorstellung schwer, anderswo zu leben. Sie kannte jeden Laden auf der zentralen Heath Road, mochte die Gespräche mit den Inhabern der Einkaufsläden und hatte ihre Lieblingslokale, wenn ihr einmal nach Zerstreuung war.

Was ihr überdies an der Lage gefiel, war die Nähe zur M3, der Schnellstraße, die sie in wenigen Minuten aus der Stadt hinausbrachte, zu den gewundenen Landstraßen Südenglands, wo sie bei schönem Wetter gerne mit ihrer schnellen Rennmaschine, einer knallroten Suzuki GSX, unterwegs war. Diese stand jetzt gut verpackt in einem Schuppen unten am Fluss und wartete auf das Ende des Winters.

Wenn es kalt war, duschte Lena gerne brennend heiß und nahm sich dann einen großen Pott starken englischen Tee. Das tat sie auch jetzt. Dann ging sie mit der Post hinauf ins Wohnzimmer, kuschelte sich mit der Pizzaschachtel in ihr Sofa und schaltete den Fernseher ein. Der lief ständig, wenn sie zu Hause war, meist nebenher ohne Ton, da Lena befürchtete, sonst wichtige Meldungen zu versäumen. Aber es gab ihr auch das Gefühl, nicht alleine zu sein.

»Ruth hat recht, nach den Reaktionen auf die Sendung wäre es gut, bald etwas nachzuschieben«, murmelte sie und streckte sich.

Lena war – nach Dusche, Tee und Pizza – auf dem Sofa eingeschlafen. Unterdessen war es zehn geworden und sie fühlte sich wieder voll Energie. Sie ging hinunter zu ihrem Schreibtisch in der Veranda. Sie arbeitete gerne nachts, da konnte sie sich am besten konzentrieren und kein Telefon störte. Also füllte sie Kaffee in ihre italienische Espressokanne und stellte diese auf die Herdplatte. Dann holte sie die hellgraue Mappe aus der Schreibtischschublade, die ihr Hawk im Sommer in Paris am Flughafen Charles de Gaulle in die Hand gedrückt hatte. Die beiden warteten dort, nach den Ereignissen um Bronsteen, die Lena dann in ihrer Reportage über die New Yorker Anschläge verarbeitete, auf ihre Anschlussmaschinen. Sie flog zurück nach London und Hawk wieder nach Washington.

»Ich wollte Ihnen etwas geben, was mich schon seit längerer Zeit beschäftigt«, hatte er gesagt und eine Bemerkung über mögliche Zusammenhänge zwischen dem Mossad und den Attentaten in der Londoner U-Bahn gemacht.

»Aber das waren doch arabische Terroristen«, antwortete Lena verwundert darauf, wobei Hawk da offenbar gegenteiliger Meinung war.

Sie kannte ihn, seit sie mit ihren Recherchen gegen die Lobbyisten der Rüstungsindustrie begonnen hatte. Schon damals brachten seine Unterlagen Lena auf die heiße Spur der korrupten Politiker. Und er war es auch gewesen, der später den entscheidenden Hinweis gegen Bronsteen entdeckte.

Hawk arbeitete lange Jahre für das Weiße Haus als historischer Berater und sammelte dort in aller Stille auch so manch geheime Information. Als er dann vor fünf Jahren seinen Ruhestand antrat, begann er Vorträge an Universitäten zu halten und sein Wissen für die politische Bildung von jungen Studenten einzusetzen.

Wenn er ihr etwas zuspielte, gab es dafür auf jeden Fall triftige Gründe. Allerdings war sie in den letzten Monaten so beschäftigt gewesen, dass sie keine Ruhe gefunden hatte, die Mappe durchzusehen. Aber nun, da sie nach einem neuen Thema suchte, war es an der Zeit zu erfahren, welchen Dingen Hawk diesmal auf der Spur war.

LONDON stand in großen Lettern auf dem Umschlag, drinnen gab es eine Reihe von Fotos aus dem Jahr 2005 von den Anschlägen in der U-Bahn, Bilder von den Überwachungskameras auf den Stationen und dann fand Lena Pressemeldungen aus verschiedenen Zeitungen.

Am Rand der Ausschnitte standen zum Teil Hawks Gedanken darüber, auf manchen Fotos klebten Textstellen und einiges war mit Rotstift angestrichen. Auf den ersten Blick nur eine Auflistung der Ereignisse, dachte Lena, als sie die Papiere durchging. Sie erinnerte sich deutlich an den Tag, sie war wegen einer Recherche außerhalb Londons unterwegs und hörte die Nachricht im Radio.

Sie blieb bei einer Meldung hängen, dass es keinen sicheren Beweis für die Herkunft der Attentäter gäbe, da alle Kontrollkameras bei den Zugängen zur Underground und an der Bushaltestelle an dem Tag ausgefallen waren. Eine Identifizierung sei daher nicht möglich. Hawk hatte eine Stelle markiert, in der behauptet wurde, einer der beschuldigten Männer wurde angeblich noch nach den Anschlägen woanders fotografiert.

Wenn einer der Täter es nicht gewesen war, ist das auch bei den anderen fraglich, überlegte Lena. Auch der Ausfall aller Kameras war seltsam. In der U-Bahn kann das schon mal geschehen, aber dass gleichzeitig auch die Überwachung der Busstation auf der Straße nicht funktioniert hatte, war ihr zu viel des Zufalls. Und im Haus roch es eigenartig …

»Der Kaffee!«, entfuhr es ihr. Sie sprang hoch und lief in die Küche, wo der Espresso überkochte. Mit einem Geschirrtuch zog sie die brodelnde Kanne von der Platte, goss den Inhalt weg und säuberte den Herd.

