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Dezember 1953

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Berlin, den 20. 12. 53, Meine liebe, liebe Diethild!

Wieder einmal ist der Tag gekommen, an dem Weihnachten gefeiert wird. Geschäftige Menschen laufen durch die Straßen, viele füllen die Kirchen, überall an den Bäumen flammen Kerzen auf. Weihenacht! Weihenacht? Man sagt, dass vor ungefähr zweitausend Jahren irgendwo am Mittelmeer ein Kind geboren worden sei. Und deswegen feiern heutzutage aufgeklärte Menschen ein Fest? Ja, das ist das Wunderbare! Dieses Kind hat in jenen zweitausend Jahren die ganze Welt erobert, es ist der Herr der Welt, es ist auch unser Herr. Diesen Herrn können wir um Hilfe bitten, wo unsere Kraft versagt. Wie glücklich sind wir doch.

Meine liebe Diethild, noch feiern wir Weihnachten getrennt. Aber unsere Gedanken sind beieinander. Es kommt die Zeit, wo wir dieses Fest der Liebe zusammen feiern dürfen. Dann wollen wir jedes Mal aufs Neue dankbar sein, auch für die Liebe, die uns geschenkt worden ist. Wir wissen nicht, was noch vor uns liegt, aber wir wissen eines, was uns so unsagbar reich macht: Unser Schicksal liegt in Gottes Hand, alles was er tut, ist gut. Deshalb können wir jetzt Weihnachten so froh feiern, ohne dass wir dazu eine falsche Romantik brauchen. Nur wenige werden diese Fröhlichkeit verstehen. Lass uns versuchen, ihnen etwas davon zu schenken. Ich habe Dir eine kleine Geschichte geschrieben, nimm sie nicht als Dichtung, sondern als Botschaft von mir zu Dir.

In tiefer Liebe grüßt Dich Dein Wolfgang

Eine Weihnachtsgeschichte

Alles war vorbereitet. Der Baum war geputzt, die Kerzen sahen richtig aus, als ob sie sich freuten, bald zu leuchten und Menschen froh und festlich zu stimmen. Das ganze Haus duftete nach frischer Tanne und Pfefferkuchen. Fein eingepackte Päckchen lagen rund um den Baum herum auf dem Tisch. Nicht nur die Kerzen, nein, alles sah erwartungsvoll aus.

„Mutti, kommt denn der Vater nicht bald?“, fragte in das Schweigen hinein der kleine sechsjährige Philip, der seine Erwartung kaum durch das Ansehen eines Bilderbuches verbergen konnte, und sah zur Mutter hinüber, die im Sessel unter der Stehlampe las. „Ja“, sagte auch die achtjährige Inge, „jetzt könnte er ja wirklich bald da sein!“ Die Mutter klappte das Buch zu. Richtig gelesen hatte sie ja eh’ nicht mehr. Immerzu waren ihre Gedanken fort gelaufen zu ihrem Mann. Mit welcher Liebe hing er an ihr, obwohl sie schon zehn Jahre verheiratet waren. Und auch sie liebte ihn wie am ersten Tag. Für viele Bekannte waren sie deshalb beinahe ein Wunder.

Ausgerechnet heute am Heiligen Abend musste in dem Kraftwerk am Bergstausee die Regelung der großen Turbine ausfallen. Sie wusste nicht, was das bedeutete, aber als ihr Mann am Telefon bleich wurde, ahnte sie, dass es ein schlimmer Schaden sein müsse. Er erklärte ihr dann, wenn der Fehler bis zum Abend nicht behoben werde, sei die Stromversorgung der Stadt gefährdet. Wenn er auch als technischer Direktor der Bergkraftwerke heute dienstfrei sei, in diesem Fall müsse jeder mit zupacken. Er hoffe, bis zum Abend zurück zu sein. Sie küssten sich zärtlich wie immer, dann hörte sie den Wagen aufbrummen. Sie wusste, wie sehr ihr Mann seinen Beruf liebte, aber mit der Frauen und Müttern eigenen liebevollen Sorge dachte sie immer wieder an die Gefahr, die, wie jeder Beruf, auch dieser mit sich brachte. Sollte ihm etwas passiert sein? Aber dann hätte man ihr doch Nachricht gegeben. In diese Gedanken hinein klang Philips Frage.

Wie von einem Druck erlöst atmete sie auf. Was hatte das Sorgen denn für einen Zweck? Ihm kann ja nichts passieren! Und sie wusste, wie sie sich und die Kinder auf andere Gedanken bringen konnte. „Ach, Kinder“, sagte sie, „Vater wird bald kommen. Seht, wenn er nicht gefahren wäre, gäbe es in der ganzen Stadt kein Licht. Kommt näher zusammen, ich will euch ein Märchen erzählen.“ „Au, fein!“, rief Philip und kletterte auf Muttis Schoß. Auch Inge rückte ganz eng an die Mutter heran und fragte: „Ein schönes?“ „Ja Kinder“, antwortete die Mutter mit einem Gesicht voller Glück, wie es die Kinder öfter sahen, wenn Vater und Mutter sich anblickten, „ein ganz wunderbar schönes.“ Und dann begann sie, nachdem sie eine Kerze angezündet und das Licht ausgeschaltet hatte:

„Es war einmal ein armes Mädchen. Das heißt, eigentlich war es eine Prinzessin. Aber da war eines Tages ein fremdes Volk auf wilden Pferden daher gebraust gekommen und hatte das ganze Land verwüstet. Ihr Vater war von diesen Halbwilden umgebracht worden, ihre Mutter und die Kinder mussten fliehen. Glücklicherweise war in der Nähe ein Land, in das sich die Räuber nicht hinein trauten. Da aber viele aus den besetzten Gebieten hierher flohen, ging es ihnen auch hier nicht besonders gut. Die Mutter musste schwer arbeiten und die Prinzessin auch. Das wäre nicht so schlimm gewesen, wenn nicht noch eine weite Reise Weges zwischen ihnen gelegen hätte. So wurde aus der Prinzessin das arme Mädchen. Aber viel schlimmer war, dass sie zu einer weisen Frau ins Haus gekommen war, die kein gutes Herz hatte. Bald erkannte sie, dass die Prinzessin trotz ihrer Armut reich war, denn sie besaß Güte und Herzenswärme, die der Frau bei aller Weisheit fehlten. Deswegen ließ sie die Prinzessin vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein die niedrigsten und schmutzigsten Arbeiten ausführen, so dass sie todmüde ins Bett fiel und nur selten an ihre Mutter dachte.

