Читать книгу Es werde Licht auf Erden - Erni Sandhaas - Страница 8
ОглавлениеKindheit, Ehe, Beruf
Im Jahr 1941 lag ein kleines, fünf Jahre altes Mädchen schwer krank mit Diphtherie im Bettchen. Der Großvater, der es immer an seiner Hand zu seinen geliebten Bienen und über wunderbar blühende Wiesen führte, weinte bitterlich.
Die Mutter weinte und betete, denn der Arzt prophezeite, es gebe da keine Hilfe mehr. Trotzdem brachte die Mutter mich nach Graz, in das große Krankenhaus. Sie erzählte, ich hätte durch die großen Gänge herzzerreißend geschrien, als die Krankenschwester mich forttrug.
Ich kann mich selbst erst wieder daran erinnern, dass ich mit vielen Kindern in einem großen Raum zusammen war, einzelne Kinder genesen waren und von den Eltern abgeholt wurden.
Auch ich hatte irgendwann alles überstanden und durfte nach Hause in das kleine Dorf, auf den Bauernhof.
Ich war sehr schwach, fiel oft hin und wurde wohl auch deshalb sehr liebevoll von meinen Eltern behütet. Doch irgendwas stimmte nicht mit der kleinen Erni. Mein Bruder und die Eltern konnten mit meinen Aussagen nichts anfangen. Ich erzählte immer von einem goldenen, strahlenden Licht und war mit mir selber glücklich und zufrieden. Die Mutter hat später immer erzählt, man hätte mich in ein Sterbezimmer gebracht, wo eine große Kerze brannte. Alle Gespräche führte ich mit mir selber, so wurde es mir später immer wieder erzählt. Manchmal wurde ich dafür sogar ausgelacht.
Meine Mutter war Vollwaise – ihr Vater fiel im Krieg bei den „Drei Zinnen“ und ihre Mutter starb bei der Geburt des fünften Kindes. Also musste meine Mutter immer schon ein entbehrungsreiches Leben, auf sich selbst gestellt, führen.
Die Kriegszeit brachte viele andere Sorgen. Beide Brüder meiner Mutter fielen im Zweiten Weltkrieg. Einer war römisch-katholischer Priester und fiel am Lagomasee, der andere vor Stalingrad.
Meine Mutter war sehr viele Schmerzen wohl gewohnt, sie betete mit uns fünf Kindern viel. Unser Leben auf dem Bauernhof war sehr einfach, doch liebevoll und warm. Es gab nicht viel Zeit, sich mit uns zu beschäftigen oder mit uns zu reden, aber wir spürten in der ganzen Kriegszeit ein sehr liebevolles Miteinander – ein großes Vertrauen auf Gott und unsere Liebe.
Das frisch gebackene Brot von unserer Mutter hab’ ich heute noch im Geschmack, genauso den selbstgemachten Käse. Das Rezept dafür hat wohl der Vater aus der Schweiz mitgebracht.
Meine Schwester Maria und ich sangen ohne Gesangsunterricht sonntags in der kleinen Kirche die Schubertmesse. Oder ich durfte bei einer Priesterweihe ein wunderbares Gedicht aufsagen. Wir feierten den Fasching, spielten Theater, lebten die Dorfgemeinschaft in jeder Beziehung.
Nach dem Krieg war mein Vater viele Jahre Bürgermeister. So war unser Elternhaus immer offen für alle Mitbürger und Freunde.
Besonders in Erinnerung blieben mir die Abende im Herbst, beim Maiskolbenschälen. Die ganzen Dorfbewohner saßen in der großen Tenne, um den Haufen ungeschälter Maiskolben herum. Es wurde viel gesungen und gelacht, man erzählte sich Geschichten und tanzte bis spät in die Nacht hinein Polka.
Wer die Steiermark kennt, der weiß auch: „An Steirer ohne Ziehharmonika und Tanz, den gibt’s gar nicht.“
Es war mein Vater, der mir das Tanzen beigebracht hat. Dazu möchte ich sagen: Eine Polka zu tanzen, ist noch heute für mich, mit 75 Jahren, eine große Freude und die beste Turnübung für den Körper und das Gleichgewicht.