»Interessant«, murmelte sie eine halbe Stunde später, nachdem sie Hawks Notizen gelesen und auch die Kopien der Artikel durchgesehen hatte. Nicht alle waren von den Londoner Anschlägen. Lena wunderte sich zuerst, warum Hawk auch Aufnahmen und Zeitungsausschnitte von einem Bombenattentat im Jahr davor mit in die Mappe gelegt hatte. Die Täter kamen aus ganz verschiedenen Lagern, konnten demnach nichts miteinander zu tun haben. Beim näheren Betrachten der Ereignisse fielen ihr dann aber einige Übereinstimmungen ins Auge.

In der Moskauer Metro starben vierzig Menschen, als sich ein junger Tschetschene in einem Tunnel um halb neun Uhr morgens in die Luft sprengte. Wie in London war es ein vorderer Waggon, der durch die Wucht der Detonation schwer beschädigt wurde. Die Wagentüren in der restlichen Garnitur versagten, die Menschen konnten nicht aus dem Zug und Panik brach aus. Man brauchte Stunden, um die Fahrgäste zu der nächstgelegenen Station zu evakuieren.

Sonst gab es keine Gemeinsamkeiten. Der Anschlag war eindeutig ein Rachefeldzug, da Putin zuvor bei erzwungenen Wahlen in Tschetschenien seinen Kandidaten durchgesetzt hatte. Es gab Beschuldigungen, Bekenner und mehrere Verhaftungen, die eigentlichen Drahtzieher des Blutbades wurden dagegen nie ausgeforscht. Dennoch lieferten die Toten von Moskau den Russen einen neuerlichen Grund für die Unterdrückung der Tschetschenen.

Lena blätterte weiter. Ganz hinten in Hawks Mappe lag eine Klarsichthülle, auf der ein Zettel geklebt war. Auf dem stand:

Ich hatte gehofft, meine Überlegungen nach

dem Anschlag in London wären falsch.

Leider waren sie das nicht …

Was meinte Hawk damit? Lena zog die Papiere heraus. Sie betrafen den erst unlängst verübten Anschlag in Brüssel. Der war Lena in lebhafter Erinnerung, hatte doch Niels im März für die London Tribune darüber geschrieben und ihr die furchtbaren Fotos des Gemetzels gezeigt.

In einer Metro der Brüsseler Innenstadt, nahe der Europäischen Regierung, detonierte eine Bombe, die zwanzig Menschen im morgendlichen Berufsverkehr mit in den Tod riss. Bei der Fahndung wurde eine Flagge des Islamischen Staates gefunden, der sich dann später zu den Anschlägen bekannte.

Bereits wenige Stunden danach betonte die westliche Welt die Solidarität mit Brüssel und die entschiedene Verteidigung der europäischen Werte. Im verstärkten Kampf gegen den IS würde man nun enger in der Allianz gegen das Terrorregime zusammenarbeiten – eine strategisch wichtige Entscheidung.

So einen Schulterschluss gegen die arabische Welt hatte es auch nach den Angriffen auf die Londoner U-Bahn gegeben, dachte Lena. Die Briten, die davor überlegten, sich vom Krieg gegen den Irak zurückzuziehen, kämpften dann mit aller Härte weiter und die Finanzhilfe für die Palästinenser wurde zum Großteil eingefroren. Aber das war elf Jahre her und seitdem hatte es jede Menge anderer Gräueltaten in vielen Ländern der Welt gegeben. Und schließlich war es doch immer so, dass Attentäter den Sprengstoff am Körper trugen und für die Tat eine Uhrzeit wählten, wo möglichst viele Leute unterwegs waren.

Sie breitete die Sachen vor sich auf dem Schreibtisch aus. Warum gerade diese drei Anschläge, welche Verbindung gab es und welchen Grund hatte Hawk gehabt, die Mappe nach Brüssel wieder hervorzuholen und ihr zu geben?

Gedankenverloren schob Lena die Pressefotos zur Seite, da bemerkte sie auf der Rückseite von einigen ein großes, dick in Rot gemaltes Rufzeichen. Es waren die Aufnahmen von den zerstörten U-Bahn-Wagen der jeweiligen Anschläge. Hawk wies sie nicht auf den Ablauf der Geschehnisse hin, begriff sie, er meinte vielmehr die Art der Zerstörung, darin musste die eigentliche Parallele bei den Bluttaten liegen. Es konnte demnach nur um die Bomben selbst gehen. Lena flog förmlich durch die Artikel und las die rot unterstrichenen Passagen nochmals ganz genau.

Tatsächlich! Die Zeitungen erwähnten jedes Mal die komplizierte chemische Zusammensetzung des Sprengsatzes, die auf ein enormes technisches Wissen des Bombenbauers schließen ließ. Nachdem die Anschläge an verschiedenen Orten stattfanden und lange Zeit auseinanderlagen, war das bisher niemandem aufgefallen, sie hätte es ohne Hawk auch übersehen.

Schlagartig wusste Lena nun, was die eigentliche Botschaft der unscheinbaren Mappe Hawks. Sie hielt den Atem an:

Hinter all diesen Verbrechen, hinter all den Opfern, stand ein einziger Verursacher – einer, der alle diese Bomben gebaut hatte, einer, der skrupellos für jede Seite arbeitete, einer, der wieder begonnen hatte, eine Spur der Verwüstung zu ziehen.

Lena Halberg: London '05

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