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1. Zueinander finden 1956

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Für die Osterferien plane ich eine Fahrt mit meinem Stamm nach Westdeutschland. Bringfried empfiehlt mir St. Andreasberg im Harz, wo er die Jugendherberge kennt. Schmunzelnd fügt er hinzu: „Wir sind dort mit einer Familie befreundet, bei der du für die Vorbereitung unterkommen kannst. Du kennst auch die Tochter, sie hat in Fräulein Murachs Kunstgewerbeladen gearbeitet“. Das ist ein starkes Argument: Im Geiste sehe ich ein anmutiges blondes Mädchen in dem kleinen Laden sitzen und sticken.

Mit Nepf fahre ich im März nach St. Andreasberg, um die Unterkunft in der Jugendherberge und einen Abend mit der Gemeinde zu vereinbaren. Deine Familie beherbergt uns freundlich. Und du bist, obwohl 20 Jahre alt und reifer geworden, noch genau so anmutig wie früher in Zehlendorf: schlank mit langen blonden Haaren und blaugrauen Augen mit einem goldenen Rand der Iris in deinem schönen, offenen Gesicht. Mit einem Mal weiß ich, dass ich nun lange genug um Dietlind getrauert habe.

Du erzählst später, dass du überlegt hast, wer dieser Ernst-Günther Tietze sei, als ich euch schrieb. Mitten in der Nacht bist du dann aufgewacht und hast mein Gesicht vor dir gesehen.

Das Lager ist ein voller Erfolg. Neben vielen Streifzügen durch die schöne Gegend gestalten wir einen offenen Abend mit Sketches, Liedern und einem von mir erarbeiteten Laienspiel über den Philemonbrief. Ich freue mich, dass du unter den Zuschauern bist.

Aus Berlin schreibe ich einen Dankesbrief an deine freundlichen Eltern, in dem ich einen kleinen Angelhaken für dich verstecke:

Berlin, den 13. 4. 56

Liebe Frau Elsholz, ... es gibt nur eine Meinung in meinem Stamm: St. Andreasberg ist dufte! Ob es nun die Gegend war oder die freundliche Aufnahme oder der offene Abend oder einfach alles zusammen, ich weiß es nicht. – Zu dem Abend möchte ich Roswitha bitten, mir eine ehrliche Stellungnahme zu schicken. Denn wer etwas gestaltet, ist meist davon eingenommen, braucht jedoch Kritik für das weitere Wirken. Ich wäre ihr sehr dankbar.

Und nun herzliche Grüße, auch an Ihren Gatten und die Töchter, und es war nicht das letzte Mal, dass ich in St. Andreasberg war. Dazu ist es zu schön dort. Ihr Ernst-G. Tietze

St. Andreasberg, den 16. 4. 56

Lieber Fyps! Ich freue mich, dass Sie so bald etwas von sich hören ließen. ... Gerne sage ich Ihnen meine persönliche Meinung über den offenen Abend. Im Großen und Ganzen waren wir doch alle recht beeindruckt, und eine kleine Aufpulverung war für uns bestimmt auch nötig. Ich persönlich hatte mir allerdings vorgestellt, dass wir uns zusammensetzen, Sie uns mit Ihrer Gruppe über Ihre Arbeit berichten und wir zusammen darüber diskutieren. Hinterher habe ich allerdings erkannt, dass da wohl die Altersunterschiede zu groß waren und sich die Jüngeren wahrscheinlich gelangweilt hätten. Es ist eine gute Lösung, der Jugend auf diese Art Ihr Ziel als Pfadfinder darzulegen. Bei Älteren würde ich es aber keinesfalls dabei belassen. Ich denke, dass wir uns darüber auch mal persönlich unterhalten können.

Jedenfalls wünsche ich Ihnen für Ihr weiteres Studium alles Gute und ich würde mich freuen, wenn Sie uns bald wieder aufsuchen würden. Recht herzliche Grüße, Ihre Roswitha

Berlin, den 6. 5. 56

Liebe Roswitha, Sie haben mich ohne Umschweife mit „Fyps“ angeredet und ich freue mich darüber. Nun müssen Sie auch gestatten, dass ich die gleiche Art der Anrede wähle. Herzlichen Dank für Ihren Brief ... und besonderen Dank für die Kritik an unserem Abend. Ich muss etwas berichtigen: Wäre ein vernünftiger Kreis da gewesen, hätten wir den Abend mehr auf Gemeinsamkeit aufgezogen. Da ich aber im März festgestellt habe, dass keine Gruppe existiert, entschied ich mich mehr für ein generelles Ansprechen aller Gäste, besonders, da der Abend ja als „offen“ deklariert war. ...

Das Lager in St. Andreasberg ist immer noch Gespräch bei meinen Jungen. Und dass dieses Lager geplant und durchgeführt werden konnte, ist weithin der Hilfe Ihrer Familie zu verdanken.

Wie gut es mir gefallen hat, zeigt die Tatsache, dass ich überlege, ob ich Pfingsten einmal vorbei komme, um die Gegend bei schönem warmem Wetter zu besehen. Aber das ist noch nicht klar. Trotzdem würde ich mich über eine gelegentliche Antwort von Ihnen freuen. Nun recht herzlich Grüße, Ihr Ernst-Günther

St. Andreasberg, den 16. 5. 56

Lieber Fyps! Recht herzlichen Dank für Ihren Brief. Ich habe mich sehr darüber gefreut. Vielleicht klappt es, dass Sie zu Pfingsten herkommen können. Es ist jetzt gerade eine schöne Zeit. Wir würden mit Ihnen auch tüchtig herum strolchen. Falls es nichts wird, sollen Sie wenigstens einen Pfingstgruß von mir bekommen. Sie haben es gut. Als Pfadfinder kommen Sie sicher schön herum. ...

So langsam regt sich auch in unseren Kreisen wieder etwas. Wir wollen ein Laienspiel aufführen und uns mit anderen Gruppen in Verbindung setzen. Ein gewisser Stamm von Jugendlichen ist vorhanden. ... Ich hoffe, dass es bald wieder aufwärts geht.

Nun will ich schließen. Wie schon erwähnt, wünsche ich Ihnen gesegnete Pfingstfeiertage, wenn Sie sie nicht bei uns verbringen wollen und grüße Sie herzlich, Ihre Roswitha

Berlin, den 21. 5. 56

Liebe Roswitha, nun hat es doch nicht geklappt, dass ich zu Pfingsten kommen konnte. Es ist aber derartig viel liegen geblieben, was ich in den freien Tagen erledigen muss, dass es unverantwortlich gewesen wäre wegzufahren. Doch es ist mir schon schwer gefallen, Ihre freundliche Einladung auszuschlagen. ... Mein Schrieb ist nicht nur Antwort auf Ihre Zeilen – also endlich recht herzlichen Dank dafür – sondern eine Revolution gegen das, was ich schon den ganzen Tag tue. Ich habe die Vorlesung über elektrische Schaltanlagen erst einmal mit Gewalt beiseite gelegt, um Ihnen zu schreiben.

Es stimmt schon, dass wir viel umher kommen als Pfadfinder. Und ich möchte die Jahre nicht missen, in denen ich so auf Fahrt ging. Sie sind die schönsten, die ich erlebt habe. Leider wird dieses Jahr wohl vorläufig das letzte sein. Denn wenn ich erst im Beruf bin und zwei Wochen Urlaub im Jahr bekomme, lässt sich nicht mehr allzu viel machen. Außerdem werde ich ja auch immer älter.

So gebe ich die Führung meines Stammes wahrscheinlich schon Anfang Juli ab. Das hat zwei Gründe, einmal weil ich im Spätsommer fast ¼ Jahr nicht in Berlin bin – ich gehe erst auf Fahrt nach Frankreich und arbeite dann in Hamburg im Elektrizitätswerk – zum anderen aber auch, weil ich im Winter ins Examen steige. Und die Führung eines solchen Stammes nimmt einen doch außerordentlich in Anspruch, wenn etwas Vernünftiges heraus kommen soll. ...

Ich freue mich, dass Sie so persönlich von dem Kreis dort berichten. Das klingt ja, als ob Sie wieder aktiv mit arbeiten. Nach Ihrem Bericht im März war das noch nicht so der Fall. Sie haben bestimmt nicht zu Hause gesessen an den Feiertagen, sondern sind „umher gestrolcht“ und ich beneide Sie darum. Den Besuch jedoch, den ich Pfingsten vor hatte, hole ich bestimmt einmal nach. Denn noch gibt es genug, was ich von St. Andreasberg und seiner Umgebung nicht gesehen habe. Ich werde also demnächst mal für ein Wochenende hinüberkommen.

Etwas fällt mir noch ein: Wenn Sie in der Evangelischen Jugend mitarbeiten, könnten wir doch, wie es unter diesen Mädchen und Jungen üblich ist, das feierlich „Sie“ fallen lassen. Schreiben Sie mir doch bitte Ihre Meinung dazu. – Und nun sende ich Ihnen die herzlichsten Grüße, Ihr Ernst-Günther

St. Andreasberg, den 10. 6. 56

Lieber Fyps! Ich werde also von dem netten Angebot, uns Du zu sagen, gleich Gebrauch machen. Ich habe mich über Deinen Brief gefreut, trotz Deiner wenigen Freizeit und muss mich nun ein bisschen schämen, dass es bei mir so lange gedauert hat. Es ist trotzdem nicht weniger herzlich gemeint. ...

Um auf die Evangelische Jugend zu kommen, ich bin wieder ganz dabei und habe den Chor unserer Firma, der gerade auf den Mittwoch fällt, dafür aufgegeben. Mit den jüngeren Pfarrersleuten, die noch nicht lange hier sind, ist schon eher etwas anzufangen. Ganz davon abgesehen, dass wir oftmals unsere Kreise selber abhalten. ...

Am Donnerstag waren wir alle in der Kirche zu dem Spiel „Kain und Abel“, das hier von Künstlern der Evangelischen Akademie aus Braunschweig aufgeführt wurde. ... Bei Kain geht es um einen Klumpen Gold, der ihm alles bedeutet und mit dem er auszieht, um die Welt zu erobern, nachdem er Abel umgebracht hat. Das Spiel hat uns alle zum Nachdenken angeregt. ...

Ich hoffe, dass Du noch einmal bei uns vorbeikommst, bevor Du auf Fahrt gehst und wir gemeinsam im Harz wandern können.

Nun wünsche ich Dir alles Gute und sende Dir die herzlichsten Grüße, Deine Roswitha

Berlin, den 12. 6. 56

Liebe Roswitha, ich habe schon auf Deinen Brief gewartet, ... weil ich Euch Ende dieser Woche einen kurzen Besuch abstatten will. Ja, es ist wahr: wenn mir nichts Entscheidendes dazwischen kommt, treffe ich am Freitag Abend in St. Andreasberg ein und bleibe bis Sonntag am späten Nachmittag. Was kann man in dieser Zeit anfangen? ... Für den Abend wäre ich nicht abgeneigt, tanzen zu gehen. Ich weiß nicht, wie das im Harz ist. Am Sonntag ist ja dann noch genug Zeit. Vielleicht können wir zum Gottesdienst in ein kleines Dorf gehen.

Ich habe mich gefreut, dass Du auf meinen Vorschlag eingegangen bist. Das „Sie“ klingt immer so fremd und unpersönlich. ...

Über alles andere können wir uns ja am kommenden Wochenende direkt unterhalten. Ich freue mich schon sehr auf den Besuch bei Euch, weil ich mal wieder aus der Großstadt raus muss. Aber das ist nicht der einzige Grund.

Nun recht herzlichen Gruß, Dein Ernst-Günther

Erinnerung: 15. – 17. 6. 56 im Harz

Trotz der schon vertrauten Briefe sind wir uns noch etwas fremd. Ich schenke dir mein Zeichen der Evangelischen Jugend, das ich vor Jahren selbst angefertigt habe. Du freust dich sehr darüber. Wir strolchen in der Gegend umher und gehen am Abend tanzen. Auf dem Heimweg erzähle ich dir, dass dies mein erster richtiger Tanz seit zwei Jahren war, weil ich so lange um Dietlind getrauert habe.

Der Sonntagvormittag gehört dann ganz uns beiden. Wir wandern durch den schönen aufblühenden Wald in Richtung zur Sprungschanze, ohne uns sehr an die Wege zu halten. Als wir an einem Hochsitz vorbei kommen, schlage ich vor, hinauf zu klettern. Wir schauen hinaus auf die Gegend, doch ich sehe nur dich, du wunderbares Mädchen, und mir wird immer wärmer ums Herz. Zu gerne würde ich dich küssen, doch ich weiß nicht, ob du schon dazu bereit bist. Und du bist mir zu wertvoll, um dich zu erschrecken und vielleicht zu verlieren.

Du merkst wohl, was in mir vorgeht. Du lächelst mich freundlich an und sagst ganz ruhig: „Komm, lass uns wieder hinabsteigen.“ Die Spannung in mir löst sich und ich folge dir, dankbar, dass dein feiner Takt mir die Sache so leicht macht. – Als wir uns abends am Bus verabschieden, gebe ich dir die Hand. Doch du legst auch deine linke noch dazu und drückst sie mir ganz fest. Glücklich wie schon lange nicht mehr fahre ich durch die Nacht nach Berlin zurück.

Berlin, den 18. 6. 56

Liebe Roswitha, damit Du ruhig schlafen kannst: Ich bin gut angekommen. Kurz vor sieben war ich heute früh zu Hause und wie geplant um acht in der Schule. Doch meine Gedanken waren viel mehr bei Dir als bei elektrischen Maschinen. ...

Liebes Mädel, Du wirst gemerkt haben, was jene Tage für mich bedeutet haben: ein langsames Neu-Einfinden in eine Welt, von der ich vor zwei Jahren glaubte, dass ich mich nie wieder hinein finden könnte. Denn wenn ich erwähnte, dass ich Dietlind sehr gern hatte, so ist das außerordentlich schwach ausgedrückt. Ich habe sie geliebt mit meiner ganzen Liebesfähigkeit.

Ungefähr ein Jahr nach ihrem Unfall habe ich zuweilen etwas getanzt, aber die vollständige innere Freiheit und Gelöstheit von jenem Geschehen suchte ich vergeblich. Du hast mich von diesem Gefühl befreit, unfähig zu sein, noch einen Menschen gern zu haben; ein Griesgram geworden zu sein. Dafür danke ich Dir von Herzen. Gleichzeitig möchte ich Dich aber auch bitten, Geduld mit mir zu haben, wenn jetzt einiges in meiner Erinnerung auftaucht, was ich bisher gewaltsam unterdrücken musste, um nicht wahnsinnig zu werden. Ich werde Dir, wenn wir uns gut genug kennen, alles erzählen, was zwischen Dietlind und mir war, weil ich glaube, dass das auch zur Ehrlichkeit zwischen uns gehört. Also noch mal: Hab’ bitte Geduld mit mir. ... Sage bitte Deinen Eltern noch einmal herzlichen Dank für die freundliche Aufnahme und sei selbst von Herzen gegrüßt von Deinem Ernst-Günther

Ich ging im Walde so für mich hin

und nichts zu suchen, das war mein Sinn.

Im Schatten sah ich ein Blümchen steh’n,

wie Sterne leuchtend, wie Augen so schön.

Ich wollt’ es brechen, da sagt es fein:

„Soll ich zum Welken gebrochen sein?“

Ich grub’s mit all seinen Wurzeln aus,

zum Garten trug ich’s an meinem Haus.

Und pflanzt’ es wieder an stillem Ort,

nun zweigt es immer und blüht so fort.

Johann Wolfgang von Goethe

St. Andreasberg, den 21. 6. 56

Lieber Ernst-Günther! Erst mal tausend Dank für Deinen lieben Brief und besonders für das schöne Gedicht, das Du sehr gut ausgewählt hast und ich sehr fein finde. Ich denke noch viel an unser gemeinsames Wochenende. Es war wirklich wunderbar für mich, sicher so wie für Dich. Ich mache mir nur Gedanken um Dich. Gewiss, ich kann mir vorstellen, dass Du jetzt viel in Dir zu verarbeiten hast mit dem, was Du mir schriebst von Dietlind. – Ich möchte Dir einen Vorschlag machen. Hoffentlich verstehst Du mich richtig. Wollen wir das, was gewesen ist, nicht lieber ruhen lassen? Ich möchte Dich nicht unnötig quälen und Dir weh tun mit dem, was nicht mehr zu ändern ist. ... Wenn wir beide Geduld miteinander haben, kann es zwischen uns zu einem schönen neuen Anfang kommen. Wenn es Dich aber befreit, Dir alles vom Herzen zu sprechen, dann will ich Dir gerne helfen.

Einstweilen solltest Du Deine Gedanken beim Studium haben, weil es jetzt doch für Dich schwierig wird. Nach dem zu urteilen, wie ich pünktlich an Dich und Deine Arbeit heute gedacht habe, könntest Du sie gar nicht verhauen haben. ... Im Übrigen hat noch keine von unseren Mädels mein EJ-Zeichen entdeckt. Du glaubst gar nicht, was Du mir mit diesem Zeichen für Freude bereitet hast, schon weil Du es selber gemacht hast. – Lieber Ernst-Günther, ganz herzliche Grüße von mir, Deine Roswitha

Berlin, den 24. 6. 56

Liebe Roswitha, ich hatte schon gehofft, dass ich gestern nach der Schule Post von Dir vorfinden würde und wirklich, Dein lieber Brief war da. Herzlichen Dank dafür. Ich hätte gestern schon geantwortet, aber ich hatte am Nachmittag meine ersten 1½ Stunden Fahrschule, und abends war ich zu einem Fest von Nuddles Klasse geladen.

zu 1: Ich habe mir das Autofahren viel schwieriger vorgestellt. Gewiss, ich habe noch manches falsch gemacht, z. B. vergessen, den Winker nach der Kurve wieder hereinzunehmen, aber im Großen und Ganzen ist es ein Kinderspiel. Ich werde also gar nicht viele Fahrstunden brauchen und freue mich schon auf die Prüfung.

zu 2: Ich bin seit Jahren nicht mehr so fröhlich und unbeschwert gewesen, wie auf dem Klassenfest. Wer daran Schuld ist? Du! Seit dem gemeinsamen Wochenende sieht die Welt ganz anders aus. ...

Ich glaube, Du hast mich im letzten Brief etwas missverstanden. Ich meinte, dass ich manche schöne Erinnerung unterdrückt habe, weil sie sich sonst in einen Stachel verwandelt hätte. Das ist jetzt nicht mehr der Fall. Es ist nicht so, dass ich gewesenen Dingen nachhänge. Dazu ist mir die Notwendigkeit des Leidens viel zu klar geworden. So quält mich auch der Gedanke an das Gewesene nicht, sondern ich bin froh, dass ich schon so Schönes erleben durfte, wenn ich auch glaube, dass ich noch viel Schöneres zu erleben habe. Eben deshalb hoffe ich, dass es zwischen uns zu einem schönen neuen Anfang kommen kann.