Ansonsten brachte der Bauernhof auch uns Kindern viel Arbeit und Abwechslung.
Wir waren sehr fröhliche, glückliche Kinder. Die Natur, die Tiere waren meine Ansprechpartner. Der Hund, die Katze, die Hasen, die Schafe und die Kühe, die ich auf der Weide hüten durfte, haben mit mir geredet. Besonders der Hund Bari war mein guter Freund und Beschützer.
Mein älterer Bruder und ich, wir waren besonders zusammengewachsen und füreinander da, erlebten zusammen die Kriegs- und Nachkriegszeit als sehr aufregend. In Graz fielen die Bomben und in den Wäldern ganz in unserer Nähe stürzten einige Flugzeuge ab. Mein Bruder schraubte Teile der Wracks ab und sammelte sie zu Hause. Das hätte unseren Vater fast das Leben gekostet.
Der ganze Hof, Haus und Tenne, war voll bewohnt von ausgebombten Grazern, die kein Zuhause mehr hatten. Flüchtende Menschen baten jeden Tag um Brot, Kartoffeln, Mehl und Fett. Sie gaben sich gegenseitig die Türklinke in die Hand.
Der Spruch meiner Mutter war immer der: Kein Mensch darf aus unserem Haus gehen, dem ich nichts gegeben habe – ein Satz, der mein Leben prägte. Sie erinnerte sich an ihre eigene Zeit als Vollwaise, als sie um ein bisschen Maissterz betteln musste.
Meine erste kindliche Verliebtheit galt Jonny, dem Flugkapitän eines abgestürzten Fliegerbombers. Ein überaus liebenswerter und fescher Engländer, der als Mitarbeiter auf unserem Hof eingesetzt war und uns Kindern sonntags Schokolade und Orangenmarmelade schenkte. Mein Vater und Jonny erlebten eine tiefe freundschaftliche Verbundenheit, sodass Jonny zwanzig Jahre nach dem Krieg noch einmal von Australien herübergeflogen kam, um Vater und uns zu besuchen; um Danke zu sagen für eine Zeit der Gefangenschaft, die von Menschlichkeit, ja sogar Freundschaft getragen wurde.
Vaters Feind war Adolf Hitler, was er vor uns Kindern aber niemals kundtat. Mein Vater war vor der Ehe in der Schweiz auf einem großen Bauernhof mit eigener Käserei beschäftigt gewesen, kam nach Österreich zurück und warnte sehr vor Hitlers Regime. Da er für den ganzen Ort die gefährliche Stierhaltung übernahm, war er vom Wehrdienst freigestellt. Doch ein halbes Jahr vor Kriegsende war nur ein Wort verantwortlich für seine Einberufung – er sagte, Hitler sei geisteskrank. Eine Woche später war er schon an der Grenze zu Jugoslawien im Kriegseinsatz.
Ab da war Jonny für den Stier verantwortlich, doch das ging gleich schief. Der Stier riss sich los, Jonny rannte voraus und rettete sich auf einen Baum. Da verordnete meine tapfere Mutter Folgendes: „Bring den Stier zum Ortsbauernführer und binde ihn an einen Baum.“ Jonny und mein Bruder waren mutvoll genug, um das zu tun, und so war der arme Stier tagelang an den Baum gebunden und wir für den Nachwuchs der Rinder nicht mehr verantwortlich. Die Stierhaltung war zu dieser Zeit noch sehr gefährlich. Einige Bauern wurden im Lauf der Zeit schwer verwundet oder mussten gar ihr Leben lassen.
Große Freude – wir kamen von der Maiandacht 1944 heim, da galoppierte ein Pferd mit unserem Vater gerade aus dem nahen Wald. Der Krieg war noch nicht aus, so musste Vater sich und das Pferd verstecken.
Nur Tage später kamen viele, viele deutsche Soldaten hungrig und schwer angeschlagen durch unser kleines Lasslsdorf. Es lag am Übergang nach Kärnten zu den Engländern, und niemand wollte in russische Gefangenschaft kommen.
