Читать книгу Heilige Corona, steh uns bei! - Ernst Ludwig Becker - Страница 7

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1. Kapitel

Meine Tochter

Meine Tochter Jasmina ist mit ihrem Freund Carlos seit dem Shutdown in ihrem Zimmer in Quarantäne. Das sind jetzt schon mehr als zwei Wochen, aber sie sagen: „Sicher ist sicher, bei dem Virus weiß man ja nie.“ Carlos ist Musiker, Austauschschüler und Spanier und siebzehneinhalb Jahre alt, meine Tochter ist sechszehneinhalb Jahre alt und meine Tochter, weil ich mit meiner antiautoritären Erziehung und dem Sozialgedöns, das ganze Schlamassel erst möglich gemacht hätte, sagt meine Frau, dabei kann ich mich gar nicht erinnern, sie je erzogen zu haben. „Hauptsache Gesund,“ sage ich immer und ich muss das Wissen, den in jeder meiner Klassen sind mehr als einunddreißig Schülerinnen und Schüler, die alle erzogen werden wollen, da ist das Motto überlebenswichtig.

Brigitte, meine Frau, ist Krankenschwester und sie sagt, sie kann sich das Virus jetzt nicht leisten, weil sie ja auch jeden Tag zur Arbeit muss und auch noch Sonderschichten am Wochenende fährt und das bei der Bezahlung und ich mit meinem Pensionsanspruch und dem Supergehalt noch nicht einmal mehr aus den Hausschuhen raus käme. Sie ist halt Systemrelevant und ich bin nur ein normaler Pädagoge. Ich finde das gewissermaßen ungerecht, denn schließlich bin ich der, der sich jeden Tag in den überfüllten Supermarkt und in den Bio-Laden um die Ecke wagt, um die speziellen Wünsche meiner Tochter zu erfüllen und ganz nebenbei auch für den Rest der Familie einzukaufen. Und das mit dem Fahrrad. Außerdem mache ich mir jeden Tag Gedanken über meine schutzbefohlenen Schülerinnen und Schüler und bereite den ganzen Lehrstoff in digitale Häppchen auf, die leichter zu verdauen sind und bin im Besonderen den verzweifelten Gedanken ausgesetzt, was wohl hinter der verschlossenen Tür meiner Tochter Jasmina geschieht.

Vor der Tür oder an der Tür hängt ein Poster der „Heiligen Corona“. Das ist die Schutzpatronin der Fleischer, Schatzsucher und des Geldes. Ich muss gestehen, ich kann mir alle drei Attribute bei meiner Tochter leider sehr gut vorstellen. Sie kann jeden fachgerecht zerlegen, jetzt mit Worten mein ich, in Schlagabtauschen. Sie dreht dich durch den Fleischwolf und zieht dir dein dünnes Fell über die Ohren oder auch erst andersherum, dass dir hören und sehen vergeht, was dann auch kein Wunder mehr ist, weil sie dir bis dahin den Kopf abgerissen hat. Die Lust auf Fleisch hielt sich bei ihr in Grenzen und ist seit einigen Jahren völlig abgestellt und wie bei den meisten wirklichen Metzgern auch, liebt sie eher die süßen Dinger, wie Marmeladen und das ganze andere Naschwerk. Obst und Gemüse sowieso, aber selbstverständlich nur in Bio-Qualität. Die Schatzsuche ist wohl in jedem Menschen fest verankert, das muss schon in den Genen eingearbeitet worden sein. Sobald Jasmina stehen konnte, zog sie alle erreichbaren Schubladen auf und verteilte die Sachen auf dem Boden, bis sie ihren Schatz gefunden hatte. Manchmal hatten wir Glück und sie fand ihn schon in der ersten Lade, meistens zog sich die Spur von der Küche ins Wohnzimmer und zurück, besonders auch nachdem sie laufen lernte. Das Suchen hängt heute nebenbei schon mal davon ab, was sie so als Schatz erkoren hat. In der Regel soll die Schatzsuche nach den ersten drei bis sieben Ehejahren ja dann abflauen. Und über Geld redet man nicht, das hat man. Meistens hat sie meins.