Und da das nun einmal ausgesprochen ist, kann ich auch das andere sagen, dass ich Dich sehr lieb gewonnen habe und hoffe und bete, es möge zwischen uns eine Liebe wachsen, die das Leben überdauert. Deshalb aber meinte ich, es gehöre zur Ehrlichkeit, dass wir uns ganz kennen lernen, auch mit dem, was gewesen ist. Dass jeder von uns eine Menge Geduld mit dem anderen wird aufbringen müssen, ist mir auch klar. ...

Liebes Mädel, eines vergaß ich Montag: Als ich morgens die Losung aufschlug, stand dort: „Bis hierher hat uns Gott geholfen.“ Ein feines Wort und genau für uns passend, nicht wahr? Nun sei Du von Herzen gegrüßt von Deinem Ernst-Günther

St. Andreasberg, den 29. 6. 56

Lieber Ernst-Günther! Recht herzlichen Dank für Deinen lieben Brief. Ich habe mich sehr gefreut, wie immer, wenn ich Post von Dir bekomme. Ich freue mich auch, dass ich Dir so viel bedeuten kann, dass Du wieder froh und frei bist und in die richtigen Gleise zurückfindest. Mir bedeutest Du sehr viel. Du hast mir schon einiges zu denken gegeben und ich bin dankbar, dass ich Dich überhaupt kennen gelernt habe. Durch Dich habe ich erst mal so einen kleinen Aufschwung bekommen. Du hast auch bewirkt, dass ich mich jetzt als Jungscharleiterin betätige. Ich helfe der Inge, eine Rasselbande von 25 Mädchen zusammen zu halten. Sie sind alle freudig dabei und mir macht es auch viel Spaß. – Inge und ich, wir würden gern vom 10. bis 21. September zu einem Jugendgruppenleiterkurs nach Hessen fahren. Schreibe mir doch bitte, wann Du im September zu uns kommen kannst, damit ich weiß, ob ich zusagen kann. ...

Nun lieber Ernst-Günther, ich werde aufhören zu schreiben. Es ist schon spät. Ich sende Dir ganz herzliche Grüße, Deine Roswitha

Berlin, den 2. 7. 56

Liebe Roswitha, ich bin eben aus dem Kino gekommen: „Ich denke oft an Piroschka“. Wenn es diesen Film bei Euch gibt, musst Du unbedingt hingehen. Er hat etwas Befreiendes an sich und zwingt dadurch den Zuschauer zu einem inneren Lächeln, wie über eine gelungene Überraschung. Solche Filme sind selten. Wenn er bis September nicht bei Euch war, werde ich ihn Dir erzählen.

Nun erst mal herzlichen Dank für Deinen Brief. Ich hatte ihn schon sehnsüchtig erwartet. ... Da siehst Du, wie gefährlich Du bist: Jetzt warte ich schon darauf, dass von Dir Post kommt. Noch schöner aber wird es werden, wenn ich erst wieder bei Dir bin.

Gestern habe ich meinen Stamm abgegeben. Samstag Abend hatten wir Thing auf einem kleinen Zeltplatz beim Kontrollpunkt Dreilinden. Siebzehn Jungen waren wir, die schon lange genug im Stamm sind, um beurteilen zu können, wer als neuer Führer in Frage kommt. Es wurde eine schwere Entscheidung. Endlich um 1:30 nachts war dann Nuddle gewählt. Du kennst ihn ja, mit der kaputten Skihose zu Ostern. Es ist immer wieder fein zu sehen, wie Jungen, die sonst nicht viel sagen, bei einer wichtigen Entscheidung verantwortlich und überlegt reden und handeln. Vor allen Dingen ist es schön, wenn man weiß, dass man den Jungen das erst beigebracht hat. Es war ein seltsames Gefühl, als ich gestern den Stamm ohne mich sah, den Stamm, den ich selbst aufgebaut habe, in dem ich jeden Jungen ganz genau kenne, manchen genauer als seine Eltern ihn kennen, von den Lehrern ganz zu schweigen. Irgendwie war ein Loch da, eine leere Stelle. ...

Ich freue mich sehr, dass Du Dich dort jetzt betätigst. Es ist doch jeder, der irgendwie ein bisschen begriffen hat, gerufen, sich in den Dienst zu stellen und das weiterzugeben. ... Nur daraus resultiert die Freude, die sich auf jeden verantwortlichen Dienst einstellt. ...

Es ist übrigens selbstverständlich, dass Du im September zu dem Jugendgruppenleiterkursus fährst. Wann ich kommen werde, liegt ganz in meiner Hand und ich werde mich danach richten. ...

So mein liebes Mädel, jetzt ist es spät genug. Schreib mir bitte recht bald wieder und grüß zu Hause schön. Dir selbst auch die herzlichsten Grüße, Dein Ernst-Günther

Der Lausebengel

Als Amor in den goldnen Zeiten

verliebt in Schäferlustbarkeiten

auf bunten Blumenwiesen lief,

da stach den kleinsten von den Göttern

ein Bienchen, das in Rosenblättern,

wo es sonst Honig holte, schlief.

Durch diesen Stich ward Amor klüger;

der unerschöpfliche Betrüger

sann einer neuen Kriegslist nach:

Er lauscht in Rosen und Violen,

und kam ein Mädchen, sie zu holen,

flog er als Bien’ heraus und stach.

Gotthold Ephraim Lessing

St. Andreasberg, den 7. 7. 56

Lieber Ernst-Günther! Ich danke Dir recht herzlich für Deinen Brief. Übrigens warte ich genau so sehnsüchtig auf Deine Briefe wie Du und freue mich dann jedes Mal schrecklich, wenn meine Mutti im Büro erscheint, denn sie kommt nur, um mir Post zu bringen. ... Dein Lausebengel ist ja allerliebst. Das Gedicht passt so recht zu Dir. Dieser kecke Amor könntest Du gewesen sein. Es ist wunderbar, dass es so einfallsreiche Dichter gegeben hat.

Lieber Ernst-Günther, der Film „Ich denke oft an Piroschka“ wird bei uns einen Tag vor meinem Urlaub gespielt. Wenn es irgend geht, werden wir ihn uns alle ansehen. ...

Wenn morgen schönes Wetter ist, werde ich mit dem jüngeren Mädchenkreis eine Wanderung unternehmen. Wir bemühen uns, die Jüngeren bei unserer Arbeit mit einzuspannen. Das ist aber nicht so einfach. Darum ist es mir sehr recht, wenn ich im September zu dem Kurs fahre. Ich denke, dann bekommen wir doch eine bessere Einteilung und eine kleine Grundlage. Für Dich ist das natürlich kein Problem mehr, weil Du ja schon jahrelang in der Arbeit stehst. ...

Lieber Ernst-Günther, ich kann mir vorstellen, wie schwer es Dir ums Herz war, als Du Deinen Stamm an Nuddle abgegeben hast. Wenn Du aber weißt, der andere macht seine Sache gut, so ist das sehr viel wert und Du kannst Dich freuen, dass Du so viel dazu beigetragen hast. Ich könnte mir auch gar nichts anderes vorstellen, als dass Du nach Deinem Examen wieder mitarbeiten wirst.

Lieber Ernst Günther, ich kann unmöglich weiterschreiben. Heidrun und Jutta albern schrecklich herum. Jutta, die Tochter meiner Tante ist 16 Jahre alt, ein tolles Alter. – Besonders herzliche Grüße von mir, lieber Ernst-Günther, Deine Roswitha

Berlin, den 11. 7. 56

Liebe Roswitha, Dank für Deinen Brief. ... Gestern Abend war ich zu einer Verlobung eingeladen. Bei wem? Bei Bringfried. Da staunst Du? Ja Bringfried hat sich eben rangehalten, er ist der erste bei uns im Gau, der einen Ring trägt. Aber er hat gut gewählt. Ich kenne das Mädchen, natürlich auch aus der Evangelischen Jugend, genau so lange wie er und recht gut. Sie ist ein feiner und wertvoller Mensch. Du wirst sie auch einmal kennen lernen.

Wie kommst Du denn darauf, mich mit Amor zu vergleichen? Ich bin doch ganz harmlos. Oder hast Du etwas anderes bemerkt? Dass aber jener kleine Lausebengel an einem Wochenende im Juni in der Gegend von St. Andreasberg sein (Un)Wesen getrieben hat, lässt sich nicht verheimlichen. So kam es auch, dass ich gestern Abend während der Feier nachdenklich unter den Brezelbuchstaben (russisch Brot) wühlte und dann schließlich eine Reihe von ihnen aß, bis mich die Mutter der Braut fragte, wer jene Roswitha sei, die ich eben mit Haut und Haaren verspeist habe. Alles schaute interessiert. ...

So weise und abgeklärt bin ich ja nun nicht, dass Jugendarbeit gar kein Problem für mich wäre. Denn es gibt glücklicherweise immer noch genug Dinge, ... die nicht genormt sind, sondern neue Überlegungen erfordern. Natürlich kann ich vieles aus der Erfahrung herauslösen, das ist klar. Aber das ist eben Erfahrung und auch nicht in einem Gruppenleiterkurs lernbar. Geh also nicht mit zu großen Ambitionen dort hin. Viel mehr wert ist das Erlebnis der „Gemeinschaft im Dienst“, d. h. derer, die sich genau wie Du mit dieser Aufgabe abmühen, weil sie den Auftrag dazu verspüren. ...

Du kannst Dir gar nicht denken, wie sehr ich mich schon auf den Besuch im Herbst freue. Wir sollten in Göttingen oder Hannover ins Theater gehen. Wenn es doch nur nicht so lange dauern würde!

Nun vorerst herzliche Grüße an Eltern, Schwester, Tante, Cousine etc. und ganz besonders an Dich, Dein Ernst-Günther

Berlin, den 14. 7. 56

Liebe Roswitha, ich bin zwar noch nicht wieder „dran“ mit schreiben, aber da ich heute endlich das Jahrbuch des Evangelischen Mädchen-Pfadfinderbundes bekam, das ich Dir schon lange zugedacht habe, will ich es Dir gleich schicken. Es ist zum größten Teil aus dem CP-Jungenkalender übernommen worden ist, den wir in Zehlendorf für dieses Jahr gestaltet haben. Nur einiges typisch Jungenhafte ist durch Dinge aus dem EMP ersetzt worden. Im Inhaltsverzeichnis habe ich vermerkt, von wem von uns die einzelnen Seiten sind.

Du brauchst nun nicht zu denken, dass ich Dich damit zur EMP locken will. Ich meine nur, dass Du manche Anregung für Deine Tätigkeit daraus beziehen kannst. Es ist auch ein Ausdruck der Freude, dass Du Dich so schnell bereit gefunden hast, etwas derartiges zu übernehmen. Nur darfst Du es nicht mir zu Gefallen tun. Wenn es nicht aus innerem Antrieb und innerer Freude geschieht, ist die Sache wertlos. Du wärest mir dann nicht weniger lieb, denn ich habe Dich als Mädchen lieb gewonnen und nicht als Jugendleiterin.

Gestern hatte ich Fahrprüfung. Ich war „kühl bis ans Herz hinan“. Das war mein Glück. Zu dritt rückten wir von meiner Fahrschule an, ich kam als einziger durch. Trotz kleiner Fehler gab mir der Prüfer den Schein, weil er gesehen habe, ich könne fahren. Da fiel mir doch ein Stein vom Herzen, den ich vorher gar nicht gefühlt hatte.

So, Mädel, ich habe heute und morgen noch viel zu tun, denn der Semesterschluss ist nahe. Sei recht von Herzen gegrüßt von

Deinem Ernst-Günther

Sind die Kirschen reif geworden,

rot und reif die Kirschen worden.

Niemand darf die Kirschen nehmen,

als ein Bursche, als ein Mädchen.

Sagt der Bursche, sagt dem Mädchen,

Antlitz tief in Scham errötet:

„Deine Augen sind wie Sterne,

ach, ein Leuchten deiner Augen!“

Sagt das Mädchen, sagt dem Burschen:

„Warum willst du nur das Leuchten?

Nimm die Augen, nimm sie beide,

beide Augen und das Mädchen.“

Aus dem Bulgarischen

Pöhlde, den 15. 7. 56 (Ansichtskarte)

Lieber Ernst-Günther! Gestern sind wir bei strahlendem Wetter angekommen und heute völlig eingeregnet. Das ganze Sportfest fällt aus. Wir wissen gar nicht mehr, wo wir uns aufhalten sollen, alles ist heute geschlossen. – Deinen lieben Brief habe ich erhalten. Ich schreibe Dir morgen einen Brief. Es ging leider nicht vorher. Herzliche Grüße, Deine Roswitha

St. Andreasberg, den 16. 7. 56

Lieber Ernst-Günther! Endlich komme ich dazu, Dir zu schreiben. Habe vielen Dank für Deinen Brief. Sicher warst Du schon sehr ungeduldig. Dass ich Dir nicht früher schreiben konnte, lag daran, dass hier am Freitag, als Dein Brief kam, ein Studentenball stattgefunden hat, auf dem ich natürlich nicht gefehlt habe. 90 Studenten von der TH Braunschweig, alle im 2. Semester, hatten hier 10 Tage lang vermessen. Das war was für die Andreasberger Mädchen. Wir drei, Heidrun, Jutta und ich wurden, wie die anderen Mädels auch, von Studenten abgeholt. Der Abend war sehr schön. Ich erzähle Dir Näheres davon, wenn Du bei uns bist. Morgens um 4 Uhr waren wir wieder zu Hause, ziemlich unsolide, nicht wahr? ...

Ich war sehr überrascht, als Du von Bringfrieds Verlobung schriebst. Das hatte ich noch nicht erwartet. Ich freue mich, dass er so ein nettes Mädel gefunden hat. Es ist doch immer schön, wenn zwei junge Menschen gemeinsam an die Zukunft denken können.

Lieber Ernst-Günther, ich freue mich schon so sehr, wenn Du wieder kommst. ... Dass wir ins Theater gehen wollen, finde ich prima. Ich war das letzte Mal im vorigen Jahr in Lauterberg im Theater. Vielen Dank für Dein Gedichtchen, ich habe alle Deine Gedichte aufgehoben und lese sie immer wieder. Vielen Dank dafür.

Lieber Ernst-Günther, ich werde jetzt schließen. Viele Grüße von allen. Jutta ist nicht meine Cousine. Meine Tante ist die Freundin meiner Mutter. Sei recht herzlich gegrüßt von Deiner Roswitha

Berlin, den 22. 7. 56

Liebe Roswitha, herzlichen Dank für Brief und Karte. ... Das ist vorläufig der letzte Brief, den Du aus Berlin bekommst, da ich Mittwochmittag fahre. Wir wollen zuerst in die Böhmerwaldklause, dann über Passau nach Wien und auf dem Rückweg nach Salzburg. Ich fahre dann nach Hamburg, wo ich bis Oktober als Werkstudent arbeiten werde. ... Vor Oktober sehen wir uns bestimmt. Darauf freue ich mich mehr als auf die ganze Sommerfahrt. Ins Theater sollten wir in Hannover oder Göttingen gehen. ...

Du warst also schon wieder einmal tanzen. Ich muss sagen, Du lebst ganz gut. Waren die Studenten wenigstens nett? Aber ich freue mich ja genau so wie Du, wenn Du dort etwas Abwechslung hast.

Die Zeilen auf dem Sonderblatt sind diesmal von mir. Sie können Dir vielleicht mehr als manches andere Wort von der Sehnsucht sagen, die mich manchmal überfällt. Wenn es uns doch gegeben sein möchte, einander diese Liebe zu schenken, die ein Leben lang reicht! Aber wir dürfen es uns nicht zu einfach machen. Denn dass vor mir kein einfaches Leben liegt, das habe ich schon gemerkt. Das ist wohl bei Christen überhaupt so.

Mein liebes Mädel, ich wünsche Dir recht gute und fröhlich Urlaubstage. Erhol Dich gut und schöpfe viel neue Kraft. Herzlichen Gruß, Dein Ernst-Günther

Als schneller Vogel möcht’ manchmal ich fliegen

über die Grenzen und weit hinaus.

Kann länger nicht über’m Schreibtisch liegen

im dumpfen Haus.

Möcht’ fliegen und schauen in Felder und Auen;

über Fluss und Wald möchte ich fliegen ohn’ Halt,

bis ich endlich die finde, die die Unrast überwinde.

Als wilder Freier möcht’ manchmal ich ziehen

über die Grenzen längs Straße und Rain.

Kann nicht länger in die Arbeit fliehen

so völlig allein.

Möcht’ ziehn bis ans Ende zu suchen zwei Hände

in Wald, Feld und Tal, im tanzwirbelnden Saal;

möcht’ sehn, ob ich find’ ein liebendes Kind.

Oh Vater im Himmel, so gib Deinen Segen,

ein liebendes Weib lass doch finden mich neu,

der ich den Kopf in den Schoß kann legen,

die heimlich mir gibt wieder neue Stärke,

dass weiter ich schaffe an Deinem Werke

froh und treu.

Pönitz, den 25. 7. 56 (Ansichtskarte nach Salzburg)

Lieber Ernst-Günther! Es gefällt mir hier ausgezeichnet. Ich glaube, hier könnte ich mich wohler fühlen als im Harz. ... Lieber Ernst-Günther, noch einmal vielen herzlichen Dank für das Kalenderbuch des EMP. Ich habe es mitgenommen. Ich schreibe bald mehr. Recht herzliche Grüße, Deine Roswitha

Pönitz, den 27. 7. 56 (nach Passau)

Lieber Ernst-Günther! Recht vielen Dank für Deinen Brief mit Gedicht, ich hatte ihn erst am Freitag bekommen. ... Die beiden Mädels und ich haben schon alles Mögliche verzapft. ... Am Sonntag gehen wir in „Die Zauberflöte“. Wir sind auch schon in Lübeck gewesen. ... Die See ist herrlich, besonders bei Wellengang.

Du wirst ja sicher auch allerhand erleben. Wie ich aus den Adressen sehe, kommst Du ganz schön herum. Ich wünsche Dir viel Spaß und Freude dazu. ... Du wirst mir doch sicher aus Hamburg von Deiner Fahrt berichten, nicht wahr? – Für den EMP-Kalender nochmals vielen Dank. ... Was Du da geschrieben hast, dass ich mich vielleicht Deinetwegen für die Jugendarbeit einsetze, stimmt nicht, dafür habe ich mich selbst schon genügend geprüft. Du hast mir nur den Anstoß gegeben und dafür bin ich Dir sehr dankbar, denn ich sehe darin eine wertvolle Aufgabe und es macht mir auch Spaß.