Doch an jemand anderen dachte sie öfter: In der alten Heimat hatten sie und ihre Freundinnen zuweilen mit einer Gruppe von Edelknaben den Reigen getanzt. Und dabei geschah es, dass ihr einer der Jünglinge lieber wurde als die anderen und sie mit ihm am liebsten tanzte. Da sie aber keusch und züchtig erzogen war, wagte sie es nicht, ihm ihre Gefühle zu gestehen. ... Diesem Edelknaben, der ebenso für sie gefühlt hatte, ohne es ihr zu sagen, ging es auch sehr schlecht. Seine Mutter war durch die Schrecken beim Einfall der wilden Horden krank geworden und gestorben, bevor die Stadt von einem befreundeten König befreit worden war. Sein Vater hatte neu geheiratet, und diese Frau war nicht gut zu dem Jungen. So wuchs er ohne mütterliche Liebe heran und hatte an Freunden nur die Edelknaben. Um etwas Gutes zu lernen, ging er zu einem Meister in die Lehre, der weit über die Grenzen hinaus bekannt war. Er hatte nämlich eine Zauberkraft erfunden, dass man an einem Knopf drehen konnte und das Zimmer war hell beleuchtet. Man drehte an einem anderen Zauberknopf, und das Zimmer wurde warm. Einfach alles konnte man mit dieser Zauberkraft machen und das lernte nun auch jener Jüngling.

Als die arme Prinzessin an diesen Edelknaben dachte, wurde ihr klar, wie sehr sie ihn mochte. Was hätte sie gegeben, um wieder einmal den Reigen mit ihm tanzen zu können! Aber eine Reise von zwanzig Tagen lag zwischen ihnen, und keiner von ihnen hatte das Geld dafür. Außerdem mussten sie durch das Gebiet, das die wilden Horden besetzt hielten. So schrieb sie ihm denn eines Nachts einen Brief und wartete voll Bangen, ob er wohl antworten würde. Wie groß war ihre Freude, als sie seine Antwort erhielt! Er hätte ihr gerne schon früher geschrieben, doch er wusste gar nicht, wo sie abgeblieben war. So oft sie konnten, schrieben sie sich jetzt, und jeder freute sich, wenn er vom anderen Nachricht bekam.

Die Zeit kam heran, dass der Jüngling genug gelernt hatte und seine Wanderschaft antrat. Er hätte bei seinem Meister bleiben können, aber er wollte schauen, wie groß die Welt sei. So kam er eines Tages auch in jene Stadt, in der die arme Prinzessin lebte. Kein Mensch kann sich die Freude der beiden vorstellen, als sie sich wieder sahen, kein Mensch ihr Glück nachfühlen, als sie den Reigen wieder miteinander tanzten. In dieser Nacht küssten sie sich zum ersten Mal und sprachen über ihre Liebe. Sie war die erste Jungfrau, die der Edelknabe küsste, und er war der erste Jüngling, dem die Prinzessin den Mund bot. In dieser Nacht schworen sie sich, einander immer treu zu bleiben und die Liebe zwischen ihnen zu bewahren, bis der Tod sie einst scheiden würde. Der Jüngling aber beschloss, alles zu tun, um die Prinzessin zu befreien.

Doch die böse Frau war nicht müßig. Sie merkte, dass sich das Mädchen am Abend heimlich aus ihrer Kammer stahl und befahl ihren Gedanken, ihr zu folgen. Sie verstand längst nicht alles, was zwischen den beiden gesprochen wurde, weil ihr die Sprache der Liebe fremd war. Aber da sie weise war, legte sie sich schon die Bedingungen zurecht, die sie dem Jüngling vorlegen würde, wenn er käme, um die Freiheit der Prinzessin zu fordern. Als sie meinte, etwas gefunden zu haben, was er nie lösen könnte, schlief sie zufrieden ein. So merkte sie nicht, dass der Jüngling, nachdem er sich von der Prinzessin verabschiedet hatte, auf die Knie sank und Gott im Himmel für dieses Geschenk dankte, ihn aber auch anflehte, ihm beizustehen, wenn er für seine Prinzessin streite. Am nächsten Tag kam er zu der weisen Frau. Sie sagte ihm nur kurz – sie war böse, weil sie ihre Beschlüssen vergessen hatte, – sie werde ihm drei Fragen vorlegen, wenn er die löse, sei die Prinzessin frei. Könne er sie aber nicht beantworten, habe er die Prinzessin auf ewig verloren. Dem Jüngling war klar, dass er die Fragen jetzt schwerlich beantworten könnte. So nahm er Abschied und wanderte zurück in seine Stadt. Wie schwer den beiden Liebenden der Abschied fiel, kann niemand ermessen.

Nun gab es in der großen Stadt, in der der Jüngling wohnte, eine Schule, an der viele weise Lehrer ihre Erkenntnisse über die Zusammenhänge des Lebens den jungen Menschen kündeten, die andächtig zu ihren Füßen saßen. Diese Schule besuchte auch der Jüngling. Oh, wurde ihm das manchmal schwer! Damit er etwas zu essen hatte, arbeitete er noch abends, wenn er die Lehren und Erkenntnisse des Tages in sich gesammelt hatte. Aber darüber reichte sein Verdienst nicht. So lebte er auch im Winter in einem kalten, ungeheizten Zimmer. Oft trat der Versucher an ihn heran und flüsterte ihm zu: ,Du lebst hier so einsam, hungrig und ohne Liebe und lernst und frierst. Das hast du nicht nötig. Such dir Arbeit, lass deine Studien, such dir eine Frau und lebe glücklich und zufrieden.’ Und er sagte ihm das nicht nur, sondern führte ihm andere Jungfrauen zu, die hübsch und anständig waren. Schwer hatte der Jüngling zu kämpfen, dass er gegen diese Versuchungen standhielt. Und nur die vielen Briefe, in denen er und die Prinzessin sich ihre Liebe versicherten, hielten ihn bei seinen Studien.