Mutter kochte in großen Kesseln Polentasterz und Kartoffeln, um die vielen Männer zu verköstigen. Ich seh’ mich heute noch nah bei meiner Mutter stehen, die da sagte: „Soldaten sind alle Menschen, arm an Leib und Seele, entweder verblendet oder voller Angst vor dem Regime.“
1998 traf ich in Nürnberg vor dem Rathaus einen älteren Herrn. Wir kamen ins Gespräch über den Krieg und das Leben. Das Unglaubliche ist Folgendes: Er war im Krieg einer dieser Soldaten und konnte sich noch daran erinnern, von meiner Mutter damals dankbar Bratkartoffeln erhalten zu haben. So schließt sich, wie so oft, ein Kreis des Lebens.
Unterwegs ließen die Soldaten oft Panzer, Handgranaten, Gewehre und Munition im Straßengraben liegen. Mein Bruder sammelte vieles und versteckte es zusammen mit den Flugzeugteilen in der Tenne. Er war richtig stolz auf sein Munitionslager, wie Buben mit zehn Jahren halt sind. Diese Sammlung hätte unseren Vater beinahe das Leben gekostet, und diese Kindheitsgeschichte ist fast unglaublich, aber wahr.
Nach dem Krieg waren in Stainz die Russen stationiert, in Groß St. Florian die Jugoslawen. Die Russen stöberten das Munitionslager auf und nahmen unseren Vater mit, um ihn zu erschießen. Sie hatten ihn schon an die Wand gestellt, zwei Russen mit angelegten Maschinengewehren davor.
Da rannte mein Bruder zu ihnen hinüber und zeigte den russischen Soldaten seinen Daumen. Beim Holzhacken hatte Franzl sich einmal am linken Hand- beziehungsweise Daumenballen verletzt. Die Wunde wurde nicht genäht, und so sah die Narbe aus wie Hammer und Sichel. Auf den Kappen und Schultern hatten die Russen dieses kommunistische Abzeichen, welches mein Bruder bemerkt hatte. „Karascho, Karascho“ – ein Hallo und Radau hob an, sie warfen meinen Bruder in die Luft und feierten ihn, wohl in dem Glauben, einen großen Parteigenossen vor sich zu haben. Niemand von uns verstand Russisch und die Russen kein Deutsch.
So kamen sie dann zusammen in die Stube, bei Schnaps und Eierspeise wurde dann gefeiert. Vater war noch sehr bewegt. Es war unfassbar, dass er weiterleben durfte.
Das militärische Zeug und die Waffen nahmen dann die Russen mit großer Freude mit, womöglich in dem Glauben, mein Bruder hätte es für sie gesammelt. Das geschah Ende des Krieges, im Mai 1945.
Später ging es doch ganz geordnet zu, trotz Besatzung. Einmal wurden wir mitten in der Nacht aus den Betten geholt, von jugoslawischem Militär. Ein Soldat war angeblich verschwunden, oder sie wollten uns einfach nur Angst machen.
Russische Soldaten kamen alle paar Tage mit der Kutsche angefahren oder auch zu Pferd auf unseren Hof geritten, um in der Stube eine Eierspeise aus bis zu zwanzig Eiern mit Schnaps zu konsumieren. Mutter rannte vorher immer in den Wald, eine Schnapsflasche auf der Kredenz lassend. Großvater mit uns fünf Kindern in der Stube, wartend auf die russischen Soldaten, die dann meine jüngste Schwester im Kinderwagen schaukelten, russische Lieder sangen und sich wohl nach der eigenen Familie und Zuhause sehnten.
Später, in den 1950er-Jahren, in meiner Lehrzeit, wohnte ich bei Onkel und Tante in Wien in der russischen Zone. Über unserer Wohnung logierten russische Offiziere. Sie waren alle höflich und nett und hatten ihre feschen Frauen nachkommen lassen, die so stark parfümiert waren, dass das ganze Haus danach duftete. Oft tanzten sie die ganze Nacht, einen sehr temperamentvollen Säbeltanz vielleicht. Auf jeden Fall dachten wir jedes Mal, die Decke unserer Wohnung käme gleich herunter.
Wenn wir etwas sagten – die Offiziere konnten ja schon ganz gut Deutsch –, dann wollten sie immer, dass wir mittanzten. Ruhe war kaum im Haus.