Nun lieber Ernst-Günther, wünsche ich Dir noch recht frohe Ferien. Es grüßt Dich herzlich Deine Roswitha

Passau, den 1. 8. 56 (Ansichtskarte nach Pönitz)

Liebe Roswitha, Dank für Deinen lieben Brief. Ich war schon ganz verzweifelt, da ich fast zwei Wochen keine Post von Dir hatte und wir morgen um 7 Uhr mit einem Schiff in die Wachau fahren. Bisher hatten wir schöne Tage in der Klause, gestern und heute haben wir Passau angesehen. Für den Rest des Urlaubs noch schöne Tage und macht nicht zu viel Blödsinn. Lass Dich von Herzen grüßen,

Dein Ernst-Günther

Melk (Donau), den 4. 8. 56 (Ansichtskarte)

Liebe Roswitha, nun sind wir ein Stück die Donau herab geschwommen, ein Stück Bahn gefahren und gelaufen. Es ist eine feine Gegend hier und der Wein schmeckt auch gut. Wir folgen immer den Spuren der Nibelungen, gestern bei Bechelaren vorbei, wo Kriemhilds Bruder Giselher sich mit der Tochter des Markgrafen Rüdiger verlobt hat. Sei recht herzlich gegrüßt, Dein Ernst-Günther

Wien, den 6. 8. 56 (Ansichtskarte)

Liebe Roswitha, nun sollst Du auch aus Wien einen Gruß haben. Seit gestern früh sind wir hier und haben schon viel gesehen: Dom, Prater, Innenstadt, Rathaus, Parlament, Burgtheater und vor allem die Schatzkammer mit der Kaiserkrone und den Reichsinsignien des Heiligen Römischen Reiches. Ich halte ja sonst nicht viel von Traditionen, aber diese Symbole einer über Jahrhunderte währenden Macht haben mich doch beeindruckt. Nun sei recht herzlich gegrüßt von Deinem Ernst- Günther

Salzburg, den 8. 8. 56 (Ansichtskarte)

Liebe Roswitha, gestern trampten wir von Wien hierher, 320 km in 9 Stunden. ... Hier ist ein unheimlicher Betrieb, denn die Festspiele sind voll im Gange. Internationales Publikum, mehr Ausländer als Österreicher. ... Nun lass Dich recht herzlich grüßen,

Dein Ernst-Günther

Innsbruck, den 11. 8. 56 (Ansichtskarte)

Liebe Roswitha, auch aus Innsbruck sollst Du einen herzlichen Gruß von mir bekommen. Ich bin vorgestern von Salzburg hier herüber gefahren und bleibe jetzt noch ein paar Tage bei meiner Schwester. Morgen fahren wir nach Italien zum Gardasee, das zweite Mal, dass ich in Italien bin. Dann geht es in der nächsten Woche nach Hamburg. ... Dort möchte ich von Dir gerne mal wieder Post haben. Nochmals herzlichen Gruß, Dein Ernst Günther

St. Andreasberg, den 14. 8. 56 (nach Hamburg)

Lieber Ernst-Günther! Sei mir bitte nicht allzu böse, dass ich Dir heute erst schreibe, und Du warst so fleißig. Recht herzlichen Dank für Deine schönen Ansichtskarten. … Mein Urlaub war einfach herrlich. Bis auf zwei Tage hatten wir immer schönes Wetter. Wir waren fast jeden Tag am Strand und haben viele Bilder gemacht. Zum Abschluss haben wir in der Eutiner Freilichtbühne „Die Zauberflöte“ gesehen. Wir waren sehr davon angetan. …

Ach, Du hast sicher auch allerlei Schönes gesehen, Deine Karten sagen mir ja schon genug. Und jetzt geht es mit neuer Kraft an die Arbeit. … Ich freue mich, dass Du bald kommst und wir uns mal wieder sehen können. Du sicher auch, nicht wahr? Nun sei herzlich gegrüßt und nicht so traurig, dass ich heute erst geschrieben habe. Von Herzen, Deine Roswitha

Erinnerung: 17. – 18. 8. 56 im Harz

Eigentlich wollte ich gemächlich zum Wochenende nach Hamburg trampen. Doch am Gardasee wird mir klar, dass ich ja dicht bei euch vorbei komme und da wird die Sehnsucht nach dir übermächtig. Ich verlasse Freitag Vormittag die Autobahn in Göttingen und trampe in den Harz hinauf. Deine Freude ist groß, als ich plötzlich vor dir stehe. Gleich nach deinem Feierabend verziehen wir uns in den nahen Wald und erzählen uns von unseren Reisen.

Nicht umsonst habe ich dir den Film „Ich denke oft an Piroschka“ empfohlen. Am Samstagvormittag streifen wir bei strahlendem Sonnenschein wieder durch Berg und Wald bis hinauf zu den Hohen Klippen. Als wir dort stehen und ins Land hinausschauen, nehme ich meinen ganzen Mut zusammen, eigentlich müsstest du mein Herzklopfen hören. Ich spreche dich auf den Film an. Ja, du hast ihn gesehen. Ob du denn die Szene erinnern kannst, wo die beiden zusammen auf der Wiese sind? Du lachst, ich glaube, du hast schon begriffen, was ich will. Ob Du diese Szene schön gefunden hast, frage ich noch. Mit leuchtenden Augen sagst du „ja“. Da nehme ich dich in die Arme und küsse dich. Wie lange habe ich mich schon danach gesehnt, und jetzt merke ich voller Freude, dass du es auch genießt. Mit geschlossenen Augen und beseligtem Gesicht umarmst auch du mich, als unsere Zungen miteinander spielen. Du bist ja für mich schon lange das schönste Mädchen auf der Welt, aber nie bist Du schöner als in diesem Augenblick.

Wie oft wir uns an diesem Tag noch geküsst haben, weiß ich nicht, aber es war sehr oft. Ich glaube, du hast es auch gewollt oder zumindest gewusst, dass wir diesmal so nahe zueinander finden. Und als wir uns abends zum Abschied noch einmal innig küssen, wissen wir beide, dass wir uns nie wieder loslassen werden.

Bis zum nächsten Besuch lasse ich meine Klampfe bei dir und für meine Zeit in Hamburg verabreden wir einen gemeinsamen Theaterbesuch in Hannover oder Göttingen.

Hamburg, den 19. 8. 56

Mein liebes Mädel, nun bin ich glücklich in Hamburg gelandet. Ich habe während der Fahrt ständig an Dich gedacht. Weißt Du, die Tage bei Dir waren wunderschön. Lass mich Dir noch einmal von Herzen danken für alles, was Du mir gegeben hast. Und bald ist es schon wieder so weit, darauf freue ich mich auch schon sehr. ...

Meine Tante freute sich wie immer, wenn sie mich sieht. Auch von Dir musste ich erzählen. Ich glaube, sie weiß schon genau, was los ist, denn sie kennt mich so gut, dass sie sich schon aus einigen Andeutungen ein Bild machen kann. Und morgen geht die Arbeit los. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Einerseits freue ich mich auf das produktive Schaffen, zum anderen weiß ich, dass die ungebundene zeitliche Freiheit des Studentenlebens für eine Weile erheblich beschnitten ist. Trotzdem – es wird schon schön werden.

Etwas ist mir unterwegs eingefallen: Du erzähltest mir, dass Dein Hauptname gar nicht Roswitha ist, sondern Karin. Ich muss sagen, mir gefällt Karin viel besser. Wie steht es bei Dir? Wenn Du der gleichen Meinung bist, würde ich Dich gerne so nennen.

Was macht das Klampfe spielen? Das Instrument, das ich Dir dort gelassen habe, stammt von Dietlind. Ich habe es mir von ihrer Mutter erbeten. Ich hoffe, Du kannst schon einigermaßen wechseln, wenn ich komme. Dafür kannst Du mir gelegentlich „Flötentöne“ beibringen.

Sag bitte Deinen Eltern noch einmal recht herzlichen Dank für die freundliche Aufnahme und grüße sie von mir. Du selbst sei in Liebe von Herzen gegrüßt und in Gedanken tausend Mal geküsst (wie im folgenden Gedicht beschrieben) von Deinem Ernst-Günther

Nirgends hin als auf den Mund,

da sinkt es in des Herzens Grund.

Nicht zu frei, nicht zu gezwungen,

nicht mit allzu trägen Zungen.

Nicht zu langsam, nicht zu schnelle,

nicht stets auf dieselbe Stelle,

nicht ohn’ Unterschied der Zeiten,

mehr allein als vor den Leuten.

Küsse nun ein jedermann,

wie er weiß, will, soll und kann!

Ich nur und Du, Liebste, wissen,

wie wir recht uns sollen küssen.

Paul Flemming

St. Andreasberg, den 21. 8. 56 (nach Hamburg)

Lieber Ernst-Günther! Habe vielen Dank für Deinen lieben Brief und Deine „Küsse“. Ich denke noch viel an die letzten Tage mit Dir und freue mich schon sehr darauf, dass wir uns bald wieder sehen können. Des Theaters wegen habe ich heute nach Hannover und Göttingen geschrieben. ... Übrigens finde ich es besser, wenn wir uns gleich in Hannover treffen, auch wenn Du Samstags nicht zu arbeiten brauchst, denn ich kann doch schon vormittags kommen. Wenn Du nicht mit einem Wagen kommst, würden wir wohl nur in Hannover eine Übernachtung bekommen, denn so spät fahren keine Züge mehr.

Ich habe gestern zu Hause keinen leichten Stand gehabt. Alle sind dagegen, dass ich im September zu diesem Kursus fahren möchte. Meine Eltern meinen, ich würde mich übernehmen, ich sollte mich erst um meinen Beruf kümmern. ...

Lieber Ernst-Günther, Du fragst, wie ich zu meinem Namen Karin stehe. Ich finde nur immer, dass er besser zu mir passt, warum kann ich nicht sagen. Allerdings müsste ich mich erst umgewöhnen, aber das ist kein Problem. Du kannst mich ruhig Karin nennen.

Ehe ich mich an Deinen Namen Ernst-Günther gewöhnt habe! Fyps war viel einfacher und netter zu sagen. Ernst oder Günther würde ja auch genügen. Überlege doch einmal, ob Du Dich nicht daran gewöhnen könntest. ...

Lieber Ernst-Günther, das eine muss ich Dir noch sagen: Ich freue mich so sehr, dass ich Dich habe und dass ich Dich sehr liebgewonnen habe. Ich habe mich zuerst dagegen gesträubt, obwohl ich das schon ahnte, denn ich wollte allein sein. Aber Du zwingst mich einfach dazu, Dich gerne zu haben, und ich bin nun ganz das Gegenteil als unglücklich darüber. Ich freue mich riesig über Deine Briefe und zähle schon die Tage, bis Du endlich wieder bei mir bist.

Lieber Ernst-Günther, bestelle bitte Deiner Tante die herzlichsten Grüße von mir und sei Du auch von Herzen gegrüßt und geküsst (in Gedanken), Deine (Roswitha) Karin

Hamburg, den 23. 8. 56

Meine liebe Karin, hab herzlichen Dank für deinen lieben Brief und den Erikagruß. Ich hatte heute noch gar keine Antwort erwartet. Aber so war die Freude doppelt groß.

Seit Montag bin ich nun bei den Hamburgischen Electricitäts-Werken im Konstruktionsbüro. Ich stehe am Reißbrett und konstruiere eine neue Schalttafel für ein Fernheizwerk. ... Du kannst Dir denken, dass das eine mächtig interessante Arbeit ist. Dazu besteht bei den HEW ein sehr freundliches Betriebsklima. Alle sind nett und bemühen sich um den Neuling, so dass ich die Aussicht, eventuell später als Ingenieur hier zu arbeiten, lebhaft verfolge. Es kann also sein, dass ich im März mein Domizil hier in Hamburg aufschlage. Ein Amt als Gauführer bei der CP steht mir auch schon in Aussicht. Es ist also für Ausgleich gesorgt.

Leider muss ich samstags bis 13 Uhr arbeiten. Ich weiß noch nicht, ob ich per Auto oder Zug nach Hannover komme, bin jedoch mit keinem von beiden vor 15:30 dort. Ich käme lieber mit dem Auto als mit dem Zug, denn ich will Dich auf jeden Fall noch in selbiger Nacht zu Hause abliefern. Es kommt gar nicht in Frage, dass Du die Nacht mit mir in Hannover bleibst. Ich möchte Dich nicht ins Gerede bringen, denn dazu bist Du mir zu wertvoll.

Zu dem Kurs solltest Du auf jeden Fall fahren. Kannst Du Deinen Eltern nicht erklären, dass Du die entsprechende Ausbildung brauchst, wo Du jetzt die Gruppenleitung übernommen hast? ...

Dass ich Dich Karin nennen darf, ist fein und ich danke Dir dafür. Fyps ist zwar schön kurz aber rein dienstlich, d. h. jeder CPer außer Bringfried nennt mich so. Den Namen „Ernst-Günther“ habe ich eigentlich selber zu gerne, als dass ich ihn teilen möchte. Erfinde doch einfach einen Namen für mich.

Geliebtes Mädel, auch ich zähle die Tage, bis wir uns wieder sehen. Auch ich falte immer wieder die Hände und danke Gott, dass ich Dich gefunden habe. Und wenn wir alles, was uns gegeben wird, sei es gut oder schlecht, aus seinen Händen nehmen, wird die Liebe zwischen uns immer größer und schöner werden und erst durch das Ende unserer Tage ihr Ende finden.

Karin, ich muss zur Arbeit. Sei von Herzen gegrüßt und geküsst von Deinem Ernst-Günther

Kind, noch einen Kuss mir gib,

einen Kuss von deinem Munde.

Ach ich habe dich so lieb!

Kind, noch einen Kuss mir gib.

Werden möcht’ ich sonst zum Dieb,

wärst du karg in dieser Stunde.

Kind, noch einen Kuss mir gib,

einen Kuss von deinem Munde.

Gibst du einen Kuss mir nur,

tausend geb’ ich dir für einen.

Ach, wie schnelle läuft die Uhr!

Gibst du einen Kuss mir nur,

ich verlange keinen Schwur,

wenn es treu die Lippen meinen.

Gibst du einen Kuss mir nur,

tausend geb’ ich dir für einen.

Adalbert von Chamisso

St. Andreasberg, den 27. 8. 56 (nach Hamburg)

Lieber Ernst-Günther! Habe recht vielen Dank für Deinen Brief und Dein liebes Gedicht. Nein, zum Dieb brauchst Du nicht zu werden, dafür habe ich Dich viel zu lieb. Mit dem Namen erfinden ist das so eine Sache. Ich habe schon gedacht, Lausebengel wäre so der richtige Name. Doch keine Angst, so nenne ich Dich nicht. Aber Kosenamen liegen mir nicht so. Einstweilen bleibe ich doch lieber bei Ernst-Günther. … Ob ich nun nach Gelnhausen fahren kann. steht immer noch nicht fest. Ich habe das meinen Eltern noch mal auseinander gesetzt. Ihre Meinung hat sich nicht geändert. Sie meinen, ich würde mir in der Firma viel verderben und außerdem hätte ich den Verdienstausfall. Ich finde, das sind keine triftigen Gründe. ... Nun, lieber Ernst-Günther, viele liebe Grüße und einen Kuss,

Deine Karin

Hamburg, den 29. 8. 56

Meine liebe Karin, hab recht herzlichen Dank für Deinen lieben Brief. Ich fand ihn eben vor, als ich aus dem Kino kam. „Wenn du weg gehst, wird es Nacht“ hieß der Film. Hauptdarsteller Curd Jürgens. Das Thema: Ein Rechtsanwalt, der sprachgehemmt ist und deswegen regelmäßig Morphium nimmt, wird durch die aufopfernde Liebe seiner Frau geheilt. ... Ich glaube, Du würdest in gleicher Weise für mich kämpfen, wenn es nötig wäre. Ach Mädel, auch diese Zeit des Wartens und der Trennung wird vorbei gehen, und ich versuche mir manchmal vorzustellen, wie herrlich es dann sein wird. Die Schwierigkeiten nehmen wir dann auch gemeinsam.

Zum Theater komme ich ziemlich sicher mit dem Auto und werde Samstag gegen 15:30 in Hannover sein. Drei Karten brauchen wir, weil meine Tante mitkommt. Ich wollte ihr die Gelegenheit nicht entgehen lassen, mal raus zu kommen und habe sie eingeladen. Sie wird auch im Theater dabei sein und mit nach St. Andreasberg fahren. Ich bitte Dich, für sie ein Hotelzimmer zu besorgen. …

Ein Gedicht bekommst Du heute nicht, weil’s schon zu spät ist. Dafür ist jetzt schon ein Bild fertig. Hoffentlich gefällt es Dir. Sieht ganz brav aus und gar nicht nach „Lausebengel“. Liebes Kind, recht herzlichen Gruß und viele Küsse, in Liebe, Dein Ernst- Günther

St. Andreasberg, den 2. 9. 56 (nach Hamburg)

Lieber Ernst-Günther! Recht herzlichen Dank für Deinen lieben Brief. Über das Bildchen habe ich mich besonders gefreut. Es gefällt mir sehr gut und steht schon eingerahmt auf meinem Nachttisch. … Ich freue mich sehr, auf diese Weise Deine Tante kennen zu lernen. Sie wird genau so gerne bei uns aufgenommen wie Du. Du kannst im Wohnzimmer schlafen oder mit ihr zusammen im Fremdenzimmer. …

Lieber Ernst-Günther, stell Dir vor, ich kann nun doch nach Hessen fahren. Die Firma hat es nach einigem hin und her bewilligt und meine Eltern haben auch nichts mehr dagegen. Montag den 10. werde ich also abreisen. Ich freue mich schon. …Nun werde ich Schluss machen. … Lieber Ernst-Günther, recht herzliche Grüße und Küsse bis zum kommenden Samstag, Deine Karin

Hamburg, den 3. 9. 56

Meine liebe Karin, das Telefonat heute war etwas überraschend und auch nicht lang genug, um alles richtig zu erklären. ... So ist es am einfachsten, dass Du zur Großstadt kommst, wo wir diesmal die Großstadt mit ihrem Theater brauchen. Ich komme schon mal wieder nach St. Andreasberg, ich denke, so gegen Ende Oktober. ...