So kam das Weihnachtsfest heran und sowohl der Jüngling als auch die Prinzessin dachten am Heiligen Abend, als überall glückliche und zufriedene Menschen waren, mit Schmerzen an ihre Einsamkeit. Jeder war mit all seinen Gedanken beim anderen und versuchte, sich vorzustellen, wie es dem jetzt wohl gehe. Traurig gingen beide schlafen. Da geschah etwas Seltsames: Als die Prinzessin sehnsüchtig an ihren Edelknaben dachte, sah sie plötzlich von ferne ein Licht auf sich zu kommen. Als es näher kam, erkannte sie, dass ein kleines Kind das Licht trug. Es kam geradeswegs auf sie zu und setzte sich auf ihr Bett. ,Prinzessin’ sagt es mit einer Stimme wie Glockenklang, ,sieh mich an!’ Sie tat es, und nachdem das Kind ihr eine Weile in die Augen geblickt hatte, sprach es weiter: ,Wirklich, auch jetzt denkst du nur an ihn. Und weil ihr euch so sehr liebt, will ich dir deinen sehnlichsten Wunsch erfüllen, du sollst ihn sehen. Komm mit mir!’

Und schon ging das Kind mit dem Licht und sie konnte ihm kaum folgen. Bald kamen sie in eine große Stadt, gingen in ein Haus und dann standen sie auch schon in einer Kammer, die von dem Licht des Kindes matt erleuchtet wurde. Da lag ihr Edelknabe und schlief, tiefe Trauer auf dem Gesicht. Sie stieß einen Freudenschrei aus und wollte zu ihm, aber das Kind hielt sie zurück und sagte: ,Du darfst ihn auf keinen Fall wecken, dann wäre alles vorbei.’ So betrachtete die Prinzessin ihn nur voller Freude und drückte dann verstohlen einen Kuss auf seine Stirn. Da lief eine große Glückseligkeit über seine Züge, und so blieb er liegen und atmete ruhig. Langsam zog das Kind die Prinzessin mit sich fort. Als sie wieder in ihrem Zimmer angekommen waren, sprach es noch einmal mit seiner glockenhellen Stimme: ,Du glaubst, du hast das nur geträumt. Das stimmt nicht. Wisse, dass du das alles wirklich erlebt hast. Es ist die Belohnung für eure Frömmigkeit. Jedes Weihnachten gehe ich aus, die zu belohnen, die arm und einsam sind, und trotzdem glauben und beten. Wisse auch, dass dein Edelknabe das Gleiche erlebt hat, wie du. Und wisse, dass Gott, der Herr immer bei euch ist.’ Dann war es verschwunden.

Nachdem die Prinzessin dem Herrn gedankt und ihn um Schutz und Segen für den Geliebten gebeten hatte, schlief sie glücklich ein. Sie hatte ein viel schöneres Weihnachtsfest erlebt, als alle, die sie vorher beneidet hatte.

Nach drei Jahren hatte der Jüngling, der darüber zum reifen Mann geworden war, genug gelernt. Niemand konnte ihm etwas sagen, das er nicht schon wusste. So machte er sich wieder auf den Weg zu der Stadt im Süden. Die böse Frau spürte sein Kommen und wusste es so einzurichten, dass er die Prinzessin nicht zu Gesicht bekam, so sehr er es auch versuchte. Da bat er Gott noch einmal um Kraft und Beistand und trat vor sie, ihre Fragen zu beantworten:

,Woher kommt das Leben?’, war die erste. ,Von Gott!’, antwortete er. ,Warum?’, fragte sie. ,Jedes Lebewesen hat sich aus einem niederen entwickelt. Aber woher das unterste Wesen entstanden ist, wie aus toter Materie pulsierendes Leben werden konnte, kann niemand erklären. Daran zerbrechen alle Theorien. Das Leben kommt von Gott.’

‚Wie viel bin ich wert?’, fragte sie als zweites. ,Höchstens 29 Silberlinge!’, antwortete er. ,Warum?’, brauste sie auf. ,Weil unser Herr Christus um 30 Silberlinge verraten wurde. Da du aber bestimmt nicht so viel wert bist wie er, bist du höchstens 29 Silberlinge wert.’

,Was kommt nach dem Tod?’, war die dritte Frage. ,Das Leben!’, antwortete er. ,Warum?’, fragte sie wieder. ,Weil unser Herr es selber gelebt hat in seiner Auferstehung von den Toten. Deshalb ist Angst vor dem Tode ein Zeichen der Schwäche bei solchen Menschen, die von Gott und seiner Gnade nichts wissen. Und deshalb hast du diese Angst, trotz deiner Weisheit’.

,Du könntest Recht haben.’ sagte sie tief erschüttert und gab die Prinzessin frei. Kurz nachdem die beiden jungen Leute geheiratet hatten, ließ sie sich taufen und tat fortan nur Gutes. Die beiden aber, wenn sie nicht gestorben sind, leben glücklich und zufrieden.“ „Sie leben noch und sind glücklich und zufrieden.“ hörte man da den Vater, der unbemerkt ins Zimmer getreten war. „Dir aber, Mutter, tausend Dank für dieses Märchen.“ Und sie küssten sich zärtlich wie immer, während die Kinder erwartungsvoll daneben standen. Dann zündete die Mutter die Kerzen an, und der Vater holte die Bibel, um die Weihnachtsgeschichte vorzulesen mit der alten und ewig neuen Botschaft: „Fürchtet euch nicht, denn euch ist heute der Heiland geboren.“

Endorf, den 25. 12. 53, Geliebter!

Wie soll ich Dir nur sagen, wie sehr ich mich über Dein liebes Päckle gefreut habe! Das kannst Du Dir gar nicht vorstellen. Wie überreich hast Du mich doch beschenkt. ... Ich freue mich ja so, dass Du Deine Tante hast, die Dich auch lieb hat, und für Dich sorgen kann. Durch die Trennung bin ich doch außerstande, es zu tun. Wie will ich Dir’s schön machen, wenn wir erst ganz beisammen sind, mein Lieberle!