Was das Tanzen betraf, so gingen wir jungen Leute lieber in die amerikanische oder englische Zone – der „Boogie“ war uns lieber. Doch ihre russischen Lieder – es wurde oft bei offenem Fenster gesungen – haben mich sehr bewegt. In diesen Melodien erkenne ich noch heute ihre tiefe, sensible russische Seele.
Noch etwas blieb mir in Erinnerung: Männer aus weit entfernten Ländern, Soldaten, die durch Krieg und viel Leid gegangen waren – sie alle hatten ein großes Herz, Mitgefühl und eine gewisse Würde; eine Ausstrahlung und eine Verantwortung für das, was sie sein und tun mussten. Nie bin ich von einem Sieger, ob Russe, Franzose, Amerikaner oder Engländer, erniedrigend behandelt worden.
Wien war in vier Zonen eingeteilt und wir jungen Menschen haben dies als bereichernd empfunden. In der Russenzone wohnte ich. Zu den Amerikanern gingen wir Boogie-Woogie tanzen. Ansonsten waren ich mit meinen Freundinnen und Schulkollegen gerne in Schönbrunn unterwegs, oder in der Gruppe sozialistischer Jugend.
Schon in dieser Zeit erlebte ich das Gesetz der Resonanz, wenn auch noch nicht bewusst verstanden. „Liebe verständnisvoll und bewusst alles Leben – und Liebe und Verständnis wird zu dir zurückkommen.“ Dies gilt für den einzelnen Menschen, für den Staat und für die Menschheit. „Richte nicht, so wird das Rechte auf dich zurückfallen.“
So haben ich und andere Krieg und Nachkriegszeit überstanden, bis hin zum großen Tag der Freiheit für Österreich. Ich war mit den roten Falken auf dem Heldenplatz. Wir wussten: Dr. Raab, Dr. Kreisky und Dr. Schärf verhandeln mit Nikita Chruschtschow um unser Heimatland. Es bedurfte dabei – und das ist keine Legende – dieses berühmten Schlags auf den Verhandlungstisch. Es war kein Handschlag, sondern Chruschtschow schlug mit seinem Schuh auf den Tisch.
Wir warteten und warteten. Dann standen sie auf dem Balkon und Dr. Raab rief uns zu: „Österreich ist frei.“ Viele in meinem Alter waren wohl zu jung, um DAS wirklich zu verstehen, was Freiheit bedeutet. Das Land wurde befreit von der Besatzung, von russischen, englischen, französischen und amerikanischen Zonen.
Eine Arbeitskollegin war sehr traurig – sie war schwanger und trug ein Kind von einem Engländer unter ihrem Herzen. So ist es oft, das Leben: „Des einen Freud, des andern Leid.“
Nun – meine Lehrzeit in Wien ging zu Ende. Meine Liebe und späterer Ehemann und ich gingen zusammen nach Wels, Oberösterreich, um unsere gemeinsame Zukunft einzuleiten. In dieser Ehe gebar ich unsere einzige, geliebte Tochter Carina, die heute mit ihrem Mann Gerhard in Kalifornien lebt.
Mein Alltag war Arbeit, Sparen, ein Haus bauen, Lernen und alles zusammen zu lieben. Es ging 24 Jahre gut. Doch die Untreue meines Mannes unterbrach das so verstandene menschliche Idyll der Treue.
Ich verstand gar nichts, die Situation und warum es so sein musste. Es machte mich sehr traurig und zornig zugleich. Meine Vorstellung einer Liebe und Treue ein Leben lang, wie bei meinen Eltern, wurde nicht erfüllt. Sicher wollte das Leben, dass sich mein Bewusstsein auf ein anderes, neues Ziel ausrichtet.
Ich ließ Haus, Ehemann und meinen Beruf in Dankbarkeit zurück, ließ Geld und Materie los, und ging auf spirituelle, auf mich allein gestellte Wanderschaft.
Heute danke ich Gott dafür, denn diese Aufgabe zwang mich, alte Ehe-Vorstellungen loszulassen, um mein Leben selbst zu gestalten und zu verantworten. Unsere Tochter war verheiratet und lebte in Deutschland, so war die Trennung doch einfacher.
Heute sehe ich es so: Etwas Besseres konnte mir gar nicht geschehen.