Die Verbindungen sind äußerst günstig. Du findest sie nachstehend und ich lege Dir die Fahrkarte für hin und zurück bei. ... Steige Hamburg Hbf. aus, ich erwarte Dich auf dem Bahnsteig. Auch für die Fahrt nach Gelnhausen am Sonntagabend besteht eine gute Verbindung. Du brauchst nur in Fulda umzusteigen. – Schlafen wirst Du hier in einer Pension, 5 Minuten von uns entfernt. Für die Tage habe ich schon allerlei Pläne, außer dem Theaterbesuch, versteht sich. ... Ich muss eilen, weil der Brief heute noch zur Post soll. Wir sehen uns dann am Freitag, den 7. 9. gegen 22:31 auf dem Hamburger Hauptbahnhof. Bis dahin herzliche Grüße und eine gute Reise. Dazu viele Küsse (vorerst nur brieflich), Dein Ernst-Günther

Erinnerung: 7. – 9. 9. 56 in Hamburg

Welch eine Freude, dich auf dem Bahnsteig in die Arme zu nehmen und deine Lippen auf den meinen zu spüren! Ich habe kaum Gelegenheit, dir meinen Rosenstrauß zu überreichen. Schließlich reißen wir uns los, fahren mit der Straßenbahn zur Uhlenhorst und lassen deinen Koffer in der Pension. Meine Tante will dich unbedingt sehen, so trinken wir noch ein Glas Wein bei ihr. Ich glaube, die Inspektion ist zu ihrer Zufriedenheit ausgegangen. Spät bringe ich dich zur Pension, wo wir uns wieder nach langen Küssen voneinander los reißen müssen. Ich kann lange nicht einschlafen vor Glück.

„Was war denn das für eine langhaarige Schönheit, die Sie da am Samstag getroffen haben?“, fragt mich am Montag ein grinsender Kollege. Ich antworte kaum, denn ich bin noch voll von Erinnerung an die beiden Tage mit dir: Nachdem du mich bei den HEW abgeholt hast, streifen wir ein wenig durch die Stadt und essen Mittag an den Alsterarkaden, dann fahren wir zum Kaffee zu Tante Friedel. Danach machen wir uns fein für den Theaterbesuch. Als ich meine Schuhe vor der Tür putze, sehe ich durch das offene Badezimmerfenster, wie du dir die Lippen nachziehst. Das ist ein intimer Einblick, der dich mir wieder ein Stück näher bringt. Hand in Hand verlassen wir das Haus. „Wie Hänsel und Gretel“, sagt Tante Friedel später, die uns nachgeschaut hat. – Für mich ist es etwas Großes, mit dir als Dame das Theater zu besuchen, wo wir bisher nur im Räuberzivil durch die Wälder gestreift sind. Anschließend gehen wir ins benachbarte Boccaccio zum Tanzen. Ich genieße den Tanz mit dir sehr und habe das Gefühl, dass es bei dir nicht anders ist.

Wir sind beide so aufgedreht, dass wir den Abend noch nicht beenden wollen. So gehst du gerne auf meinen Vorschlag ein, nach Hause zu laufen. Fast der ganze Weg führt ja am Alsterufer entlang. Es ist ein warmer Abend, ich habe den Arm auf deine Schulter gelegt und du greifst meine linke Hand auf meinem Rücken. Immer wieder bleiben wir stehen oder setzen uns auf eine Bank, um uns zu küssen, während die Alster vor uns plätschert.

Vor dem Mundsburg-Kanal entfernt sich die Straße vom Ufer, wir stehen ziemlich im Dunkeln. Da kann ich mich nicht mehr zurück halten und lege meine Hand in den Ausschnitt deines leichten Sommerkleides. Als du es mir nicht verwehrst, geht meine Hand weiter, bis ich die zarte Haut deiner Brust fühle und streichle. Erstaunt registriere ich, wie die weiche Spitze unter meiner zärtlichen Berührung fest wird. Wie glücklich bin ich, als du mir mit immer heftigeren Küssen zeigst, dass dir diese Liebkosung Freude macht. Das ist der schönste Augenblick meines bisherigen Lebens!

Wenn ich an den folgenden Arbeitstagen am Mönckebergbrunnen die nackte Frauenfigur sehe, habe ich nur Augen für ihren Busen und denke dabei an deine wunderbare weiche Brust.

Nach einem Frühstück bei Tante Friedel fahren wir am Sonntag in die Stadt. Wir besuchen den Gottesdienst in Othmarschen, machen eine Hafenrundfahrt und ich zeige dir Interessantes in der Stadt. – Als ich dich abends in der Straßenbahn zum Bahnhof bringe, gehen uns zwei Gedanken durch den Kopf: Dank für die beiden wundervollen Tage und Trauer über die bevorstehende Trennung. Da fällt mir eine Geschichte ein, die ich dir erzähle:

Ein junger Bauernbursche sagt zu dem Mädchen, das er liebt: „Ach, wenn wir doch nur schon verheiratet wären!“ Schwuppdiwupp sind sie ein Ehepaar. „Ach hätten wir doch schon Kinder!“ Schwuppdiwupp springen drei Kinder durch die Wohnung. „Ach hätten wir doch schon einen eigenen Hof!“ Schwuppdiwupp ziehen sich die Eltern auf das Altenteil zurück. Doch die Kinder machen viel Mühe. „Ach, wenn die Kinder doch schon groß wären!“ Schwuppdiwupp sind die Kinder erwachsen und haben selber Kinder.

Doch als die beiden sich im Spiegel betrachten, haben sie graue Haare und einen krummen Rücken. „Was haben wir eigentlich von unserem Leben gehabt?“, fragt der Mann. „Wir hätten schon etwas davon haben können, wenn du dich mit der Gegenwart zufriedengegeben hättest“, antwortet die Frau traurig. „Doch dein ,Ach wenn doch ...’ hat uns – schwuppdiwupp – die Mühe aber auch die Freude am Leben gekostet. Und nun ist es zu spät dafür.“

Du lachst dein klingendes Lachen, das ich so liebe. Weißt du doch, dass ich viel ungeduldiger bin als du. – Abschiede auf Bahnhöfen sind scheußlich. Noch einmal küssen wir uns innig, dann winke ich dir noch nach, als der Zug schon lange aus dem Bahnhof ist.

Gelnhausen, den 11. 9. 56 (Ansichtskarte nach Hamburg)

Lieber Ernst-Günther! Ich bin gestern bei strömendem Regen völlig zerschlagen hier angekommen. Ich bin mit 12 Mädchen in einer Jugendherberge untergebracht. Wir haben uns gut angefreundet. ...

Meine Rosen sind noch sehr schön. Ich danke Dir noch herzlichst für die schöne Zeit, die ich mit Dir in Hamburg verbracht habe. Grüße bitte Deine Tante recht schön von mir, und ich danke ihr auch von Herzen für alles. Recht herzliche Grüße und Küsse auch an Dich, mein lieber Ernst-Günther, Deine Karin

Hamburg, den 13. 9. 56 (nach Gelnhausen)

Geliebtes Mädel, hab herzlichen Dank für Deine liebe Karte. Ja, es waren zwei herrliche Tage; doch gebührt mir kein Dank dafür, denn ich habe ja ebenso viel oder sogar noch mehr Freude aufgenommen. Ich glaube, wenn wir Dank auszusprechen haben – und das ist ja in überreichlichem Maße der Fall – dann vor allem im Gebet. Dank für die schönen Stunden, die wir immer wieder erleben, Dank, dass wir uns gefunden haben und Bitte: für unsere Zukunft, dass unser weiteres Miteinander gesegnet wird; und für den anderen, dass er vor Gefahr an Leib und Seele beschirmt werde. Doch zusätzlich will ich Dir von Herzen danken, dass Du durch Dein Kommen und Deine Liebe diese beiden schönen Tage möglich gemacht hast.

Ich bin an den letzten Abenden immer wieder an der Alster entlang nach Hause gegangen. Jede Ecke, wo wir gestanden haben, jede Bank auf der wir gesessen und uns geküsst haben, war noch ein Stück bewegende Erinnerung. Damit Du auch ein bisschen von dieser Erinnerung hast, schicke ich Dir ein paar nette Bilder von der ganzen Gegend mit. ... Auch Deine Passbilder liegen bei. Du wirkst etwas älter darauf, mehr erwachsener Mensch, als man es Dir sonst ansieht. Aber das Bild ist wahr. Denn ich habe an jenen beiden Tagen gemerkt, dass Du wirklich ein erwachsener Mensch bist. Verzeih mir, was ich jetzt sage, aber bisher hatte ich das Gefühl, Du müsstest das in manchen Stücken erst noch werden. Hier in Hamburg gingst Du zum ersten Mal aus dieser vielleicht unbewussten Reserve heraus und zeigtest Dich völlig, wie Du bist. Das war vielleicht das schönste Erlebnis und die größte Freude für mich. Ich meinte das so etwa mit dem „Abenteuer, in das wir uns kopfüber gestürzt haben“. Ich meinte, wir haben uns ineinander verliebt, ohne uns näher zu kennen. Jetzt sehe ich mit großer Freude, dass dieses Vertrauen berechtigt war. Doch genug der Theorie. Ich habe Dich von Herzen gern, glaube von Dir das gleiche und wir sind froh miteinander – was wollen wir mehr! ...

Ich habe jetzt schon die Hälfte meiner Zeit hier herum und frage mich immer, wo die Tage geblieben sind. Lang sind sie mir bisher nur am Freitag und Samstag voriger Woche geworden, als ich auf Dein Kommen wartete, bzw. auf das Ende meiner Arbeitszeit.

Meine liebe Karin, ich wünsche Dir noch viel Freude bei Deinem Kursus und sei herzlich gegrüßt und geküsst von

Deinem Ernst-Günther

Hamburg, den 15. 9. 56 (Ansichtskarte nach Gelnhausen)

Meine liebe Karin, zum Wochenende möchte ich Dir einen herzlichen Gruß senden. Erinnerst Du Dich noch an das Bild, das sich uns bot, als wir vor einer Woche auf der Lombardsbrücke standen? Gewiss, es war in Natur viel schöner, aber einen kleinen Anhalt gibt die Karte auch. Ich wünsche Dir weiterhin recht viel Freude bei dem Kursus. In drei Wochen bin ich schon wieder im Harz – darauf kann ich kaum noch warten. Bis dahin herzlich, Dein Ernst-Günther

Bad Orb, den 16. 9. 56 (Ansichtskarte nach Hamburg)

Mein lieber Ernst-Günther! Von einem Ausflug hier in der Nähe von Gelnhausen sende ich Dir die herzlichsten Grüße. Es sind hier sehr viele Fachwerkhäuser und enge Gässchen zwischen alten hohen Stadtmauern. Gestern bekam ich Deinen lieben Brief. Recht herzlichen Dank dafür. Morgen werde ich Dir ausführlich schreiben. Herzlichen Dank für die Bilder und viele Grüße, Deine Karin

Gelnhausen, den 17. 9. 56 (nach Hamburg)

Mein lieber Ernst-Günther! Hab recht herzlichen Dank für Deinen lieben Brief, den ich mit großer Freude erhielt. ... Die Bilder von Hamburg sind ja wunderschön, ich habe sie unseren Mädels auch gezeigt. Die Passbilder von mir erkennen sie nicht an, ich trage nämlich die Haare hier geschlossen. Es gibt hier kaum Mädels ohne Knoten. Ich glaube, es würde Dir keine gefallen. ...

Am Sonntag waren wir in der Marienkirche hier im Ort, ein riesiger alter Bau, ganz im romanischen Stil. ... An den Wänden sind alte, handgewebte Wandteppiche mit biblischen Geschichten. Bei der Besichtigung der Kirche bin ich mit unserer jungen Heimleiterin auf den Glockenturm gestiegen. Die anderen waren zu feige. Wir konnten die Stadt nach allen Seiten wunderbar übersehen. ...

Ich könnte Dir noch viel berichten, aber wegen Mangel an Zeit werde ich das lieber mündlich erledigen. Wenn wir noch Zeit haben, wühlen wir in unserer Buchhandlung herum, da gibt es allerhand schöne, interessante Sachen. Ich werde mir ein paar Bücher und Hefte für die Jungschar anschaffen.

Nun sei recht herzlich gegrüßt und geküsst, lieber Ernst-Günther, von Deiner Karin

Gelnhausen, den 18. 9. 56 (Ansichtskarte nach Hamburg)

Mein lieber Ernst-Günther! Ich habe mich toll gefreut, als ich heute so unerwartet Post von Dir bekam. Recht herzlichen Dank. Nun sollst Du von mir noch schnell einen Kartengruß bekommen. Auf dem Bild ist ein Stück von der alten Mauer um die Barbarossaburg, die wir heute besichtigt haben. Dort wurden vor kurzem „Die Räuber“ aufgeführt. Das muss toll gewesen sein. – Nun sei herzlich gegrüßt in Liebe, Deine Karin

Hamburg, den 19. 9. 56

Meine liebe Karin, hab herzlichen Dank für Deinen Brief. Es ist fein, dass Du auf dem Kursus so viel lernst, hörst und siehst. Eins vermisse ich jedoch, nämlich das intensive Miteinander mit den anderen Mädchen und Leiterinnen. Mag sein, dass Du es nur nicht erwähnt hast, aber wenn die Gelegenheit dazu nicht durch viel Freizeit gegeben wird, ist der Kursus schlecht. ...

Doch das nebenbei. Wenn Du Dir die Karte vom 15. 9. aufmerksam angeschaut hast, wirst Du gesehen haben, dass sie in Berlin abgestempelt ist. Ich sehe jetzt Dein erstauntes Gesicht: Berlin? Pass auf: Es gibt in Schlachtensee eine Pfarrerstochter (ca. 17 Jahre), die zutiefst bedauert, ein Mädchen zu sein und nur in Juja und Hosen umher läuft. Ich hatte sie schon darauf angesprochen und versucht, ihr die guten Seiten des Mädchenseins nahe zu bringen. Seitdem schätzt sie mich als älteren Berater.

Neulich sprach Nuddle sie in der gleichen Richtung an. Plötzlich fiel sie ihm weinend um den Hals. Anscheinend ist das Mädchen in ihr mit elementarer Gewalt zum Ausbruch gekommen. Natürlich ließ ihn das nicht unbeeindruckt. Er hat eine feste Freundin, aber ganz anders, sehr spröde und rein logisch. Das sagte er jetzt zu diesem kleinen, weinenden Mädchen und brachte sie behutsam nach Hause. Am nächsten Tag bekam er einen Brief, in dem sie ihn um Entschuldigung bat. Sie habe eben wieder Pech gehabt, sei zu gar nichts nütze und müsse weiter bei ihrem fruchtlosen Sehnen bleiben, da diese Wunde nie heilen werde. ... Nuddle bat mich dringend um Rat. Er wollte sie weder in ihrer Verzweiflung allein lassen, noch ihre Bindung an ihn durch Zuwendung verstärken.

Weil mir die Sache für briefliche Erörterung zu dringend war, trampte ich sofort nach Berlin und war um 24 Uhr dort. Ich sagte ihm von seiner Verantwortung für dieses Mädchen. Die Verantwortung gegenüber ihr hat er glänzend gewahrt, denn nicht viele Jungen würden bei solcher Gelegenheit den nötigen Abstand wahren. Ich meine, er kann diesem Kind, das ja eigentlich schon eine ausgewachsene Frau ist, behutsam klar machen, dass man mit 17 noch keine Torschlusspanik zu haben braucht. Sie muss lernen, vieles in sich zu bewahren und sich den Freund in Ruhe auszusuchen. Es sind wohl alles Dinge, die ihr bisher keiner sagte, und die weiblichen Instinkte, die Du so wunderbar bewiesen hast, hat sie anscheinend bisher vernachlässigst.

Das alles besprach ich in dieser Nacht mit Nuddle und fuhr um 4:30 wieder los. Zum Mittag war ich in Hamburg und konnte meine schon völlig aufgelöste Tante beruhigen. So habe ich in kurzer Zeit allerlei erlebt. – In 2½ Wochen bin ich schon bei Dir. Vielleicht können wir dann auch mal über diese Sache sprechen. Mich interessiert Deine Meinung als Mädchen.

Mein liebes Mädel, es ist schon wieder sehr spät. Sei in Liebe geküsst von Deinem Ernst-Günther

Der Neid, o Kind, zählt unsere Küsse,

drum küss’ geschwind eintausend Küsse.

Geschwind du mich, geschwind ich dich,

geschwind, geschwind, o Mädchen küsse

manch tausend Küsse,

auf dass er sich verzählen müsse!

Gotthold Ephraim Lessing

Hamburg, den 21. 9. 56 (Ansichtskarte)

Meine liebe Karin, zum Wochenende wieder einen herzlichen Gruß mit einem Hamburger Bild. ... Jetzt sind es nur noch zwei Wochen, bis ich zu Dir komme. Ich fange schon wieder an, die Tage zu zählen. Von Montag an werde ich noch in einem neuen Kraftwerk arbeiten, um auch hier einiges zu sehen. Das wird interessant. Herzliche Grüße an Dich, meine Liebe, Dein Ernst-Günther

St. Andreasberg, den 23. 9. 56 (nach Hamburg)

Mein lieber Ernst-Günther! Hab herzlichen Dank für Brief und Karte. Dein Brief war schon am Freitag angekommen. Ich hatte nur den Koffer abgestellt und ihn noch im Mantel gelesen. Meine Mutter saß daneben und fragte ganz ängstlich, ob der Brief sehr dringend sei. Ein wenig verzog sich mein Mund ja doch, als ich von Nuddles Erlebnis las, und ich musste dabei so an meine Schulzeit denken, da hatten wir ähnliche Fälle. ... Ich glaube, wenn dieses Mädchen ihre heimliche Liebe noch nicht allzu lange mit sich herum trägt, wird sie den Schmerz bald überwinden. Ich habe für sie volles Verständnis, denn ich glaube, mit diesen ersten Liebesgefühlen hat wohl jedes junge Mädchen zu kämpfen. Die eine frisst es in sich hinein und lässt sich nichts anmerken, aus der anderen bricht es heraus. ... Die Ratschläge, die Du Nuddle gegeben hast, würde ich für richtig halten. Er sollte ihr bei der nächsten Gelegenheit in der Art begegnen und das Vertrauen wieder herstellen, das einst zwischen ihnen war, damit sie ihm nicht jedes Mal mit einem bedrückten Gefühl entgegensehen muss. ...

Meine Eltern fanden Deine Bilder von Hamburg sehr schön und ich konnte ihnen gut erklären, wo dies und jenes liegt und wo wir waren. Das Mädchen auf den Passbildern fanden sie auch sehr nett, nur meinte meine Mutter, das kann vielleicht die Karin sein, aber Roswitha ist das nicht. Soll ich mich lieber noch mal fotografieren lassen oder siehst Du mich als Karin darauf? ... Lieber Ernst-Günther sei recht herzlich gegrüßt und geküsst, Deine Karin

Besonderen Dank für Dein Gedichtchen.