Sag, mein Lieber, woher weißt Du, dass ich mir den „Kleinen Prinz“ so gewünscht habe? Ich habe Dir doch nie etwas darüber gesagt! Über das schöne warme Tuch habe ich mich ebenso gefreut. Weißt Du, weil es so wunderbar weich ist, habe ich beim Einschlafen mein Gesicht darauf gelegt und geträumt, es sei Deine Hand, die mich streichelt. Gelt, ich bin doch narret, das musst Du aber Dir zuschreiben. Als letztes kam Dein lieber, lieber Brief dazu. Ich möchte Dir ganz besonders dafür danken, für Deine Weihnachtsgeschichte. Viel sagen kann ich nicht dazu, aber Du wirst auch so fühlen, was ich nicht in Worte fassen kann. Wie reich ist unser Leben durch unsere Liebe geworden! ... Sei für heute so recht von Herzen gegrüßt und lass Dir danken für alles, womit Du mich so sehr erfreut hast. In Liebe, Deine Diethild

Weihnachten verbrachte Wolfgang bei seiner Tante in Hamburg, und zur Jahreswende fuhr er mit einer Gruppe von Pfadfinderführern in den Bayerischen Wald. Als in der Silvesternacht das Feuer aufloderte, dachte er über das alte Jahr nach: Als Knabe hatte er es begonnen und war zum Mann geworden. Mit der Liebe zu Diethild hatte es sich strahlend und schön entwickelt, er war unwahrscheinlich reich geworden. Nachts schrieb er ihr eine Postkarte:

Klause, den 1. 1. 54, 2 Uhr nachts. Meine liebe Diethild!

Von der Feuerwache sende ich Dir einen ganz kurzen Neujahrsgruß, der Dich erfreuen soll. Herzlich, Dein Wolfgang

Über tief verschneite Hänge

steigt das neue Jahr ganz leise.

Jungen steh’n in stiller Runde;

Glocken singen ihre Weise.

Mitternacht – die Jungen denken

an das Jahr, das jetzt vorüber,

doch der Glocken helle Stimmen

zieh’n ins neue sie hinüber.

Drunten feiern laute Menschen,

scheinbar froh und doch gefangen.

Jungen denken an die Zukunft,

Neujahrsglocken leiser klangen.

Berlin, den 7. 1. 54, Geliebte!

Hab ganz herzlichen Dank für Deinen lieben Brief vom zweiten Weihnachtstag. Es war ein großes Geschenk für mich, dass Du mich mit „Geliebter“ angesprochen hast und voller Freude erwidere ich diese Anrede. ... Von Kaekke habe ich, ein Heft mit eigenen Gedichten und Zeichnungen bekommen, in einem Gedicht fand ich mich auch wieder, das schicke ich mit.

Die Tage im Wald waren toll. Wir wohnten in einer Hütte mitten im Wald und waren alle Tage draußen im Schnee. Diese Kameradschaft auf engstem Raum ist etwas Großes. Zur Jahreswende standen wir am Feuer und Klaus legte uns die Jahreslosung aus: „Ich bin das Brot des Lebens“. Zwei Stunden später fütterte ich den Herd und dachte: Was wird das Jahr uns beiden bringen? Dachte an den Abend in Endorf, an dem wir uns Treue gelobten, jenen Abend, der mir immer noch wie ein Traum vorkommt, und dankte Gott für seine grenzenlose Güte. Und wusste, auch in diesem Jahr würde er uns beide nach seinem Plan führen, wie es für uns das Beste sei. Und dachte an Dich, voller Liebe wie immer, und schlief froh ein, als ich die Ablösung geweckt hatte. In tiefer Liebe grüße ich Dich, meine Geliebte, Dein Wolfgang

Ich möchte tief ausruhen von all diesem Treiben

und mich trösten lassen. Doch wer könnte das tun?

Denn ich laufe in Schuhen, die manchmal nicht passen

und meine Füße drücken.

Falle müde zum Stuhl, wehre mich gegen das Bücken

und weiß es kaum zu fassen,

als wenn ich wühlte im schmutzigen Pfuhl.

Aber nichts nutzt dieses Greinen, ich muss mich dem fügen,

darf dem Auftrag nicht lügen, was will ich auch weinen?

Es kommen doch Stunden, die tiefen und reinen

und mancherlei Runden:

Dann tollen wir wieder und singen die Lieder,

wir hocken hernieder und lösen die Glieder

und lauschen den Weisen, den lauten und leisen,

erspähen die Meisen, den Bussard beim Kreisen.

Erblicken Gewürme, das Wolkengefirme

und jauchzen im Sturme. Bestaunen vom Turme,

wie schön so geraten die grünenden Saaten.

Und vor seiner Katen mit langstieligem Spaten,

der krumm ihn gehalten, wir grüßen den Alten.

Tief furchte das Walten des Herrn ihm die Falten.

Doch wer könnte das tun?

Die Fahrt schenkt Freude, doch Fahrt lässt nicht ruh’n!

Trösten im Leide, du könntest das tun!

Du würdest mich trösten und sorgen für mich

und sehen, was mir fehlt.

Ich würde gehen und kämpfen für Dich,

und was Dich beseelt, das wäre am größten!

Bringfried Baumann (Kaekke)

Stuttgart, den 10. 1. 54, Mein Lieberle!

Für Deinen lieben Brief, den Du gleich nach Deiner Rückkehr aus dem Bayerischen Wald geschrieben hast, danke ich Dir herzlich. Und ich danke Dir auch für die Karte, die wie die vor einem Jahr am Dienstag nach Neujahr ankam. Sie war so rührend sachlich und harmlos, wie es sich für eine Karte gehört, so dass man ihr nicht ansieht, dass zwischen ihr und der ersten ein wunderschönes, inhaltsreiches Jahr liegt. Ich küsse Dich ganz herzlich, Deine Diethild

Tage später fühlte Wolfgang sich einsam, schwarze Verse kamen ihm in den Sinn, die er ohne Kommentar an Diethild schickte:

Berlin, den 24. 1. 54, Liebe Diethild!

tot ist die Welt um mich her, alles ist leer.

ich wandre wie am weiten meer.

ach es ist so furchtbar schwer, allein zu sein.

gedanken ziehen dahin, kein gewinn .

hat das denn noch einen sinn, dass ich so einsam bin?

ach nein, muss sein.

einstmals durfte ich wissen,

nie missen würd’ ich dein liebendes küssen,

bis einst wir scheiden müssen, du mein, ich dein.

liebferne hemmt mir das blut,

ohne mut trink ich des lebens schwarzen sud.

keiner mich liebt, mir wirklich gut, nichts mein, allein.