Jasmina sagt, die „Heilige Corona“ wäre auch die Schutzpatronin gegen alle Seuchen, Epidemien und viele andere aufdringliche Objekte und deshalb hängt das Poster hier, zum Schutz sozusagen, an der Tür und sie war erst sechszehn Jahre alt, die Heilige Corona, genau wie sie, als sie für ihren Geliebten den entsetzlichen Tod der christlichen Märtyrerin starb. Zwischen zwei straff gespannte Palmen wurde das junge Mädchen angebunden und die Schergen haben diese dann senkrecht hochschnellen lassen. Dabei wurde sie in der Luft zerrissen. Eine ziemlich schreckliche Sache damals und das wäre es auch heute noch. Es würde mich so nebenbei interessieren, ob eine tote Märtyrerin im muslimischen Himmel auch zweiundsiebzig junge Männer bekommt?

Aber das diskutiere ich jetzt nicht mit meiner Tochter. Sie denkt, die Zeiten wären schon wieder so wie früher, mit Pest und Cholera, das ganze Mittelalter kommt wieder zurück, die Diskriminierung und die Jagd auf Menschen. Es fehle nur noch die Hexenverbrennung. Sie würde für ihren geliebten Carlos ebenfalls sterben, wenn wir ihn in diese gefährliche Welt da nach draußen verweisen würden, wenn wir ihm nicht Schutz und Hilfe angedeihen lassen. Diese ehernen Züge muss sie von ihrer spanischen Großmutter geerbt haben. Das resistente, dramatische Gen. Leider hat sie die Nana Alejandra nicht mehr kennenlernen dürfen.

Ich habe dann mal interessehalber nachgeschaut, was es alles so für Schutzheilige und Schutzpatrone gibt. Also Junge, Junge, die würden jetzt nicht alle in dieses Büchlein passen. Ich war der Ansicht, dass das alles der liebe Gott macht oder machen würde. Obwohl mir da just einfällt, dass ich einmal mit meiner Brigitte und ihrer ganzen Familie in einer heiligen Messe war, also so ein katholischer Gottesdienst, in welchem wir eine geschlagene Stunde stehen mussten, bis der Diener Gottes so annähernd alle Heiligen aufgerufen und allen gedankt hatte. Mir wurde damals ganz schwindlig, weil ich noch nicht das katholische Stehvermögen hatte und außerdem mir der heiße Wachs der gesegneten Kerze schmerzhaft über die Hände lief.

Die Heilige Corona, die je nach der überlieferten Legende auch Stephana genannt wurde oder wird und die sich sorgende und liebende Ehefrau des ebenfalls heiliggesprochenen, römischen Soldaten Victor von Siena oder Victor von Ägypten war, welcher unter der ersten Christenverfolgung gefoltert wurde, teilt sich die Aufgabe der Seuchenbekämpfung mit Alexius von Edessa, der auch für die vielen Pilger, Bettler, Vagabunden und sonst alle Kranken zuständig ist und zusätzlich bei Blitz, Erdbeben, Unwetter, Pest und Cholera und damit auch bei Seuchen angebetet werden kann. Multitasking nennt man das heute, oder Mehrfachaufgabenperformanz, um das mal klarer zu benennen. Womit so nebenbei der geschichtliche Beweis erbracht wird, dass auch Männer das Beherrschen. Jeder Ort, jede Stadt, jedes Fleckchen unserer Erde hatte oder hat einen oder mehrere Schutzpatronen oder Patróninnen, je nach dem wer heute oder damals dort regierte. Für alle Berufe und Tätigkeiten gibt es Heilige, auch für Berufe, die es erst in unserem modernen Zeitalter gibt. Mir fällt da eine halsbrecherische Taxifahrt in Griechenland ein, bei welcher ich auch gerne die goldene Gebetskette und das überladene Reliquien Kreuz vom Rückspiegel in den Händen gehalten hätte. Für oder gegen Krankheiten hat es jede Menge Heilige, also sicherlich für jede Krankheit einen oder eine. Ich meine das könnte man auch einfacher machen, rationalisieren, damit man nicht so lange suchen muss, bis man den richtigen Heiligen oder die richtig Heilige findet. Das sind manchmal nur Minuten bis der Rettungswagen kommt. Auf dem Land kann man sich dafür vielleicht etwas mehr Zeit lassen.