Hamburg, den 26. 9. 56

Meine liebe Karin, herzlichen Dank für Deinen Brief. Große Freude! Mein Brief war auch so berechnet, dass er Dich bei Deiner Ankunft gleich grüßen sollte, trotzdem brauchtest Du ihn nicht in Hut und Mantel zu lesen. Wenn von Dir Post da ist, ziehe ich mich erst aus und setze mich in einen Sessel, um so richtig mit Genuss lesen zu können. Wenn ich zweimal gelesen habe, stecke ich ihn weg und lese dann nach einer Weile noch ein- bis zweimal.

Von Nuddle habe ich nichts wieder gehört. Jedenfalls freue ich mich, dass Du als Mädchen die Gedanken gut heißt, die ich ihm sagte. Was Du schriebst, hatte ich noch gar nicht überlegt, dass Klarheit notwendig ist, wenn die beiden sich irgendwo sehen.

Meine Meinung zu dem Mädchen auf dem Bild habe ich Dir ja schon geschrieben. Es ist für mich die Karin, das Wesen, das ich von ganzem Herzen liebe, während Roswitha eine Jugendleiterin in St. Andreasberg ist. Von „Karin“ habe ich eine Vergrößerung machen lassen, die immer auf meinem Schreibtisch stehen wird und das zeigt, was auf dem kleinen Bild nur zu ahnen ist. ...

Seit Montag arbeite ich im neuen Hochdruckteil des Kraftwerks Neuhof. Es liegt im Hafen und ich muss, da die Arbeit um 7 Uhr beginnt, schon um 5 Uhr aufstehen. Das ist bitter, aber ich hatte ja darum gebeten, noch für einige Zeit in ein Werk zu kommen. ...

Als ich den Chef darum bat, machte er mir ein gutes Angebot: Ich soll im März bei den HEW anfangen, zunächst noch einmal in der Konstruktion, und dann Bauleiter werden. Das ist ein Gebiet, für das ich schon immer zu haben war, denn es ist vielseitig, bringt jeden Tag etwas Neues, stetigen Kontakt mit den Arbeitern und fordert oft rasche Entscheidungen. Ich habe mir meine Freude nicht anmerken lassen und erbat Bedenkzeit, sie wurde bis Weihnachten gewährt. Die Bezahlung liegt in den ersten Monaten bei 480,- Mark, dann geht es auf 550 bis 600,- Mark. Davon lässt sich leben. ...

Zur Begutachtung Deines Berichtes aus Gelnhausen reicht das Blatt nicht mehr, mein Block ist nämlich alle. Deshalb sei herzlich gegrüßt und geküsst, auch von meiner Tante (nur gegrüßt),

Dein Ernst-Günther

Du bist wie eine Lilie, so hold und schön und rein;

ich schau dich an und Wehmut schleicht mir ins Herz hinein.

Mir ist, als ob die Hände ich aufs Haupt dir legen sollt’,

betend, dass Gott dich erhalte so rein und schön und hold.

Dann weiß ich ganz gewiss, du stehst in höchster Hut;

nie kannst du anders werden, als schön und rein und mir gut.

Heinrich Heine

Am Stocksee, den 29. 9. 56 (Ansichtskarte)

Meine liebe Karin, aus dem letzten Dorf vor dem Stocksee sende ich Dir noch einen Gruß zum Wochenende. Ich habe noch vier Kilometer zu tippeln, ehe ich am Ziel bin. Das ist ganz gesund. ...

Jetzt sind es nur noch sechs Tage, bis ich bei Dir bin. Bis dahin herzlichen Gruß, Dein Ernst-Günther

St. Andreasberg, den 30. 9. 56 (nach Hamburg)

Mein lieber Ernst-Günther! Hab recht herzlichen Dank für Deinen lieben Brief und Gedichtchen. Meine Mutter rief „Karin“, als sie mir den Brief brachte und ich fühlte mich gar nicht angesprochen. ...

Ach, Ernst-Günther, ich freue mich schon riesig, wenn Du wieder hier bist, in fünf Tagen. Natürlich hole ich Dich ab. – Ich habe mir erst mal von meinem Vater die Zusammenhänge in einem Hochdruckkraftwerk erklären lassen, wie viel atü und Grad Dampf dort herrschen. Er hat uns auch Deine Tätigkeit als Bauleiter erklärt. ...

Ich denke schon die ganze Zeit an den Stocksee (ich weiß gar nicht, wo der liegt), an dem Ihr CPer jetzt zusammen sitzt und Eure Gedanken austauscht. Ich kann mir gut vorstellen, dass es Dir Spaß macht. ... Ich habe mir übrigens in Gelnhausen einiges erzählen lassen über den EMP. Wir müssen darüber einmal sprechen. ...

Nun sei recht herzlich gegrüßt und innigst geküsst von

Deiner Karin

Hamburg, den 2. 10. 56

Geliebtes Mädel, hab Dank für Deinen Brief. Er war so richtig geeignet, mich wieder aufzumöbeln, denn ich kam heute ziemlich zerschlagen nach Hause. Nachdem ich mich Samstag und gestern intensiv im Betrieb des alten Mitteldruckteils umgesehen habe, bin ich seit heute in der Montageleitung. Da ging es ziemlich rund. Ich fuhr mit einem jüngeren Bauleiter quer durch Hamburg, erst wieder nach Neuhof, wo die letzte Turbine mit einer Vielzahl von Versuchen auf den neuen Kommandoraum umgeschaltet wurde, dann ging es bis 16:30 noch zu einer Reihe anderer Baustellen. So geht es in den nächsten Tagen weiter, ein kleiner Einblick in meine spätere Tätigkeit als Bauleiter. Aber solchen Posten wünsche ich mir ja. Das waren die Eindrücke der letzten Tage, die ich mir erst mal von der Seele schreiben musste. ...

Der Stocksee liegt zwischen Plön und Bad Segeberg. Es war ein Führerlager des Gaues Förde. Ich kenne Siegfried Keil, den Gauführer gut, er ist einer unserer fähigsten Jungenführer und übernimmt bald die Führung der ganzen Landesmark Schleswig-Holstein. Ich habe nachts lange mit ihm gesprochen, er war verlobt und sein Mädel ist im vorigen Sommer verunglückt. Da war es ihm ein Trost, dass ich ihm von Dietlind und Dir erzählen konnte, dass ein Neues möglich ist, auch wenn man den anderen Menschen noch so sehr geliebt hat.

Seit langer Zeit wachte ich wieder nachts am Kohtenfeuer über die schlafenden Kameraden. Das sind unvergessliche Stunden, in denen man viele Gedanken denkt. Die besten unserer Fahrtenlieder sind in solchen Nächten entstanden. Doch ich wusste, dass das nun für lange Zeit das letzte Mal sein wird. Jetzt ist das Studium wichtig, und wie viel Zeit mir später bleibt, wer weiß es?

Toll war das Erlebnis der jüngeren Führer. Dienst bis zum letzten, trotz Schwierigkeiten in Schule oder Berufsausbildung, dabei Bewusstsein um Notwendigkeit und Forderung zu diesem Dienst – diese Dinge schaffen Kameradschaft. Das ist das Schöne in unserem Bund: man wechselt ein paar Worte und kennt den anderen genau, weil er denkt wie man selber und entsprechend handelt.

Doch genug davon. Ich will heute Abend noch meine Pakete packen, die direkt nach Berlin gehen. Sei von Herzen gegrüßt und in Liebe geküsst (in drei Tagen richtig) von Deinem Ernst-Günther

Erinnerung: 5. – 7. 10. 56 im Harz

Als ob wir uns schon Jahre nicht gesehen hätten, drücken wir uns lange Zeit aneinander und küssen uns, als ich in Silberhütte aussteige, jeder glücklich, den anderen wieder zu sehen und – nicht weniger wichtig – zu fühlen. Neben langen Wanderungen durch den herbstlich werdenden Harz haben wir uns bei diesem Treffen viel zu erzählen, du von dem Kursus in Gelnhausen, ich von dem aufregenden letzten Teil meiner Arbeit in Hamburg, in dem ich vielleicht schon eine Linie für unsere gemeinsame Zukunft gelegt habe. Denn dass wir miteinander in die Zukunft gehen wollen, darüber sind wir uns jetzt ganz sicher. Wir versprechen uns Liebe und Treue für ein gemeinsames Leben und sind uns einig, unser Versprechen bald durch eine offizielle Verlobung auch nach außen zu zeigen. So hat auch dieses Treffen wieder einen besonderen Höhepunkt.

Ich staune, was du alles in Gelnhausen gelernt hast und wie lebendig du davon noch erzählst, obwohl es schon wieder eine Weile her ist. Das wird bestimmt deine Arbeit als Gruppenleiterin fördern. Wir sprechen auch über den EMP. Ich glaube nicht, dass du damit hier anfangen solltest. Man braucht eine ähnliche Gemeinschaft in der Nähe, als Paten sozusagen, und man kann es nicht alleine machen, wenn man selbst neu ist.

Am Sonntag gehen wir zum ersten Mal gemeinsam zum Abendmahl. Es ist für mich tief bewegend, neben dir zu knien und Leib und Blut unseres Herren anzunehmen. Als wir aus der Kirche sind, muss ich dich küssen, einfach als Dank, auch dies gemeinsam mit dir erleben zu können. – Und dann schlägt wieder die schlimme Stunde des Abschieds. Wir sind uns einig, dass wir die Trennungszeiten kürzer halten wollen, koste es, was es wolle.

Berlin, den 10. 10. 56

Meine liebe Karin, endlich kann ich nicht nur an Dich denken, sondern auch schreiben, ... denn jetzt habe ich den Umzug glücklich hinter mir und fühle mich wohl in meiner neuen Behausung. Nepfs Mutter hat mich in volle Pension genommen. Dadurch bin ich zwar etwas knapp an Bargeld, werde jedoch mit dem Lebensnotwendigen gut und reichlich versorgt. Das studentische Hungerleben ist vorbei. Gerade das kann ich im letzten Semester gut gebrauchen.

Bis eben war Bringfried bei mir. Wir haben über vieles gesprochen, was in der langen Zeit, da wir uns nicht sahen, an Fragen aufgetaucht war. Ich bewundere immer wieder die Tiefe seiner Gedanken. Dadurch wird vieles für ihn schwerer als für uns, aber er findet auch Wege, die anderen verschlossen bleiben. Das große Bild von Dir, das jetzt schon in meinem Zimmer steht, gefiel ihm sehr. ...

Geliebtes Mädel, wir haben wieder schöne Tage gehabt. Jedes Zusammensein ist wieder schöner als das davor liegende. Wir können nicht aufhören zu danken für das, was uns geschenkt wird. – Die Schule hat wieder im alten Trott begonnen, richtig deprimierend, nachdem ich in Hamburg weitgehend als fertiger Ingenieur behandelt worden bin. Aber ich werde mich da durchbeißen, besonders, weil ich Dich immer vor Augen habe, an unsere Zukunft denke und so ein greifbares Ziel sehe. ...

Sei von Herzen immer wieder geküsst von Deinem Ernst-Günther

Um den Garten ist ein Zaun,

übern Zaun zwei Äuglein schaun.

Sie schaut her und ich schau hin,

ach wie wird mir da zu Sinn!

Um den Garten ist ein Zaun,

übern Zaun zwei Äuglein schaun.

Ich schau hin und sie schaut her,

wenn ich nur im Garten wär’!

Um den Garten ist ein Zaun,

übern Zaun zwei Äuglein schaun.

Sie schaut her und ich schau hin,

schwupps! – heidi, nun bin ich drin!

Demetrius Schrutz

St. Andreasberg, den 13. 10. 56

Mein lieber Ernst-Günther! ... Ich denke noch viel an unser gemeinsames Wochenende. Jetzt ist schon wieder eine Woche herum und in 14 Tagen sehen wir uns wieder. Ich freue mich schon sehr, Du doch sicher auch, nicht wahr? ...

Ich freue mich, dass Du bei Kroegers ein geregeltes Leben hast. Nur würde ich Dir noch raten, dass Du Dich jetzt vor dem Examen nicht so übernimmst, indem Du Dich für die CP einsetzt, obwohl ich ja verstehen kann, dass Du davon schlecht abkommen kannst. ...

Sei Du, lieber Ernst-Günther recht herzlich gegrüßt und innigst geküsst, schwupps! – heidi, Deine Karin

Berlin, den 13. 10. 56

Geliebtes Mädel, nun ist es schon wieder eine Woche her, dass wir Hand in Hand durch den nassen Wald zogen und immer wieder die Lippen aufeinanderpressten, um uns immer wieder unsere Liebe zu beweisen. Ich bin älter geworden in der kurzen Zeit, da zwischen uns Sehnsucht und Vertrauen gewachsen ist, und Dir ist es, glaube ich, nicht anders gegangen. Wir haben Pläne geschmiedet, wir haben uns entschlossen, bald Ringe zu tauschen und sind froh und dankbar dafür. Wir werden immer weiter so unsere Wege ziehen, uns des Sonnenscheins freuen und Regen und Sturm hinnehmen, wie sie kommen. Wir werden das Hand in Hand tun oder auch aneinandergeklammert, damit uns der Sturm nicht voneinander weg reißt. Wir werden lachen und fröhlich sein oder auch die Zähne zusammenbeißen. Aber eines werden wir niemals: aufhören, uns zu lieben, uns umeinander zu sorgen, füreinander zu beten, uns miteinander zu freuen und gemeinsam zu tragen, was zu tragen ist. Wir werden einst, wenn wir reif genug dazu sind, das größte Geheimnis der Liebe erleben und es wird uns zu noch größerer Treue und Verbundenheit führen. Und wir werden dann, wenn dies Leben erfüllt ist, eingehen in das Reich, das noch größer und schöner ist als unsere Zeit jetzt, selbst im Beieinander liebender Herzen.

Ich weiß nicht, ob Du Dich am Sternhimmel auskennst. Es gibt dort in der Verlängerung der Linie von der Deichsel des großen Wagens über den Polarstern hinweg ein Sternbild namens Cassiopeia, das die Form eines W hat. Immer wenn ich dieses Bild sehe, denke ich an Dich oder besser an uns, denn dieses W verkörpert mir das „Wir“, das langsame Einswerden von uns beiden. ... Unsere Gedanken, sind jetzt schon immer beieinander, wenn auch vorläufig noch wieder und wieder Stunden der Trennung schlagen.

Vorgestern hatten wir eine Aussprache der Landesmark: Ich sollte die Führung für ganz Berlin übernehmen. Nur mit dem Hinweis auf das nahe Examen kam ich davon frei. Ich muss jetzt alles lassen, was mich von der Vorbereitung auf das Examen abhält.

Geliebte Karin, heute war der erste Abend, der mir etwas Ruhe brachte nach der Hetze und dem Betrieb der vergangenen Woche. Ich habe mir einen Gedichtband von Gottfried Keller vorgenommen, keine tiefgreifenden Kunstwerke, aber lieblich in ihrer Art. Seine beigefügten „Grillen“ begeistern mich immer wieder. ... Meine liebe Karin, sei von Herzen geküsst von Deinem Ernst-Günther

Die Fantasie tut wie ein Kind,

das einem Kränze windet,

bald lacht und plaudert mit dem Wind,

bald einen Schwank erfindet

und wunderliche Märchen spinnt,

dann inne hält und traurig sinnt.

Als ich vergangne Mitternacht

in düstren Sinnen schwebte,

da hab‘ ich still und bang gedacht:

Wie, wenn ich nicht erlebte

der nächsten Morgenglocke Schlag?

Wer weiß, was dann geschehen mag!

Da schrieb ich einen langen Brief

an alle, die mich lieben.

Was mir im Herzen wacht’ und schlief,

hab ich hinein geschrieben,

damit beim Scheiden aus der Welt

mein Soll und Haben sei bestellt. ...

Mit grauendem Gedankenspiel

legt ich mich jetzo nieder,

doch bald versanken weich im Pfühl

schlaftrunken Haupt und Glieder.

Die Todesfantasie, ein Schaum

zerfloss in einen Torentraum.

Und dieser auch floh vor dem Tag

und ich erschrak erwachend.

Als ich da – schnell besonnen – lag,

das Leben mich umlachend,

wie war mir wunderlich und fremd

im angemaßten Leichenhemd.

Das Zimmer war voll Sonnenschein

und von der Drossel Schmettern.

Ein Hagel schlug zum Fenster ein

von weißen Blütenblättern.

Der Frühlingsschimmer überzog

den Totenkram, den ich erlog.


Und auch der Brief, den ich gemacht,

war glänzend überzogen.

Ich las nun wieder mit Bedacht

die voll geschrieb’nen Bogen.

Am Ende aber, klar und rein

stand eine Zeile Sonnenschein:

Du magst noch fürder unentwegt

in dieser Lenzluft hauchen;

wie jetzt dein Sein sich hebt und regt,

ist’s drüben nicht zu brauchen.

Es bricht kein Herz so arm und klein,

es muss dem Tod gewachsen sein!

Doch baue nicht zu lang darauf!

Gott wird uns Tage senden,

die mit verdoppelt schnellem Lauf

die schwerste Arbeit enden,

wo mancher Geist, der sinnt und schweift,

im Sturm dem Tod entgegen reift!

Gottfried Keller

Berlin, den 16. 10. 56

Meine liebe Karin, hab‘ herzlichen Dank für Deinen lieben Brief. Ich rechnete noch gar nicht damit, Post von Dir zu bekommen. ...

Vorgestern war ich tanzen. Nuddle ging mit seiner Freundin und lud mich ein, ihn mit seiner Schwester zu begleiten. Ich wollte erst nicht, aber dann ging ich doch mit ihr. Den Rückweg nutzte ich zu einem Gespräch, das ich schon lange führen wollte. Ich war ja in den letzten Jahren oft, manchmal täglich bei Familie Scholz. Ich wurde zum Essen eingeladen, die Mutter wusch und flickte meine Wäsche. Sie nennen mich ihren „Vizesohn“. Da konnte leicht der Eindruck entstehen, nicht nur Nuddle, sondern auch Christa könne der Grund meines Kommens sein. Und dass ich mit ihr tanzen ging, konnte diesen Eindruck noch verstärken. Ich bat sie also, den Abend als unverbindlichen Ausgang mit irgend jemandem anzusehen und erzählte ihr, bei Dietlind ausgehend, die sie gut kannte, von Dir. Sie sagte, sie habe mein Kommen immer nur als für Nuddle geltend aufgefasst, aber wer kennt sich schon in den Herzen von Mädchen aus? Vielleicht hat sie sich nach Dietlinds Tod Hoffnungen gemacht, sie aber nie artikuliert. Nun, wie dem auch sei, ich habe getan, was ich für notwendig hielt und kann sie jetzt unbesorgt bei ähnlicher Gelegenheit ... entführen. Ich hoffe, dass Du nichts dagegen hast.