Stuttgart, den 26.1. 54, Lieber Wolfgang!

Ich schreibe in Eile, aber ich muss es loswerden: Dein Gedicht hat mich furchtbar erschreckt und ich bin sehr traurig. Warum willst Du denn jetzt nichts mehr von mir wissen? Ich liebe Dich doch so sehr und Du bist mir alles, was ich habe! Ich bin ganz verzweifelt, weiß nicht, was ich tun soll. Bitte, schreib mir doch recht bald, damit ich weiß, woran ich bin.

Herzliche Grüße, Deine (?) Diethild

Berlin, den 29. 1. 54, Mein liebes, geliebtes Mädel!

Entschuldige bitte, dass ich Dir mit meinem Gedicht solchen Schrecken eingejagt habe, ich habe überhaupt nicht bedacht, wie diese Zeilen auf Dich wirken könnten. Natürlich liebe ich Dich über alles und werde Dich nie lassen, ich weiß gar nicht, was ich ohne Deine tiefe Liebe tun sollte. Kannst Du mir meine Dummheit verzeihen? Ich fühlte mich einsam und allein. Es war wohl die Liebe, die mir fehlte, und Du warst so weit weg.

Kennst Du die Sage von Walther und Hildegund, wo die beiden in einer Höhle übernachten? Walther hat den ganzen Tag gekämpft, jetzt bewacht Hildegund den Eingang und hält sich durch Singen wach, während Walther schläft, den Kopf in ihrem Schoß, um am nächsten Morgen in hartem Kampf die Feinde zu besiegen. Das ist es, was Kaekke in seinem Gedicht sagt: „Ich möchte tief ausruhen, du würdest mich trösten und sorgen für mich und sehen, was mir fehlt.“ Dann ist auch das andere möglich: „Ich würde gehen und kämpfen für dich, und was dich beseelt, das wäre am größten.“ Und jetzt will ich das Gedicht um einen Vers erweitern:

doch eines darf ich wissen: nie missen

werd‘ ich dein liebendes küssen, bis einst wir scheiden müssen , du mein, ich dein.

Ich werde Dich immer lieben, was auch geschehen möge! Ich küsse Dich in Gedanken, Dein Wolfgang

Stuttgart, den 4. 2. 54, Mein lieber, lieber Wolfgang!

Hab ganz herzlichen Dank für Deinen lieben Brief, in dem Du mir Deine Stimmung erklärst, die Dich zu diesem Gedicht gebracht hat. Ich war ja richtig blöd, an Deiner Liebe nur im Geringsten zu zweifeln, wo Du mir doch bloß Deine Einsamkeit und Sehnsucht vermitteln wolltest. Was gäbe ich dafür, bei Dir zu sein und Deinen Kopf in die Hände nehmen und streicheln zu können! Ich bin ja so froh und glücklich, dass meine Sorge unbegründet war und Du mich weiter so tief liebst wie bisher. Ganz herzliche Grüße, Deine Diethild

Berlin, den 17. 2. 54, Meine geliebte Diethild!

Ich kann Dich am 6. 3. besuchen und freue mich schon ganz mächtig darauf, bei Dir zu sein und Deine süßen Lippen zu schmecken. Doch auch das Gespräch sollte nicht zu kurz kommen, nachdem wir unsere Gedanken fast ein halbes Jahr lang nur schriftlich austauschen konnten.

Ich grüße Dich in tiefer Liebe, Dein Wolfgang

Stuttgart, den 24. 2. 54, Mein Lieberle!

... Meine Chefin sagt mir heute, sie seien am 7.3. zu einer Hochzeit eingeladen und wenn sie nicht da sei, möchte sie nicht, dass Du herkommst. Du weißt, wie sehr ich mich auf das Wiedersehen mit Dir gefreut habe. Könnte ich Dir nur über die Enttäuschung hinweg helfen. Trotzdem grüße ich Dich voller Liebe, Deine Diethild

Wolfgang fuhr schon eine Woche eher. Abends meinte die Geliebte, er solle bei ihr bleiben, ihre Herrschaft sei bei einem Fest. Bald lagen sie aneinander gedrückt und küssten und liebkosten sich nach Herzenslust. Erst gegen 23 Uhr verabschiedeten sie sich mit heißen Küssen. Im Hotel fiel Wolfgang ein Gedicht ein, das ihre Liebe beschrieb:

Ich weiß ein Mägdelein, das ist weit fort von mir.

Es ist so gut und rein und tut gefallen mir.

O, süßes Mädel mein, bin ich erst mal bei dir,

dann woll’n wir fröhlich sein und uns sehr lieben, wir!

Und bin ich dann allein und wieder fort von dir,

dann soll dein Bild doch sein allein im Herzen mir.

Diethild freute sich am Sonntag über das Gedicht. Wolfgang gab der Liebsten seine Tagebücher vom vorigen Jahr. Beim Essen schlug er vor, sie sollten sich noch in diesem Jahr verloben. Diethild fürchtete den feierlichen Sums, doch Wolfgang nannte ihr die Gründe:

- Inoffiziell waren sie schon seit Endorf verlobt. Die Ehrlichkeit erforderte die offizielle Bekanntgabe.

- Er hatte es mit den Berliner Mädchen schwer, siehe Ingrid, Jutta.

- Siehe auch Diethilds Chefin. Über allen Treffen von ihnen lag ein Hauch des Illegalen.

Stuttgart, den 3. 3. 54, Mein geliebter Wolfgang!

... Gestern konnte ich einfach nicht schreiben, weil ich weiter lesen musste in Deinen Tagebüchern. Ich kann Dir gar nicht sagen, wie dankbar ich Dir für diesen Beweis des Vertrauens und der Liebe zu mir bin. Die Bücher helfen mir sehr, Dich als Ergänzung Deiner Briefe zu verstehen und kennen zu lernen. Denn im Grunde wissen wir doch sehr wenig voneinander. Nun sage mir bitte, was kann ich Dir geben, wo ich doch nie etwas geschrieben habe? Ich will Dir ja mit der gleichen Offenheit entgegen kommen, aber wie? ... Ich denke ständig an Dich und liebe Dich sehr. Herzlich, Deine Diethild

Berlin, den 14. 3. 54, Mein liebes Mädel!