Der Schutzpatron der Schriftsteller, Journalisten und Gehörlosen ist Franz von Sales, was mich dann doch etwas aufhorchen ließ. Was haben Schriftsteller mit Gehörlosen gemeinsam? Überhaupt gibt es da sehr merkwürdige und vielerlei bizarre Zusammenstellungen. Für die Tiere und Medien gibt es welche, und für die in Not und Bedrängnis geratenen Menschen. Die „Vierzehn Nothelfer“ zum Beispiel und ich dachte immer, das wäre eine Biersorte. Für Jasmina habe ich schon mal die Schutzpatronin für Jungfrauen ausgesucht. Da gibt es sogar eine ganze Reihe von Patrónen und Patróninnen. Da bin ich wohl nicht der einzige, der sich da mal Sorgen macht oder gemacht hat. Ich habe mich dann für die Jungfrau Maria entschieden, weil sie sicherlich die einzige Frau ist, die nach der Geburt ihres Sohnes auch Jungfrau geblieben ist.

Konrad Zuse sei Dank, gibt es ja Computer, moderne, personalisierte Computer sogar, an welchem die beiden einsamen Separatisten Stundenlang sich beschäftigen können und ihre Hausaufgaben erledigen könnten. Meist laufen aber Videoclips und viel Musik ist zu hören und wenn es besorgniserregend lange Zeit keine Gespräche oder Geräusche gibt, sagt Jasmina, dass sie wichtige Sachen recherchieren und so den Kampf gegen den Klimawandel vom Schlafzimmer aus mitorganisieren, wenn ich es dann mal wage an der Tür zu klopfen und zu fragen. Nicht dass Sie jetzt denken ich würde da lauschen. Aber das war schon vor Corona Zeiten so. Auf Privatsphäre wird in unserem Haus besonders geachtet, besonders bei den Kindern. Und welche Eltern wollten die musikalische Karriere ihrer lieben Nachkommen gefährden, auch wenn der Gitarrenunterricht nachts um halb zwei mit lautstarken Halbtönen und grellen Zwischenrufen und Gesängen, die nächtliche Familienidylle unverhältnismäßig lange strapazieren, abgesehen von den ungewöhnlich bizarren Träumen, die ich danach hatte.

Jasmina hat das Talent zu einer lebenskundigen Balladensängerin. Die urigen, spanischen Modulationen wecken bei mir die schönsten Urlaubserinnerungen, als sie noch mit Schippchen und Eimerchen am Strand die Sandburgen baute und mir den Sand auf dem Bauch auftürmte. Das waren die sorgenlosen Zeiten, mit nassen Windeln, wunden Hintern und den kleinen Kinderkrankheiten. Brigitte kannte alle Krankheitszeichen und die Remedios, also die Heilmittelchen.

Mit ihren Augen konnte sie jedes Herz erweichen, mit ihren klugen Sprüchen als Dreikäsehoch alle Lacher auf ihre Seite ziehen und im Supermarkt brauchte sie nur die Luft anhalten und schon wurden ihre Herzenswünsche erfüllt. Zugegeben hatte ich da weniger Durchhaltevermögen als meine Ehefrau, aber für was ist man schließlich Vater. Die Natur hat sich etwas dabei gedacht, als sie den Beschützerinstinkt eingeführt hat. Hätten die Babys nicht so niedliche Gesichter, besonders die eigenen, wären schon einige, gelinde gesagt, vor die Türe geschoben worden, nach den stundenlangen Schreikrämpfen, den besudelten Abendkleidern und den vielen schlaflosen Nächten. Kurz vor dem parentalen Burnout zeigen sie dann ihr kleines himmlisches Baby Lächeln mit ihrem süßesten Glucksen, das es jemals gab und dessen Anblick uns das Herz zerfließen lässt. Mann muss sie einfach lieb haben.