Übrigens habe ich mich ... bei einem Tanzkurs angemeldet. Ich habe immer wieder beim Tanzen mit Dir gemerkt, wie wenig ich noch kann. ... Deine Sorge, dass ich zu viel für die CP tue, hat ihre Berechtigung, zumindest von Dir aus gesehen. So gut kennst Du mich schon, dass ich noch immer sehr drin stecke. Aber ich schrieb Dir ja, dass ich weitere Aktivitäten abgelehnt habe. ...

Im Augenblick liegt erst einmal das übernächste Wochenende vor uns, das wieder ein ganz besonderes Fest werden wird. Ach Mädel, dieses Sehnen nach Deiner Nähe, Dein feines Gesicht zu sehen, mit Dir zu sprechen, Dich zu küssen, ist schön und grausam zugleich. Schön, weil Erinnerung und Hoffnung ineinander übergehen; grausam, weil es doch bloß Träume, bloß Gedanken sind. Nun, in zehn Tagen sind die Träume wieder einmal Wirklichkeit. Wir wollen immer wieder Gott danken, dass er das möglich macht.

Geliebte Karin, bis dahin sei herzlich gegrüßt und schwupps! – heidi! immer wieder geküsst von Deinem Ernst-Günther

Ein kleines grünes Beerlein stand

zur Sommerzeit am Waldesrand.

Da kam die Sonne, die Sonne!

Lacht’s an so lieb und wundersam,

da wurde das Beerlein ganz rot vor Scham

und senkt erschrocken das Köpfchen.

Ein Mädchen hüpft den Wald entlang,

ihr Antlitz lacht und ihr Aug’ ist blank

und hell wie die Sonne, die Sonne!

Sie sieht das Beerlein rot und rund,

pflückt’s ab und steckt’s in den schwellenden Mund

und wirft in den Nacken das Zöpfchen.

Der Mund ward vom Beerlein so süß und rot

und so heiß, als ob ihr im Herzen loht

die leuchtende Sonne, die Sonne!

Und fragt ihr, woher ich dies alles wüsst’,

ich hab ja das Mädchen im Walde geküsst,

ein allerliebstes Geschöpfchen.

H. Spielmann

St. Andreasberg, den 18. 10. 56

Mein lieber Ernst-Günther! Hab recht herzlichen Dank für Deinen lieben ausführlichen Brief und für Deine Grillen. Die Fantasie, die Gottfried Keller in dem Gedicht zusammen spinnt, mutet mir gar nicht so fremd an. Mir ist es selbst schon so gegangen, dass ich mir einbildete, ich würde nicht mehr lange leben. ... Ich konnte mir einfach nicht denken, dass ich all das Schöne, was die Natur einem bietet, noch lange erleben würde und nahm alles sehr bewusst in mich auf. Dieser Wahn zog sich über etliche Tage hin. Ich sagte mir ständig, dass es Unfug sei, kam aber nicht davon los, bis ich dann ganz ich selber war und mich wunderte, wie ich überhaupt solche Gedanken haben konnte. Die letzten beiden Strophen in dem Gedicht sind ja die wichtigsten und eine gute Antwort. ...

Nun aber genug davon, sonst träume ich nachts noch davon. Wenn ich träume, dann die unwahrscheinlichsten Sachen. In der letzten Nacht habe ich von Dir geträumt, Du hättest Dich entschlossen, jetzt kurz vor Deinem Examen noch zwei Jahre in eine Lehre zu gehen. Ich konnte das kaum fassen. Das ist ja auch toll, nicht wahr?

Lieber Ernst-Günther, das große W am Sternenhimmel war mir bekannt, nur wusste ich nicht, dass es Cassiopeia heißt. Das ist ja genau so schön wie Boccaccio. Da ist „Wir“ doch schöner zu sagen und dann wissen wir auch, was das heißt. Leider war die Tage kein sternenklarer Himmel, sonst hätte ich es noch mal gesucht. ...

Übrigens Hut ab vor so viel Ehre, dass sie Dir die Führung für ganz Berlin geben wollten. Es ist nur gut, dass Du vernünftig bist und Dich jetzt in dem letzten halben Jahr davon frei machst.

Mein lieber Ernst-Günther, es ist schon spät. Sei recht herzlich gegrüßt und geküsst von Deiner Karin

Berlin, den 21. 10. 56 W

Meine liebe Karin, wenn Du jetzt Geburtstag hast, so wird Dir von vielen Seiten gratuliert werden. Man wird Dir Erfolg und Glück wünschen, man wird vielleicht sogar sagen, Du könntest stolz sein, dass Du jetzt volljährig bist. Diejenigen, die sich nicht so viel Mühe machen, werden wenigstens eine vorgedruckte Karte senden. Auf jeden Fall werden alle überzeugt sein, Dir mit ihren Glückwünschen und Gratulationen eine Freude gemacht zu haben.

Im Allgemeinen werden die Geburtstage ja auch unter diesem Gesichtswinkel gefeiert. Eines wird meist vergessen: Dank. Dank Gott gegenüber, dass er einen bis zu diesem Punkt gnädig und letztlich voller Liebe geführt hat. Daraus leitet sich dann der Dank den Menschen gegenüber ab, die als Gottes Werkzeuge zwar, aber doch nach eigener Entscheidung Hilfestellung geleistet haben, dass dieser Punkt erreicht wurde. Gott danken wir zuweilen in einer Stunde der Besinnung. Danken wir auch jenen Menschen, z. B. den Eltern? Wenn der Geburtstag ein Ehrentag ist, dann doch vor allem für sie!

Wenn man diese Dinge bedenkt, kann man sich auch einiges wünschen lassen zu dem neu beginnenden Lebensjahr. Und das will ich jetzt tun. Glück und Reichtum wünsche ich Dir nicht, Erfolg nur bedingt. Wer Gottes Führung anerkennt, kann kein „Glück“ oder „Pech“ bejahen. Reichtum ist eine sehr zweifelhafte Sache. Leute, die ihn nicht haben, sind besser dran, weil ihnen die Überlegung erspart bleibt, ihn verantwortlich zu gebrauchen. Und Erfolg? Worin? Doch höchstens in der Erfüllung des Lebensauftrages, der auf irgend eine Art jedem gestellt ist. Diese Art von Erfolg können wir uns allerdings immer wieder nur wünschen. So will ich es auch tun.

Ich wünsche Dir weiter, dass in Deinem weiteren Leben eine gute Portion Freude neben all dem Schweren vorhanden ist, das es auf jeden Fall gibt. Möge es so viel Freude sein, dass Du immer noch anderen abgeben und sie dadurch ebenfalls froh machen kannst.

Alsdann wünsche ich Dir Erkenntnis Gottes und seines Willens, wie auch seiner Christusbotschaft. Ich schreibe das nicht, weil ich mir darüber schon völlig klar wäre, sondern weil jeder von uns diese Erkenntnis bitter nötig hat. Das spüre ich ja am eigenen Leibe, dieses verzweifelte Suchen und nur stückweise Finden.

Aber der wichtigste Wunsch ist Liebe. Einmal, dass Dir immer viel Liebe gegeben wird, wie sie jeder Mensch zum Leben braucht. Ich hoffe, dass der Hauptanteil hier von mir kommen wird. Zum anderen aber, dass auch Du immer noch mehr die Fähigkeit gewinnst, Liebe auszustrahlen. Denn Menschen, die das können, gibt es sehr wenige, aber sie werden so dringend gebraucht. „Was hilft es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und hätte der Liebe nicht!“

Es gibt noch viel zu wünschen, ich will nur noch einen Wunsch aussprechen, der überdies reichlich egoistisch ist: dass wir beide uns immer näher kommen und uns gegenseitig höher führen, dass stets Ehrlichkeit und Vertrauen zwischen uns selbstverständlich ist und dass Liebe und Treue ständig nur größer und weiter werden. Dabei möchte ich Dich an die Cassiopeia erinnern, das große „Wir“, auf das unsere beiden „Ich’s“ zusteuern. Und wenn wir jetzt noch warten müssen, so steht doch dieses „Wir“ als Ziel vor jedem von uns, das täglich näher rückt. Es rückt genau so näher, wie die Stunden des Wiedersehens und des Abschieds näher rücken. So sehen wir uns schon am Ende dieser Woche wieder, und die drei Wochen, die dazwischen lagen, sind wie im Fluge vergangen. Nun wollen wir sehen, dass diese Tage wieder schön werden und wir sie recht nutzen.

Leider bekomme ich wieder keinen Wagen, so dass ich bis Helmstedt trampe und Freitag Nachmittag oder Abend bei Dir bin. Ich muss dann auch schon am Sonntagmittag wieder los wie vor drei Wochen. Das soll uns aber nicht stören, wir können auch zu Fuß froh miteinander sein. – Sei noch recht herzlich bedankt für Deinen lieben Brief. Ich werde ihn mündlich beantworten. Und nun, geliebtes Mädel, sei von Herzen gegrüßt und in Liebe geküsst – in ein paar Tagen nicht mehr nur brieflich – von Deinem Ernst-Günther

Menschenseele, Menschenliebe, Spielgenossen, selig Paar,

werdet je des alten Spiels ihr müde werden? Nimmerdar!

Ob Jahrtausend nach Jahrtausend durch die Welten wandeln mag,

immer wo die Liebe aufbricht, ist der erste Schöpfungstag!

Ernst von Wildenbruch

St. Andreasberg, den 22. 10. 56

Mein lieber Ernst-Günther! Hab‘ recht herzlichen Dank für Deinen lieben Brief und die süßen Erdbeeren. Ich wollte Dir gestern schon antworten, aber es klappte nicht. Wenn ich auch nicht immer schreiben kann, in Gedanken bin ich doch fast immer bei Dir. Dass Du am vorletzten Sonntag tanzen warst, daran hatte ich natürlich nicht im geringsten gedacht. Es hat Dir hoffentlich gefallen, obwohl Du erst keine Lust hattest. Zu der Zeit bin ich bei uns im Regen spazieren gegangen, das tat mir sehr gut. ... schön, dass Du noch Fortschrittsunterricht nimmst. Wenn es das hier gäbe, würde ich auch mit machen. Jedenfalls bist Du in ein paar Tagen wieder hier, darauf freue ich mich schon die ganze Zeit. ... Jetzt werde ich erst mal aufhören zu schreiben, mein Papier ist alle. Das habe ich erst gemerkt, als ich zu schreiben anfing. Die Tinte ist auch alle. Tolles Geschmiere, entschuldige bitte.

Sei nun herzlich gegrüßt und geküsst bis Freitag von

Deiner Karin

Erinnerung: 26. – 28. 10. 56 im Harz

Unsere Liebe ist reifer und wärmer geworden aus der Sicherheit heraus, dass der andere unbedingt für einen da ist. Trotzdem versichern wir uns immer wieder, wie sehr wir uns lieben, wenn wir nicht gerade die Lippen aufeinander drücken und die Zungen abwechselnd in unseren Mündern spielen lassen. Immer wieder muss ich dich dabei anschauen, so schön ist dein edles Gesicht mit diesem beseligten Schimmer der Liebe und des Glücks. In diesen Augenblicken gibt es doch Glück, auch bei mir!

Neben langen Streifzügen durch den Wald feiern wir deinen Geburtstag nach. Am Abend zeige ich dir die Cassiopeia, unser großes „Wir“. Unter fortwährenden Küssen annektieren wir dieses Symbol für unser gemeinsames Leben. Es wird auch unsere Ringe zieren. Wir vereinbaren unsere Verlobungsfeier für die Jahreswende bei euch in St. Andreasberg. Über Weihnachten werde ich bei Tante Friedel sein und dann noch vor Silvester zu euch kommen.

Als ich dir sage, dass ich bei deinen Eltern schriftlich um deine Hand anhalten werde, bekomme ich dein klingendes Lachen zu hören, das ich so liebe. Ich bin ja sonst nicht für Konventionen dieser Art, aber ich glaube, deine Eltern werden sich darüber freuen.

Immer noch lachend erzählst du mir, dass du dir eigentlich geschworen hattest, nie einen Ingenieur zu heiraten, weil dein Vater, der ja auch diesen Beruf hat, in der schlechten Zeit in eurem Zimmer Radios reparierte und zum Abstimmen der Sender immer wieder die Rückkopplung pfeifen lassen musste. Ich bin richtig stolz, dass du meinetwegen diesen Vorsatz aufgegeben hast.

Wieder gehen wir am Sonntag zum Gottesdienst und anschließenden Abendmahl. Diese Gemeinschaft im Glauben ist uns inzwischen wertvoll geworden. Es ist gut zu wissen, dass jeder von uns für den anderen betet. Und wieder müssen wir uns schon gleich nach dem Mittag voneinander losreißen, schweren Herzens, aber auch froh im Bewusstsein, zu lieben und geliebt zu werden.

Berlin, den 29. 10. 56 W

Geliebtes Mädel, jetzt bin ich schon 24 Stunden zu Hause und ersaufe im Wust der Arbeit. Da ich aber schon übersehen kann, dass ich nicht alles schaffe, kann ich Dir getrost zwischendurch schreiben. Wenn doch dieses Semester erst vorbei ist! ...

Karin, es war wieder wunderschön bei Dir. Ich habe auf der ganzen Rückfahrt an Dich gedacht. Aber alle Gedanken münden letztlich immer wieder in den gefalteten Händen: Dank und Bitte. Dank für alles Schöne, Bitte für Dich und für uns beide. Und das Wissen, dass Du genau so für mich die Hände faltest, ist eine große Hilfe in dem, was täglich auf mich einstürmt. Allerdings gehört zu allen Bitten immer das „Dein Wille geschehe!“, natürlich aus dem Vertrauen heraus, dass dieser Wille doch das Beste ist, was geschehen kann, wenn es uns auch seltsam oder hart erscheint. Es ist doch so, dass man jeden Augenblick damit rechnen muss, hier abgerufen zu werden oder einen geliebten Menschen zu verlieren. Deshalb hat man einerseits die Pflicht, seine persönlichen (auch gewissensmäßigen) Angelegenheiten immer völlig in Ordnung zu halten – und das hat nichts mit den „Grillen“ zu tun – und zum anderen muss man darauf vorbereitet sein, plötzlich allein in der Welt zu stehen. Du weißt, ich habe das schon erlebt. Gerade daher habe ich diese Einstellung zum Tode gewonnen, der nicht grausam zuschlägt (wenn das auch der erste Anschein ist), sondern aus Gottes gutem Plan heraus seinen Auftrag erfüllt. Ich sagte einmal zu Dir, wenn mir etwas zustoße, solltest Du daran nicht zu Grunde gehen. ... Ich bitte Dich, dann mit allen Kräften an den Aufgaben des Lebens zu bleiben. Sei es der ... Dienst an anderen, sei es später die Erziehung der Kinder, es gibt immer genug zu tun, wodurch zum Trübsal blasen keine Zeit und zum Hadern keine Veranlassung ist. Das musst Du mir versprechen.

... Nuddle fragte mich heute, ob das Ablehnen jedes anderen Kontaktes bei einer bestehenden Freundschaft nicht eine Vogel-Strauß-Politik sei aus Angst, von einem stärkeren Eindruck überwältigt zu werden. Sein Mädchen hatte dies Thema angeschnitten. Ich widersprach zunächst dem „Ablehnen jedes anderen Kontaktes“. Man soll sich ruhig freuen, dass es noch andere nette Menschen gibt, und bis zu einer gewissen Grenze Kontakte eingehen. ...

Mein liebes Mädel, ich habe heute nur doziert. Nun tue Du das Gleiche. Denn die geistige Auseinandersetzung gehört ebenso zu den Grundlagen fruchtbarer Gemeinschaft wie die notwendige Liebe. Dahin gehört auch die Anregung, mehr zu lesen, die ich einmal vor vielen Jahren von Bringfried bekommen habe. Wir sind auch für Leib und Geist vor Gott verantwortlich, nicht nur für die Seele.

Meine liebe Karin, mir fallen jetzt schon die Augen zu. Sei in Liebe gegrüßt und heiß geküsst von Deinem Ernst- Günther

Ich bin dein, du bist mein.

Des sollst du gewiss sein.

Du bist beschlossen in meinem Herzen.

Verloren ist das Schlüsselein.

Nun musst du immer darinnen sein!

Wernher von Tegernsee (1170)

St. Andreasberg, den 1. 11. 56 W

Mein geliebter Ernst-Günther! Es ist heute schon ½1 Uhr. Ich habe mich lange mit meiner Schwester unterhalten. Es ist eine Wohltat, uns ein bisschen auszuplaudern, wo wir uns so selten sehen. ...

Lieber Ernst-Günther, recht herzlichen Dank für Deinen Brief und das Gedichtchen, ich bin erstaunt, aus dem 12. Jhdt. Ein so kleines zartes Gedicht würde ein heutiger Dichter wohl kaum zustande kriegen. Ich habe ja über das Veilchen gestaunt, presst Du Blumen?

Jetzt zu Deiner Frage mit der Vogel-Strauß-Politik. Wie alt ist denn das Mädchen? Ich habe wohl vor einiger Zeit darüber nach- aber nicht zu Ende gedacht. Es ist eine heikle Angelegenheit, ob man jeden anderen Kontakt ablehnen soll, wenn man gebunden ist. Ich meine, es kommt auf die einzelnen Menschen an, manche lassen alles so zügellos dahin gehen, andere wissen genau, was sie voneinander zu halten haben und wollen nur Freundschaft, Verstehen und Vertrauen. ...

Mein lieber Ernst-Günther, ich werde jetzt schlafen gehen. Du Armer musst abends auch noch so lange sitzen. Aber die Zeit vergeht jetzt bestimmt schnell, kein halbes Jahr mehr. ... Lieber Ernst-Günther, sei recht herzlich geküsst von Deiner Karin

Berlin, den 4. 11. 56 W

Meine liebe Karin, wir sitzen stündlich vor dem Radio und verfolgen die erregenden Vorgänge auf der Erde, ein Geschehen, das sich von der Schilderung des jüngsten Tages kaum noch unterscheidet. Kein Mensch weiß, wie sich die Ereignisse ausdehnen werden. Vielleicht bricht morgen schon in der Zone ein Aufstand los und Berlin wird „zum Schutze der Volksdemokratie“ von den gleichen Panzern überrollt, die im Augenblick Budapest bombardieren.