... Es ist durchaus nicht nötig, dass Du auch anfängst, ein Tagebuch zu führen. Es macht allerdings Freude, wenn man später hinein gucken kann und sieht, worüber man nachgedacht und was man alles erlebt hat. Allerdings werden wir Männer Euch Frauen niemals ganz begreifen. Ich würde es auch als Entweihung ansehen, Deine geheimsten Gedanken und Gefühle auf diese Art kennen zu lernen. Wir sehen Mädchen ja nun einmal als Wesen aus einer anderen Welt an.

Gestern war ich mit Nuddle und seiner Schwester Christa im Konzert im Neubau der Musikhochschule: Die Oberon-Ouvertüre gefiel mir gut, weniger gab mir Schumanns Klavierkonzert. Aber vielleicht fehlt uns nüchternen Menschen heute der Sinn für solche Romantik. Wagner kam gewaltig an, ich merkte, wie er alle Mittel ausnützte. ...

In tiefer Liebe grüße ich Dich von Herzen, Dein Wolfgang

Stuttgart, den 8. 4. 54, Mein Lieberle!

Zu Deinem Geburtstag gratuliere ich Dir von ganzem Herzen und wünsche Dir viel Freude, Gesundheit und Erfolg im neuen Lebensjahr. Liebe brauche ich Dir nicht zu wünschen, Du weißt, dass ich Dir immer so viel davon geben will, wie ich nur kann. Deshalb freue ich mich so auf den Mai, weil wir uns dann beide wieder unsere Liebe zeigen können.

Ich habe Mutti jetzt reinen Wein eingeschenkt über uns. Natürlich musste ich nicht viel über Dich erzählen, Mutti kennt Dich ja. Dass Du kein schlechter Kerl bist, weiß sie, sonst hätte ich Dich sowieso unbesehen abgeschoben. Vielleicht müssen wir dann doch unsere Liebe „offiziell“ machen, wenn Du uns mal in Landstuhl besuchst. Mein Bruder sagt, es sei Muttis Recht zu wissen, „an wen sie ihre Tochter hergibt“.

Ich grüße Dich ganz von Herzen, Deine Diethild

Berlin, den 12. 4. 54 Meine liebe, geliebte Braut!

Hab herzlichen Dank für Deine lieben Geburtstagsgrüße und die süßen Gutsle. Ja, Du hast Recht, Liebe gibst Du mir schon jetzt so viel, wo wir noch nicht beieinander sind, dass mehr kaum noch geht. Ich begreife immer noch nicht mein großes Glück, von Dir so sehr geliebt zu werden.

An meinem Geburtstag habe ich einen langen Spaziergang durch den Wald gemacht und erkannte: Die Natur ist die Grundumgebung des Menschen. Das sagten mir die dicken grünen Knospen, das hörte ich aus dem Schnarren des Eichelhähers, das sah ich aus den Schwimmbewegungen der Erpel im Vogelschutzgebiet. Denn in der Verbundenheit mit der Natur erkennt der Mensch den Schöpfer dieser Natur und seiner selbst. Der Mensch, der die Verbindung zur Natur verliert, verliert sich selbst und Gott. Wie steht nun die Technik dazu, war dann meine Frage. Schließlich bin ich ja im Begriff, ein Diener der Technik zu werden. Viele verfluchen heute die Technik, weil sie den Menschen unfrei mache. Was ist daran wahr? Auch auf diese Frage fand ich eine Antwort. Am Riemeisterfenn wird ein großes unterirdisches Wasserwerk gebaut. Unterirdisch ist es, um das dortige Naturschutzgebiet zu schonen. Nur ein kleines Landhaus wird von dem ganzen Werk zu sehen sein. Und da wurde mir plötzlich klar: Auch in der Technik ist der von Gott der Menschheit zu treuen Händen gegebene Geist. Auch sie kann zur Ehre Gottes durch die Menschheit dienen. Technik, die die Natur als Lebensgrundlage des Menschen achtet, ist gut und wertvoll. Und hier erkannte ich meine Aufgabe als künftiger Ingenieur: Dafür zu sorgen, dass der Mensch Mittelpunkt sämtlichen Strebens bleibt, dass weder tote Dinge noch Unmenschen sein Leben beherrschen.

Ich freue mich, dass Du mich schon ein bisschen in Deine Familie eingeführt hast. Ich hätte durchaus kein Problem, mich ihnen vorzustellen. Deine Mutter habe ich schon geschätzt, als ich sie noch gelegentlich wegen Deines Bruders besuchte. So denke ich, dass wir irgendwann im Herbst unsere Verlobung feiern sollten. ... Ich würde Dich so gerne küssen, aber das holen wir bald reichlich nach. Viele herzliche Grüße, in tiefer Liebe, Dein Wolfgang

Stuttgart, den 19. 4. 54, Mein lieber, lieber Wolfgang!

... Ich kann es überhaupt noch nicht fassen, dass ich schon am nächsten Mittwoch hier aufhöre und Samstag in Berlin bin! Meinen Flugtermin werde ich Dir baldmöglichst mitteilen, damit Du das kleine Mädchen unter Deine Fittiche nehmen kannst, wenn sie zum ersten Mal ihren Fuß durch das Großstadtleben lenkt. Jedenfalls freue ich mich schon soo schrecklich und grüße Dich ganz herzlich, Deine Diethild

Am 1. 5. holte Wolfgang seine Braut mit einem Rosenstrauß in Tempelhof ab und abends tanzte er auf einem Tanzabend im Jugendhaus fast nur mit ihr. Am 4. 5. feierten sie bei ihm mit Kaekke und Ingrid bei Wein, Musik und Dichtung Diethilds Volljährigkeit.

Sonntag besuchten die beiden einen Abendmahlsgottesdienst. Es war für Wolfgang ein bewegendes Erlebnis, das Abendmahl Hand in Hand mit seiner geliebten Braut zu nehmen. Beide sahen diese Feier als Bestätigung ihrer tiefen Liebe und engen Gemeinschaft durch Gott an.