Ich danke Dir für Deinen lieben Brief. Ein paar Worte zur Antwort: Nuddles Freundin ist 18 Jahre alt und groß im geistigen Durchdenken theoretischer Probleme, praktische Erfahrung fehlt völlig. So konnte sie zwar jene Frage stellen, aber zu einer befriedigenden Antwort fehlen ihr alle Voraussetzungen. Ich will versuchen, meine Ansicht dazu zu formulieren: Jeder Mensch sollte andere Kontakte haben dürfen, ob er gebunden ist oder nicht: Solange keine feste Bindung besteht, ist es eine Vogel-Strauß-Politik, wenn man nicht auch in anderer Richtung die Augen offen hält, aus Angst, einen stärkeren Eindruck zu empfangen. – Besteht aber eine feste Bindung (Versprechen, Verlöbnis und natürlich die Ehe), ist es mangelndes Vertrauen in die eigene Willenskraft, jeden anderen Kontakt abzulehnen. Ebenso ist es mangelndes Vertrauen zum Partner, ihm eifersüchtig alle anderen Kontakte zu überwachen oder zu beschneiden. Dabei muss man

1. ganz genau die Grenze wissen,

2. alle wertlosen Kontakte unterlassen bzw. abbrechen,

3. alle Kontakte eingehend mit dem Partner besprechen.

Dazu gehört, dass man in aller Offenheit miteinander spricht, wenn man einmal die Grenze überschritten hat, aber auch, dass jeder von beiden bereit ist, dem geliebten Partner solche Grenzüberschreitung zu vergeben, wenn es ihm wirklich Leid tut. Kein Mensch ist stets unfehlbar, und „Liebende leben von der Vergebung“. ... Ich schreibe all dies ja nur aus theoretischer Überlegung. Ich habe bisher nur einmal danach gehandelt und bin gut damit gefahren, als Ingrid um mich warb, obwohl ich mit Dietlind liiert war. Ich erzählte Dir davon. Ich weiß auch, dass in unserem Leben Dinge auf uns zukommen werden, die unbedingte Gemeinsamkeit fordern, denn wo Glaube ist, steht die Versuchung nicht fern. Wir werden gemeinsam auch diese Schwierigkeiten meistern.

Gestern holte ich die Tanzstunde nach, die ich neulich bei Dir versäumt habe. Doch die Mädchen in dieser Gruppe waren schauderhaft: aufgedonnert und plump-vertraulich. – Ich habe mich so nach Dir gesehnt, weil mir wieder bewusst wurde, weshalb ich Dich liebe: Deine gerade, offene Art, Deine natürliche Schönheit, Dein trotz des beweglichen Geistes unkompliziertes und ungekünsteltes Wesen, Deine Bereitschaft zu Dienst und Hilfe, wo es notwendig ist – es gibt halt nicht viele Mädchen Deiner Art. Deshalb bin ich ja auch immer wieder froh, dass wir uns gefunden haben. Und die Zeit, bis wir ganz füreinander da sein können, geht auch vorüber. ...

Geliebtes Mädel, ich grüße Dich von Herzen und sende Dir viele, viele Küsse, die auch von Herzen kommen, Dein Ernst-Günther

Wenn die Zeit auch schwer ist, wenn die Welt auch leer ist

an Liebe und an Gut, behalten wir den Mut

und lieben uns noch mehr. Dann ist es nicht so schwer.

Gemeinsam woll’n wir wagen, das was uns wird, zu tragen.

St. Andreasberg, den 6. 11. 56 W

Mein lieber Ernst-Günther! Du sollst zum Freitag noch Post von mir bekommen, da Du zum Wochenende nach Kassel fährst. ... Es ist furchtbar, was man über die schweren Kämpfe in Ungarn und Ägypten erfährt. Wir können ja nicht helfen, wir können nur immer wieder Gott bitten, dass er diesem Leid bald ein Ende machen möge und dass dieses Morden nicht noch größere Kreise in der Welt zieht. ... Wir können dankbar sein und uns freuen, solange wir davon verschont sind, denn wir wissen ja noch gut, was ein Krieg bedeutet.

So, nun mal etwas anderes. Ich habe in der letzten Zeit so eine Lust zum Basteln bekommen, vielleicht, weil es auf Weihnachten zu geht. Weißt Du, ich möchte mir jetzt ein kleines Blumenhockerchen bauen, mit drei Bambusbeinchen. Ich finde, das ist mal etwas anderes. Ich finde Bambus- und Bastsachen besonders schön. ...

Mein lieber Ernst-Günther, ich wünsche Dir eine gute Reise und dass Du dort auch etwas erreichst als einziger aus Berlin. Sei recht herzlich geküsst, mein Guter von Deiner Karin

Kassel, den 11. 11. 56 (Ansichtskarte) W

Meine liebe Karin, herzlichen Gruß aus Kassel. Die Stadt ist nicht besonders schön, aber vor lauter Arbeit und Tagung stört das nicht. Vielen Dank für Deinen Brief, der pünktlich am Freitag ankam. Es geht jetzt weiter, lass Dich herzlich grüßen, ich schreibe bald wieder aus Berlin. Dein Ernst-Günther

St. Andreasberg, den 12. 11. 56 W

Mein lieber Ernst-Günther! Ich bin gerade aus dem Kino gekommen. „Tempel der Versuchung“ habe ich mir angesehen. Es handelt sich um die Geschichte vom Verlorenen Sohn. Der Film ist sehr packend und gibt einem viel zum Nachdenken auf. ... Nun endlich zu Deinem Brief. Recht herzlichen Dank und auch für das liebe Gedicht. Das hast Du doch sicher in schwerer Stimmung nach den Nachrichten geschrieben? Das kann ich mir gut vorstellen. Es sah ja in der letzten Zeit schlimm in der Welt aus. ... Lieber Ernst-Günther, Deine Karte aus Kassel habe ich heute früh erhalten, vielen Dank.

Deinen Brief an meine Eltern habe ich gelesen, ebenfalls den Brief, den meine Mutter an Dich geschrieben hat. Ich habe vor Magenschmerzen gar nichts essen können, wie albern, nicht wahr? ...

Ich überlege schon seit einiger Zeit, wenn ich mit Steno und Schreibmaschine einigermaßen perfekt bin, mir etwas in einer Stadt zu suchen. Als Ziel habe ich mir das Frühjahr gesetzt, früher wird es kaum etwas werden. Ich hatte schon an Hamburg gedacht, bevor ich dort bei Dir war. Falls Du nach dem Examen dort hin gehst, sollte etwas daraus werden. Leider hapert es da meist an einer Wohnung.

Lieber Ernst-Günther, während Du in Kassel warst, saßen wir Gruppenleiter bei unserem Pfarrer und seiner Frau gemütlich beisammen. Es war sehr nett. Wir sprachen über viele Dinge und hatten eine kleine Abwechslung in unserem geistigen Bereich. ...

Mein lieber Ernst-Günther, sei für heute recht lieb gegrüßt und geküsst, Deine Karin

Berlin, den 15. 11. 56 W

Meine liebe Karin, hab herzlichen Dank für Deinen Brief. Ich will heute noch schreiben, damit Du über Sonntag nicht ohne Nachricht von mir bist. Sonst bin ich heute völlig fertig, denn wir hatten von

8 bis 15 Uhr einen Versuch im Elektrolabor. ...

Wenn Du die Korrespondenz zwischen Deinen Eltern und mir gelesen hast, brauche ich Dir die Antwort ja nicht mehr mitzuteilen. Ich bin dann jedenfalls dafür, als Verlobte ins neue Jahr zu gehen, d. h. am Silvester in einer ganz kleinen Feier die Ringe zu tauschen.

...Ich finde es gut, dass Du in eine große Stadt willst. Wenn Du mit dem Gedanken spielst, nach Hamburg zu kommen, ist auch alles in Ordnung. Es wäre ja ein bissel bequemer für uns, wenn nicht auf ewig 300 km zwischen uns lägen. Aber das hat ja noch Zeit. ...

Die Fahrt nach Kassel hat gut geklappt. Montag früh um 4:30 war ich zu Hause und musste um 6 Uhr für die Schule wieder aufstehen. ... Ich hatte eines der wesentlichen Referate zu halten über das Verhältnis zwischen Gruppe, Stamm und der größeren Gliederung des Gaues. Ich freue mich immer wieder, mit dem, was ich in meinem Stamm erprobt habe, auch anderen Hinweise geben zu können.

Hier ist die politische Spannung vorbei und die Radaublätter bringen wieder Mord und Totschlag auf der ersten Seite. Trotzdem wollen wir das Geschehene als Lehre betrachten. ... Wir sind ja nur haarscharf an einem furchtbaren, vernichtenden Krieg vorbeigekommen. Wir wollen versuchen, zu begreifen und auch anderen klar zu machen: Es gibt keine Sicherheit, die materiell begründet wäre. Geld, ein Haus, die Existenz, die Gesundheit, geliebte Menschen, alles kann morgen dahin sein. Es gibt nur eine Gewissheit, das ist Gottes Wirken in der Welt und die Zukunft seines Reiches.

Ich habe mich gefreut, als Du vom Basteln schriebst. Ich freue mich über alles, das angetan ist, die Eintönigkeit Deiner Beschäftigung dort zu brechen. Und da ich ja auch etwas praktisch veranlagt bin, freue ich mich über Bastelarbeiten am meisten. Ich glaube, damit kannst Du auch die Mädchen in Deinem Kreis begeistern. ...

So, nun ist es schon wieder spät, ich grüße Dich von Herzen und sende Dir viele Küsse, Dein Ernst-Günther

Berlin, den 17. 11. 56 (Ansichtskarte) W

Meine liebe Karin, nun ist schon wieder ein Wochenende da und in 14 Tagen sehen wir uns wieder. Hoffentlich klappt es bei Dir mit dem Auto, sonst hole ich Dich Freitag Abend von Braunschweig ab. Heute Nachmittag gehe ich ins Theater: „Das Tagebuch der Anne Frank“. Ich habe das Buch gelesen, erschütternde Aufzeichnungen eines 13 – 15-jährigen jüdischen Mädchens, das mit der ganzen Familie zwei Jahre in Holland vor der Gestapo versteckt lebt. ...

Herzlichen Gruß und Kuss, Dein Ernst-Günther

St. Andreasberg, den 20. 11. 56 W

Mein lieber Ernst-Günther! Recht herzlichen Dank für Deinen lieben Brief und Deine Karte, die ich gestern erhielt. Wenn ich komme, und das ist ja schon in 1½ Wochen, werde ich mir mal Dein Zimmer ansehen. (Du brauchst aber nicht erst gründlich aufzuräumen, ich bin allerhand gewohnt.) ... Sonntag war ich im Kino: „Vor Sonnenuntergang“. Ein reicher Fabrikbesitzer, dessen Frau gestorben ist, will mit dem Leben Schluss machen, weil er mit seinen Kindern nicht mehr klar kommt, die nur sein Geld sehen und sich sonst entfremdet haben. Da stößt er auf eine Sekretärin, die ihn ermutigt, wieder aufzusehen und völlig selbstlos daran arbeitet. Daraus entsteht eine Liebe zwischen beiden, worauf die Kinder ihn entmündigen lassen wollen. Bei einem Anfall von Erregung stirbt er. ...

Lieber Ernst-Günther, ich schreibe Dir bald genau, wann ich komme. Wenn Du wüsstest, wie ich mich freue. Du auch?

Mein lieber Ernst-Günther, sei von Herzen gegrüßt und geküsst von Deiner Karin

St. Andreasberg, den 23. 11. 56 (Ansichtskarte) W

Mein lieber Ernst-Günther! Noch schnell einen Gruß von mir zum Wochenende. In einer Woche ist es dann so weit. Ich komme am Samstag gegen 11 Uhr in Zehlendorf an, um 6 Uhr fahren wir hier los. Ich freue mich schon riesig. Du sicher auch, ja?

Lieber Ernst-Günther, sei von Herzen gegrüßt von Deiner Karin

Zwei von Deinen Geburtstagsnelken sind noch ganz frisch.

Berlin, den 24. 11. 56 W

Meine liebe Karin, hab herzlichen Dank für Deinen Brief, auf den ich schon sehnsüchtig gewartet habe. ... Das Theaterstück am vorigen Sonntag war erschütternd. Es stellt in noch viel stärkerem Maße als das Buch das Leid und die Probleme dieser beiden versteckten jüdischen Familien dar, aber auch die inneren Schwierigkeiten des 13- bis 15-jährigen Mädchens, um deren Tagebuch es sich bei dem ganzen handelt. Es ist ein Stück, das jeder Deutsche gesehen haben muss, damit solche Dinge, wie sie in jenen zwölf Jahren geschahen, nie wieder vorkommen können. Es ist unermesslich, was wir als Volk für eine Schuld auf uns geladen haben. Das Stück war auch schauspielerisch eine Glanzleistung, so gespielt, dass man die Schauspieler völlig vergaß. ... Geliebtes Mädel, sei für heute herzlich gegrüßt und geküsst von Deinem Ernst-Günther

St. Andreasberg, den 26. 11. 56 W

Mein lieber Ernst-Günther! Hab‘ recht herzlichen Dank für Deinen Brief. Du Ärmster musst ja sehr überlastet sein, dass Du schon nachts Deine Schulaufgaben erledigst. Ich glaube, dass Du in Deinem Leben wenig zur Ruhe kommen wirst, denn später bist Du im Beruf noch mehr eingespannt als jetzt während des Studiums, und nach Dienstschluss beginnt dann das Privatleben, das auch wieder in zwei Gruppen eingeteilt wird. Nun, ich werde mein bestes dazu tun, um Dir tatkräftig zur Seite zu stehen. ...

Am besten fahre ich direkt zu meiner Tante. Um 11:30 treffen wir uns bei Bringfrieds Eltern. Wir müssen sehen, dass wir dann gleich los kommen, damit uns nicht so viel Zeit verloren geht.

So, lieber Ernst- Günther, für heute werde ich schließen, ich muss noch eine Erkältung auskurieren. Sei nun von Herzen gegrüßt, mein Lieber und ebenso von Herzen geküsst von Deiner Karin

Erinnerung: 1. – 2. 12. 56 in Berlin

Die Begrüßungsküsse können wir mit unserer ganzen Leidenschaft erst in meinem Zimmer austauschen. Vorher machen wir in Zehlendorf Mitte Halt, das du unbedingt wiedersehen willst, und besuchen deine alte Chefin. Sie freut sich, dich wieder zu sehen.

Leider muss ich dich nach einigen Besuchen am Abend bei deiner Tante abgeben. Als Bettlektüre schenke ich dir den „Südkurier“ von St. Exupery. Ich würde dir viel lieber sein schönstes Buch, den „Kleinen Prinz“ geben, das ich Dietlind kurz vor ihrem Tode geschenkt und von ihrer Mutter zurück erbeten habe. Aber aus einer dunklen Angst heraus wage ich das nicht. Du kannst es bei mir lesen.

Wir streifen durch den Grunewald, gehen am Sonntag in die Kirche und sprechen über unsere gemeinsame Zukunft, die wir ganz klar vor uns sehen: mein Examen im Frühjahr, ich ziehe nach Hamburg und arbeite bei den HEW, du kommst bald nach, wir suchen uns eine Wohnung, spätestens Ende des Jahres heiraten wir.

Nachdem wir bei mir zu Hause Abendbrot gegessen haben, ist es nach vielen heißen Abschiedsküssen schon wieder Zeit, dich zu deiner Tante bringen, wo du nachts um 4 Uhr abgeholt werden sollst. Doch ich habe gespürt, dass auch dieses kurze Treffen unsere Gemeinschaft für dich ebenso wie für mich wieder ein Stück enger gemacht hat. Hab Dank, Geliebte!

St. Andreasberg, den 4. 12. 56 (Ansichtskarte) W

Mein lieber Ernst-Günther! Heute nur eine kurze Nachricht. Ich bin gestern mit Verspätung um 11:30 angekommen, da der Harz taut, war todmüde, habe noch nicht ausgeschlafen, bin mit meinen Gedanken mehr in Berlin als hier. Es war auch zu schön, aber sehr konzentriert. Für die Dauer wohl kaum zu ertragen. Ich schreibe morgen ausführlicher. Den Südkurier habe ich schon angefangen.

Herzliche Grüße, lieber Ernst-Günther von Deiner Karin

St. Andreasberg, den 5. 12. 56 (mit einem Päckchen)

Mein lieber Ernst-Günther! Einen kleinen Adventsgruß schicke ich Dir hier, damit Du beim Arbeiten etwas zum Knabbern hast.

Sei von Herzen gegrüßt und geküsst, Deine Karin

St. Andreasberg, den 6. 12. 56 W

Mein lieber Ernst-Günther! Nun ist bald schon wieder eine Woche herum, seit ich in Berlin war. Du glaubst gar nicht, was das für ein komisches Gefühl ist, nach so langer Zeit seine Heimatstadt wieder zu sehen und mit Dir gemeinsam alles zu erleben.

Ich habe mich bis eben mit meiner Schwester über unsere frühe Kinder- und Jugendzeit unterhalten, was wir da schon alles angestellt haben. Ach, wie alt ich mir jetzt dagegen vorkomme. ... Früher hatte ich gedacht, wenn ich erwachsen sei, hörten die Probleme auf, mit denen ich fertig werden muss. Denkste! ...

Am Sonntag startet unser Elternabend. Mit viel Mühe haben wir etwas zustande gekriegt. Liegt das eigentlich am Alter, dass die Jungen zwischen 12 und 14 Jahren so schwerfällig sind? Viele Wochen hat es gedauert, bis wir mit ihnen etwas zustande brachten. ... Die Leute hier werden Augen machen, wenn sie von unserer Verlobung erfahren, weil es so schnell geht. Ich kann es ja selbst kaum fassen.

Mein lieber Ernst-Günther, sei nun von Herzen gegrüßt und geküsst von Deiner Karin

Berlin, den 8. 12. 56 W

Geliebtes Mädel, jetzt ist es schon wieder eine Woche her, dass Du hier warst und wir dieses herrliche Wochenende miteinander verlebten. Ich habe immer wieder daran gedacht, wenn ich nur einen Moment zur Ruhe kam im Trubel und der zeitlichen Überforderung dieser Wochen. Auf der anderen Seite ist dieser Druck aber gut, denn wenn ich wirklich einmal zur Ruhe komme wie jetzt, dann überfällt mich Erinnerung und Sehnsucht mit solcher Macht, dass ich nicht weiß, was ich anstellen soll. Das sind die Augenblicke, in denen ich einfach mit Dir zusammen sein möchte, weiter gar nichts, mit Dir sprechen, auch Dich küssen. Es braucht gar nicht so leidenschaftlich zu sein, wie wenn wir uns nur jeden Monat sehen, sondern nur so, als Beweis, dass wir beieinander sind. Ich werde, wenn ich den Brief zum Kasten bringe, noch ein wenig zur Krummen Lanke hinunter gehen. Der dunkle Wald und der ruhige See haben mir schon immer gute Dienste getan, wenn dies unbegreifliche und doch sehr bekannte Sehnen mit mir durchgehen wollte.

Ich glaube, es ist nötig, dass Du schon im nächsten Jahr nach Hamburg übersiedelst, einfach damit wir uns näher kommen. Unsere Begegnungen dürfen nicht nur ein hochgespannter Rausch sein – wenn auch herrlich, trotzdem Rausch durch die Konzentration des Erlebens, die in der Ehe bestimmt nicht gegeben ist – sondern ein Miteinander der Dauer, auch der ruhigen Stunden. Wir haben bisher nur Sonntage erlebt, die Woche mit ihrer Forderung zu geordneter Arbeit ist nicht in unsere Begegnungen gedrungen. Zum anderen aber müssen wir uns einfach näher sein, damit solche Stunden der Sehnsucht und Einsamkeit positiv ausgewertet werden können. Ich habe Dir aus dem Bändchen von Bringfried ein Gedicht abgeschrieben, das so ungefähr ausdrückt, was ich meine. ... Bis zu unserer Verlobung sind es nur noch drei Wochen und in zwei Wochen ist Weihnachten, toll, nicht wahr?

Du fragst, ob Jungen zwischen 12 und 14 Jahren schwerfällig sein müssen. Nein, im Gegenteil! In diesem Alter brechen im Jungen die geschlechtlichen Spannungen auf. ... Körperlich wird er ein Ventil in der Masturbation finden. Aber nebenbei wächst das geistige Erwachen, das sich Kümmern um Probleme, die bisher uninteressant waren, und er steht in einer großen Ratlosigkeit. Die Zeit des „Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt“ macht auch jeder Junge durch. Er sucht jemanden, der ihn liebevoll führt, aber auch durch Ernstnehmen seiner Persönlichkeit anerkennt. Dazu gehört auch, dass man ihn fordert. Er wird freudig und gern diesem Anspruch gerecht werden, weil er sieht, dass er zu etwas nützlich ist. Viele Eltern erfüllen diese Ansprüche nicht. Wir verstehen die Jungen oft besser und sie haben Vertrauen zu uns, weil wir sie fordern.

Ich lege Dir ein kleines Lesezeichen bei, das ich gestern auf unserem Weihnachtsbasar erstand. Ein EMP-Mädchen hat es gemacht.

Meine liebe Karin, sei herzlich gegrüßt und geküsst,

Dein Ernst-Günther

Ich möchte tief ausruhen von all diesem Treiben

und mich trösten lassen. Doch wer könnte das tun?

Denn ich laufe in Schuhen, die manchmal nicht passen

und meine Füße drücken.

Falle müde zum Stuhl, wehre mich gegen das Bücken

und weiß es kaum zu fassen,

als wenn ich wühlte im schmutzigen Pfuhl.

Aber nichts nutzt dieses Greinen. Ich muss mich dem fügen,

darf dem Auftrag nicht lügen, was will ich auch weinen?

Es kommen doch Stunden, die tiefen und reinen

und mancherlei Runden:

Dann tollen wir wieder und singen die Lieder,

wir hocken hernieder und lösen die Glieder

und lauschen den Weisen, den lauten und leisen,

erspähen die Meisen, den Bussard beim Kreisen.

Erblicken Gewürme, das Wolkengefirme

und jauchzen im Sturme. Bestaunen vom Turme,

wie schön so geraten die grünenden Saaten.

Und vor seiner Katen mit langstieligem Spaten,

der krumm ihn gehalten, wir grüßen den Alten.

Tief furchte das Walten des Herrn ihm die Falten.

Doch wer könnte das tun?

Die Fahrt schenkt Freude, doch Fahrt lässt nicht ruh’n!

Trösten im Leide, du könntest das tun!

Du würdest mich trösten und sorgen für mich

und sehen, was mir fehlt.

Ich würde gehen und kämpfen für Dich,

und was Dich beseelt, das wäre am größten!

Bringfried Naumann 1953

St. Andreasberg, den 11. 12. 56 W

Mein lieber Ernst-Günther! Sei recht herzlich bedankt für Deinen Brief und auch für Bringfrieds Gedicht. ... Ach, mein Lieber, mir geht es manchmal ebenso wie Dir, dass ich mir wünsche, Du müsstest bei mir sein. Dann halte ich es einfach nicht in unseren vier Wänden aus und verflüchtige mich in unseren Wald. Es ist wahr, wenn Du sagst, wir sollten auch den Alltag gemeinsam erleben. Hoffentlich klappt es im Frühjahr mit Hamburg. Das wird noch Tränen geben zu Hause. ... Wir haben noch gar nicht gemeinsam Advent gefeiert. Am 1. Advent war ich bei Dir – die Zeit kommt mir schon viel länger vor – und am letzten Sonntag war ich nach Tisch bis abends in Lauterberg. Danach musste ich mich schnell umziehen und zum Elternabend. Es hat übrigens alles bestens geklappt.

... Mein Lieber, herzlichen Dank für das Lesezeichen. Ich dachte erst, Du hättest die zarten Gräser gemalt. – Mein lieber Ernst-Günther, sei bitte nicht enttäuscht, wenn ich jetzt nicht weiterschreibe. Ich schreibe bald wieder und grüße Dich herzlich. Viele Küsse von Deiner Karins

Berlin, den 15. 12. 56 W

Geliebtes Mädel, Du wartest sicher schon sehnsüchtig auf Post von mir. Ich muss gestehen, dass ich die Zeit hätte finden müssen, aber doch immer wieder Dinge tat, die scheinbar wichtiger waren und sich bei ruhiger Überlegung als lange nicht so wichtig heraus stellten. Man vergisst im Trubel zuweilen, dass der höchste Wert der geliebte Mensch ist und alles andere danach zu rangieren hat.

Erst einmal herzlichen Dank für das Päckchen, über das ich mich sehr gefreut habe und von dem ich immer noch nasche, und für den Brief. Es ist immer wieder eine Freude, wenn ich beim Nachhause-Kommen Post von Dir vorfinde. Ich bin schon seit einigen Tagen in einem Gefühl voller Unruhe; es ist wie ein Berg vor mir, was alles noch zu tun ist bis Weihnachten. Allerdings schlafe ich auch selten mehr als sechs Stunden. Ich freue mich auf die Ferien. Einfach nichts denken müssen und dann auch Dich haben, das ist das Schönste, was zu erwarten ist. Wenn ich später im Beruf auch so gehetzt bin, sattle ich gleich um auf Straßenfeger, aber das ist ja Kohl. –

Bis Montag habe ich noch einen Entwurf für ein Schütz zu zeichnen, zu Dienstag eine Klausur über Anlasser vorzubereiten, zu Mittwoch Berechnung einer Asynchronmaschine und zu Donnerstag Vorbereiten eines Stoßspannungsversuches mit 400.000 Volt. Danach geht der angenehme Teil des Lebens los, erst in Hamburg, dann bei Dir. – Tante Friedel fragte neulich, ob ich schon bei Deinen Eltern um Deine Hand angehalten habe. Sie ist immer sehr besorgt, dass ich auch alles richtig mache. Aber sie hat mir in vielem, vor allem in gesellschaftlicher Hinsicht den Weg gewiesen, wo ich sonst überhaupt nichts gewusst hätte. ...

Meine liebe Karin, ich mache jetzt erst einmal Schluss, aber ich schreibe bestimmt noch in der nächsten Woche. Sei von Herzen gegrüßt und geküsst von Deinem Ernst-Günther

Erinnerung: 16. 12. 56 in Berlin

Der Vater eines unserer Jungen hat uns ein altes Auto von 1935 billig abgetreten, weil er sich einen neuen Wagen gekauft hat. Wir taufen es „Benjamin“, weil es ja noch soo jung ist. Der Wagen hat einen Handgas-Zug parallel zum Gaspedal und springt schlecht an. Ich habe eine waghalsige Methode erfunden, um ihn zu starten: Rückwärtsgang einlegen, Handgas ein wenig ziehen, Kupplung mit rechtem(!) Fuß treten und bei offener Tür mit dem linken Fuß den Wagen rückwärts anschieben. Ein paar Mal hat das gut geklappt.

Am Sonntag Nachmittag will ich zu einem Jugendtreffen und versuche den Start in gewohnter Weise. Ich habe wohl das Gas zu weit heraus gezogen, plötzlich rast der Wagen rückwärts auf ein geparktes Auto zu. Mein rechter Fuß findet weder Kupplung noch Bremse, der linke hängt draußen. Ich lenke auf die andere Straßenseite. Der Wagen schrammt mit der linken Seite an einem Baum vorbei, die offene Tür schlägt gegen den Baum und der Wagen steht mit abgewürgtem Motor. Mein linker Unterschenkel ist bis zum Scharnier in den schmalen Spalt zwischen Tür und Wagenkante geschlagen worden.

Ich bin hell wach. Als erstes schalte ich die Zündung aus, damit auslaufendes Benzin sich nicht entzünden kann. Ich habe keine Schmerzen, kann nur mein linkes Bein nicht bewegen. Als ich es befühle, spüre ich Knochensplitter und Blut zwischen dem verbogenen Blech. Das ist ein komplizierter Bruch, schießt es mir durch den Kopf, erst muss die Wunde behandelt und danach geschient werden.

Leute kommen gelaufen. Ich bitte sie, bei Rolf im Haus gegenüber Bescheid zu sagen. Inzwischen ist mir klar geworden, dass mein Bein nicht ohne Gewalt aus dem engen Spalt heraus zu bekommen ist. Dann kommt Rolf und bald danach die Feuerwehr. Ich erkläre ihnen, sie bräuchten eine Brechstange, um die Tür so weit ab zu drücken, dass mein Bein frei kommt. Sie holen sie, und beim ersten Versuch schlägt sie mir auf das Bein. Auch das schmerzt nicht.

Sie wollen mich ins Oskar-Helene-Heim bringen. Weil ich dort Erinnerungen an eine sehr unfreundliche Betreuung habe, bitte ich, in das nahe Waldfrieden-Krankenhaus gebracht zu werden, das von Adventisten betrieben wird. Sie wollen erst nicht, müssen dann aber mein Verlangen erfüllen. Rolf kommt mit.

Als ich auf dem Wagen vor dem Operationssaal liege, bricht meine Wachheit und Sicherheit zusammen wie ein Kartenhaus. Plötzlich wird mir klar, dass mein Bein so kaputt ist, dass ich nie wieder richtig laufen kann. Was wirst du dazu sagen? Wirst du mich als Krüppel akzeptieren? Eine furchtbare Ungewissheit kommt über mich. Soll ich auch dich wunderbaren Menschen wieder verlieren? Schwarze Verzweiflung übermannt mich, ich beginne zu weinen.

„Warum weinst du?“, fragt Rolf. Da kommt noch einmal die Entschlossenheit in mir hoch: Niemand soll wissen, dass ich an deiner Liebe zweifle. „Nur so“, antworte ich und bitte ihn, dich offen über den Unfall und meinen Zustand zu informieren und um dein Kommen zu bitten. Dann werde ich in den Operationssaal geschoben, bekomme eine Spritze und verliere die Besinnung.

Berlin, d. 3. Advent 1956

Liebe Karin! Ernst-Günther hat mich gebeten, Dir zu schreiben. Er ist heute Abend mit einem Auto verunglückt. Sein linker Fuß wurde bös eingeklemmt. Er liegt bei uns im Krankenhaus „Waldfrieden“. Er lässt Dich recht herzlich grüßen. Ich durfte bei ihm sein, bis er ins Operationszimmer gebracht wurde. Dir als kleinen Trost möchte ich sagen, dass Du stolz auf ihn sein kannst. Er war sehr, sehr tapfer und hat vor allen Dingen nie den Glauben verloren! Wir alle, die wir Deinen Ernst-Günther gern haben und ihn schätzen, können nichts besseres tun als für ihn die Hände falten. ... Es handelt sich um einen offenen, komplizierten Schienbeinbruch mit Muskelverletzungen und Beschädigung der Arterien. Der Fuß ist in arger Gefahr.

So wirst Du verstehen, dass er Dich bittet, zu ihm zu kommen. Auch sprach er noch die Bitte aus, Du möchtest trotzdem nicht verzagen und zu ihm stehen. Er wäre Dir sehr dankbar, wenn trotz allem die Verlobung halt im Krankenhaus stattfinden würde. ... Dir, liebe Karin möchte ich wünschen, dass Dir die Kraft gegeben wird, ihm in seiner Not beizustehen. Du allein kannst ihm nicht helfen, doch kannst Du es ihm sehr erleichtern, wenn Du gefasst dieser Situation ins Auge siehst. Darum habe ich Dir so ausführlich geschrieben. Als Trost nimm die Gewissheit hin, dass wir für ihn beten.

Rolf Kroeger (Nepf)

St. Andreasberg, den 17. 12. 56 (Päckchen nach Hamburg) W

Mein lieber Ernst-Günther! ich wünsche Dir von Herzen ein frohes Weihnachtsfest und grüße Dich innigst bis zu 29. Dezember,

Deine Karin

Berlin, den 18. 12. 56 W

Mein liebes Mädel, heute bin ich fähig, Dir selbst zu schreiben, wenn es auch noch sehr anstrengend ist. Ich möchte mich zunächst einmal für den Schreck entschuldigen, den ich Dir bereitet habe, aber ich meinte, dass Du möglichst bald von der Sache wissen solltest. ...

Ich will Dir zuerst schildern, wie die Dinge liegen. Ein linker Unterschenkelknochen ist dicht über dem Knöchel völlig zerschmettert, könnte aber wieder zusammen wachsen. Zwei Schlagadern zum Fuß sind stark beschädigt und von der dritten weiß man nicht, ob sie noch voll arbeitet. Der Fuß ist vollkommen kalt und gefühllos, und es wird sich heute oder morgen entscheiden, ob ich ihn behalten kann oder ob er amputiert werden muss. Die letzte Möglichkeit überwiegt stark. Es besteht also die Aussicht, dass ich als Krüppel hier wieder heraus komme. Wenn Du mich so noch haben willst? –

Falls ja, wäre ich Dir dankbar, wenn Du in Deinen Ferien herkommen könntest. Du kannst in meinem Zimmer wohnen, zusammen mit Tante Friedel. Die Jungen kümmern sich sehr um mich, aber ich habe solche Sehnsucht nach Deiner Liebe, dass Du bei mir bist. Wenn es Dir also nichts ausmacht, bitte ich Dich herzlich zu kommen. Dann ist noch die Verlobung. Ich möchte gerade jetzt, nicht nur weil alles vorbereitet ist, dabei bleiben, dass wir uns am

1. 1. verloben. Aber es hängt von Dir ab, was Du dazu meinst.

Wann ich nun mit dem Studium fertig bin, ist auch noch nicht klar, da ich kaum zum Beginn der schriftlichen Prüfung am 21. 1. wieder hier raus sein werde. So kann ich also das Examen erst im Juli machen. Was aus dem Hamburger Angebot wird, weiß ich nicht.

Man kann das alles nur begreifen, wenn man es als Gottes Fügung auffasst, wenn man weiß, dass das alles einen Sinn hat, der zwar im Augenblick nicht zu begreifen ist, aber schon einmal klar werden wird. Ohne diesen Gedanken müsste man verzweifeln.

Karin, ich kann vor Kopfschmerzen nicht mehr schreiben. Lass Dich herzlich küssen von Deinem Ernst-Günther

Von guten Mächten wunderbar geborgen

erwarten wir getrost, was kommen mag.

Gott ist bei uns am Abend wie am Morgen

und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Dietrich Bonnhöffer

Am Nachmittag kommt dein Telegramm, das ich mit zitternden Händen aufreiße: Als ich deine frohe Botschaft lese, geht in meinem Herzen die Sonne auf. Diese sechs Worte auf dem Tickerstreifen heben endgültig jenes andere, furchtbare Telegramm auf, das mir vor zweieinhalb Jahren Dietlinds Tod kündete:

St. Andreasberg, 18. 12. 56, 15:39

= SEI TAPFER KOMME SONNABEND = KUSS KARIN +

St. Andreasberg, den 18. 12. 56 W

Mein lieber Ernst-Günther! Heute Vormittag habe ich mich vielleicht erschrocken, als ich den Brief von Nepf bekam. Nun hast Du schon bis Weihnachten alles geplant, und jetzt musst Du doch alles liegen lassen und abbrechen. Siehst Du, der Mensch denkt und Gott lenkt. Es fällt Dir sicher nicht leicht, ruhig dort zu liegen und nicht heraus zu können. Aber halte die Ohren steif und verzage nicht, es wird auch wieder anders werden. Ich halte immer zu Dir, das weißt Du doch, was auch kommt. Krankheit und Sorgen sollen unsere Liebe nicht beeinträchtigen, sondern festigen. Wenn wir nur füreinander da sein können, die Gewissheit gibt mir, genau wie Dir, unendlich viel. Freu Dich schon auf Sonnabend, da komme ich zu Dir für zehn Tage, bis Neujahr. – Ich hatte heute ein Päckchen zu Tante Friedel geschickt und konnte es nicht mehr aufhalten. – Unserer Verlobung steht auch kein Krankenhaus im Wege. Die Ringe und Karten hole ich schon, wenn Du noch keinen geschickt hast. ...

So, mein Guter, sei fein tapfer und behalte mich lieb. Es küsst Dich herzlichst Deine Karin

Vielen Dank für Deinen lieben Brief vom Sonnabend.

Und wieder geht die Sonne auf, als Du das Krankenzimmer betrittst und mich umarmst und küsst, natürlich nicht so leidenschaftlich wie sonst, wenn wir alleine sind, aber doch herzhafter als ich erwartet hatte. Bringfried und Rolf, die Dich in Empfang genommen haben, schauen derweil interessiert aus dem Fenster. Am Abend kommt auch Tante Friedel. Ihr wohnt beide in meinem Zimmer bei Kroegers. Da ich mit mehreren anderen Patienten im Zimmer liege, müsst Ihr Euch leider an die Besuchszeiten halten.

Am Heiligen Abend wird die Besuchszeit verlängert. Wir haben Tannengrün und Kerzen in den Zimmern, und auf dem Flur singen die Schwestern Weihnachtslieder. Ihr beide seid bei mir und ich fühle mich wunderbar geborgen.

Dass Du jeden Tag bei mir bist, so lange wie es irgend erlaubt ist, ist wunderschön für mich. Dein liebes Gesicht zu sehen, mit Dir zu sprechen, ist eine Labsal, obwohl das Krankenhaus im ganzen eine sehr freundliche Atmosphäre hat. Mit feinem Takt lässt Tante Friedel uns beiden genug Zeit füreinander.

Leben mit Karin

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