Nach dem Mittagessen fuhren sie nach Kladow, wo sie sich während eines langen Spazierganges ins Gras setzten, weil das Küssen so besser ging. Bald lagen sie nebeneinander und streichelten sich über der leichten Sommerkleidung zärtlich am ganzen Körper. Zum ersten Mal liebkoste Wolfgang Diethilds Brust durch die leichte Bluse und staunte über deren Weichheit. Das erregte ihn und Diethild fühlte das, das Streicheln ihrer Brust hatte auch sie erregt. Sie drückte ihren Bauch so eng an ihn, dass ihn die Erregung überwältigte und er sein Zucken und Stöhnen nicht verbergen konnte. Natürlich merkte Diethild das, denn sie atmete heftiger und ihre Zunge wühlte seinen Mund auf.

Wolfgang ahnte, dass sie es gemerkt hatte und traute sich nicht mehr, sie zu küssen. Hatte er alles kaputt gemacht? Da blickte sie ihm tief in die Augen und sagte leise: „Es war wunderschön, dich so zu erleben“. Sie betonte das Wort „so“ und er wusste, was sie meinte. Seine Geliebte hieß ausdrücklich gut, was ihm passiert war! Das überwältigte ihn derart, dass er sie herzlich küssen musste. Für beide war dies gemeinsame Erleben wundervoll, nachdem sie am Vormittag im Abendmahl ihre enge Gemeinschaft vor Gott besiegelt hatten. Sie waren sich wieder ein gutes Stück näher gekommen und hatten erkannt, welch Feuer in ihnen verborgen war.

Der Abend klang bei Wolfgangs geliebten „Hoffmanns Erzählungen“ in der Städtischen Oper aus. Als die Barkarole erklang, legte er den Kopf an Diethilds Schulter und flüsterte: „Ich kann dir gar nicht sagen, wie ich diese Melodie liebe. Hab Dank, Geliebte, für diesen herrlichen Tag.“ Die beiden brauchten lange, um sich nach der Vorstellung zu trennen, so schön war ihre Liebe.

Am 11. 5. brachte Wolfgang die Geliebte zum Flughafen. Sie wollte in Landstuhl, wo ihre Mutter mit den jüngeren Geschwistern lebte, eine Stelle als Kindermädchen in einem amerikanischen Haushalt antreten. Als die beiden sich zum Abschied innig küssten, sahen sie eine strahlende gemeinsame Zukunft vor sich liegen. Sie ahnten nicht, dass dieser Kuss ihr letzter sein würde. Um 6:30 entführte das Flugzeug Diethild auf Nimmerwiedersehen.

Landstuhl, den 14. 5. 54, Geliebter!

... Gestern Abend war ich mit dem CVJM-Führer Hermann Rübel (Kaekkes Alter) und meiner Freundin Gerda in Kaiserslautern. Pfarrer Busch aus Essen sprach über das Thema „Kann Liebe Sünde sein?“ Ich war begeistert von der Art und Überzeugungsgewalt dieses Mannes Er hat uns alle gepackt mit dem, was er sprach. Auf dem Heimweg habe ich mich dann mit den beiden prima unterhalten. Zuerst sprachen wir über die Gruppe, dann über Bach und zeitgenössische Musik. Ich glaube, mit Hermann könnte ich gute Kameradschaft halten. Für Dich besteht kein Grund zur Besorgnis. Es liegt also nur daran, ob es von „seiner“ Seite so bleibt. Ich werde mein Möglichstes tun. Ich denke immer noch an die schönen Tage in Berlin und grüße Dich ganz herzlich, Deine Diethild

Berlin, den 16. 5. 54, Meine geliebte Diethild!

... Ich erzählte Kaekke von dem Erlebnis der Oper, da fragte er, was wir gehört hätten. Da erfuhr ich, dass er mit Ingrid auch in der Oper war, allerdings im zweiten Rang. Aber in der Pause waren sie wie wir unten auf der Straße. Wie findest Du das? Sie müssen ebenso ineinander versunken gewesen sein wie wir. Und das freut mich sehr: Ich habe das Gefühl, Kaekke und Ingrid haben sich gern. Ich bin sehr dankbar dafür. Aber es ist ein eigenartiges Gefühl zu beobachten, wie jetzt auch in das Leben des Freundes ein Mädchen hinein wächst, wie er, der sonst alles mit mir besprach, nun auch in manchen Dingen das Geheimnis wahrt.

Ich möchte Dich stundenlang küssen und grüße Dich von ganzem Herzen, Dein Wolfgang

Landstuhl den 20. 5. 54, Mein lieber, lieber Wolfgang!

... Ich finde es fast unglaublich, dass Kaekke und Ingrid an besagtem Abend auch in der Oper waren. Dass Liebe derart blind macht, hätte ich nie gedacht. Aber ich würde mich freuen, wenn aus den beiden etwas würde. … Mit Hermann und einem anderen Mädel stiegen wir gestern Abend auf die alten Zinnen, ein bisschen singen. Ein Feuerchen hatten wir auch, die Leute wollen ja so viele Lieder von mir lernen. An diesem Abend war Hermann vielleicht ein bisschen verschossen, obwohl ich es nicht darauf angelegt hatte. Sicher war auch die romantische Stimmung bei Feuer und Nacht und Singen daran schuld. Heute machten wir dann reinen Tisch. Während stundenlanger Nachtgespräche vor unserer Haustür sprachen wir über Kameradschaft und ähnliche Themen.

Hermann fehlt ein Freund, dem er alles sagen kann, was ihn bewegt; ein Mädchen hat er nie gehabt. Er wunderte sich, dass er mir gegenüber so offen war. Es sei das erste Mal, dass er überhaupt mit jemandem über sein Innenleben spreche. Irgendwie ist mir das nicht ganz Recht, wenn er so total auspackt, weil ich ihm doch nicht so nahe stehe wie Dir. Ich frage mich immer, bin ich befugt, solch Vertrauen entgegen zu nehmen? Ich kann ihm wohl in manchem helfen, weil ich schon etwas älter bin und mir schon in manchem eine Meinung geschaffen habe. Er meint, er könne mit 90 % Sicherheit sagen, dass es bei ihm bei der Kameradschaft bliebe und rechne es mir hoch an, dass ich ihm gleich zu Anfang von Dir erzählt habe. Die meisten Mädchen täten das nicht.

In tiefer Liebe grüße ich Dich ganz herzlich, Deine Diethild

Berlin, den 26. 5. 54, Mein geliebtes Mädel!

... Heute hatte ich wenig Lust zu tanzen, bediente meist die Musik. Und war zum ersten Mal neidisch auf Kaekke. Fast jeder brachte ja ein Mädel nach Hause, er natürlich Ingrid. Und da beneidete ich ihn um diese Gemeinsamkeit, diesen Schatz, bei dem ich nur zusehen konnte. Ich saß dann lange unten an der Krummen Lanke, sagte mir, dass ich ja undankbar sei, ich habe doch Dich und Deine Liebe. Und trotzdem musste ich kämpfen, dass ich den Neid loswurde.

Früher war ich der Meinung, ein Junge sei in jeder Hinsicht der führende Teil, er könne auch ein Mädchen zu allem verführen, wenn er wolle. Dies trifft aber nicht zu, wenn das Mädel eine starke Persönlichkeit ist und der Junge nicht. Du bist stark und kannst Hermann menschlich viel geben; wenn er sich jedoch in Dich verknallt, liegt die Verantwortung bei Dir. Gerade weil es so schön ist, Dich zu lieben, ist es wohl schwer, kühl und unbeteiligt zu bleiben. ... Es ist eine große Freude, wenn man hören und mitfühlen kann. Ich habe mich oft gefragt, wodurch ich solch Vertrauen verdient habe. Da ein Verdienst in keiner Weise vorlag, konnte ich mir nur vornehmen, das Vertrauen in bester Weise zu rechtfertigen. Es ist ja für den anderen ein großes Geschenk, wenn er mal frei reden kann und jemand hört ihm zu. Sieh es einfach als Auftrag an, Hermann zu helfen. Ich liebe Dich unendlich, wenn ich Dich doch jetzt küssen könnte, Dein Wolfgang

Nach einigen weiteren Briefen kam das furchtbare Telegramm:

LANDSTUHL, 30.6.54 = DIETHILD TOEDLICH VERUNGLUECKT. BEERDIGUNG FREITAG MITTAG = HERMANN RUEBEL +

Wolfgang packte seinen Tornister, Auf dem Weg zum Kontrollpunkt Dreilinden traf er Ingrid, die ihn mit Tränen in den Augen umarmte, als er ihr von seinem Verlust erzählte. Ein Lastwagen nahm ihn mit. Unterwegs bat er den Fahrer, kurz zu halten, um ein Kochgeschirr märkischen Sand als Heimatgruß für Diethilds Grab mitzunehmen. Freitag früh erreichte er Landstuhl, wo Diethilds Mutter ihn liebevoll in die Arme nahm. Mit dem Rad auf dem Weg von der Arbeit war Diethild von einem schleudernden Anhänger überrollt worden. Auf dem Friedhof war ihr Sarg noch offen, fassungslos schaute Wolfgang in das Gesicht, das er geliebt und geküsst hatte wie kein anderes in seinem Leben. Behutsam drückte er einen Kuss auf die blutleeren Lippen, so zart und leicht wie beim ersten Mal in Stuttgart. Bei der Trauerfeier schüttete er stumm den märkischen Sand auf den Sarg. „Wenn doch auch für mich ein Lastwagen käme“, dachte er verzweifelt. Doch plötzlich stand Kaekke neben ihm und umarmte ihn. Er war Wolfgang sofort nachgefahren, als er von Diethilds Tod erfuhr. Jetzt konnte Wolfgang reden, und der Freund hörte geduldig zu. Allmählich lichteten sich die Nebel und Wolfgang begriff, dass das Leben weiter gehen musste, auch ohne Diethild. „Du hast deinem Namen Ehre gemacht und mir Frieden gebracht, ich werde dich jetzt nur noch Bringfried nennen“, sagte er zu dem Freund.

In Berlin sprach Klaus Wolfgang an: „Um wen trauerst du? Diethild braucht keine Trauer, sie ist bei Gott. Du trauerst ganz allein um dich, um deine unerfüllten Hoffnungen.“ Langsam begriff Wolfgang, dass er trauern durfte, aber jetzt weiter leben musste. Seine Jungen und die Schule brauchten ihn. Und zum ersten Mal nach der Nachricht von Diethilds Tod konnte er wieder die Hände falten:

- Heiliger Gott, Du hast mich bis hierher geführt. Gib mir doch, dass ich erkenne: Alles ist für uns zum Besten nach deinem Willen und Deinem unerforschlichen Plan.

- Heiliger Gott, ich danke Dir für alles, was Du uns in dieser Zeit an Schönem geschenkt hast, ich danke Dir, dass ich diesem reinen Mädel Liebe geben durfte.

- Heiliger Gott, bitte gib mir Kraft, das zu tragen, gib mir Stärke und Mut, weiter Deiner Führung zu vertrauen.

Zu Weihnachten lud Mutter Trefel Wolfgang nach Landstuhl ein, es wurde ein besinnliches Fest. Für Bringfried schrieb er Auszüge aus seinem Briefwechsel mit Diethild in ein Oktavbuch mit dem Titel „Ein Kochgeschirr voll Sand“. Damit wollte er ihm danken, dass er ihm im Juli das Leben wiedergegeben hatte. Über die Jahreswende fuhren die Pfadfinderführer wieder in den Bayerischen Wald. Als Wolfgang am Feuer über sein Leben in diesem Jahr nachdachte, kamen ihm die Gegensätze zum Bewusstsein:

- Das unwahrscheinliche Glück, ein wundervolles Mädchen zu lieben und ihr auch körperlich etwas näher gekommen zu sein,

- und das unwahrscheinliche Leid bei ihrem Tode, als das alles mit einem Schlag nur noch schöne Erinnerung war.

Jetzt begriff er, dass er sich die wunderschöne Zeit mit Diethild nur bewahren konnte, wenn er sie nicht mit seinem Leid zudeckte, sondern sie strahlend in seiner Erinnerung wirken ließ. Dankbar bewahrte er die wunderbare Liebe und die wenigen herrlichen Tage mit ihr in seinem Herzen und wusste, Gott würde ihn weiter gut führen.

Lettres d'Amour

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