Brigitte sagt, Jasmina hatte mich schon mit vier Jahren um den kleinen Finger gewickelt, nur konnte ich ihr in diesem Moment nicht gestehen, dass sie sich um achtundvierzig Monate verschätzt hatte. In manchen Momenten muss man wirklich der Klügere sein. Mit sechs Jahren gingen wir dann beide zur Schule. Da war sie noch mein Engelchen. Jasmina war bereit für die große, weite Welt, so wissbegierig aber zurückhaltend mit ihren vielen Talenten. Nichtsdestoweniger, sie lernte schnell und mit acht fing dann die Umerziehung an und sie zeigte uns, wie man das richtig macht. Ich konnte auf diese Weise noch ausgesprochen viel von ihr lernen und das auch im Unterricht verwenden. Beliebt war bei ihr das Frage und Antwort Spiel, - was wäre, wenn? - oder - wenn du? - und - ist nicht? Aber nehmen sie das mal einunddreißig, plus die drei Knirpse, die dich ständig etwas fragen, dann können sie erahnen, dass die eine Schulstunde für das Future Perfect Simpel viel zu kurz ist.

Mit zehn Jahren hatte sie ihre „Phasen!“ Der Wechsel der Haarfarben schien mir im Minutentakt zu erfolgen und ich hatte die Befürchtung mehrere Töchter zu besitzen, die sich abwechselnd die Buttermilch aus dem Kühlschrank holten. Einmal hatten die Haare auch keine Farbe und waren unterhalb der Augenlider abgeschnitten. Undurchsichtig wollte sie damit wirken. Brigitte sah nur ihre Gesundheit gefährdet, also die von Jasmina, wegen der vielen Chemikalien und schickte sie des Öfteren ins Zölibat, was dem Türrahmen ihres Verlieses gar nicht gut bekam und ich zur Reparatur den Pritt-Stift opfern musste. Die untere Hälfte meines geliebten Mucha Posters im Badezimmer litt auch in einer dieser stürmischen Phasen, obwohl ich täglich darauf achte, dass ausreichend Toilettenpapier vorhanden ist. Das Piercing in der Nase durfte sie behalten, nachdem sie mehrere Tage bewegungslos im Bette lag. Mit zehneinhalb hatte sie ihre ersten Tage, war dann erwachsen und ihr Zimmer eine No-Go-Area. Mit zwölfeinhalb Jahren ging sie in den Untergrund, kettete sich an Bäume und war sogar schon in der Zeitung abgelichtet. In einer dringend einberufenen Familienkonferenz wurde einstimmig von ihr entschieden, dass wir uns von heute an, nur noch vegetarisch ernähren sollen. Vor dem Shutdown ging sie freitags schon Monate lang nicht mehr zur Schule, erst sollten wir mal unsere Hausaufgaben machen, meinte sie und stand mit Carlos an vorderster FFF Front. Mit Gitarre, geballter Faust und Venceremos auf den Lippen.

Da bin ich jetzt auch mal stolz auf meine Tochter und ihre Generation. Sie sagen, die Klimakrise ist eine reale Bedrohung für unsere Zivilisation und es wäre unsere wichtigste Aufgabe im einundzwanzigsten Jahrhundert die Erderwärmung zu stoppen. Bei der Energieerzeugung, im Wohnungssektor, bei der Industrie, bei Transport und Verkehr, sowie in der Landwirtschaft müssten sich viele Dinge ändern. Wir sollen mit unseren Ressourcen sparsamer umgehen, damit auch sie und zukünftige Generationen noch vernünftig leben können. Und sozial gerecht muss das sein. Sie hoffen natürlich, dass trotz der Corona Krise, die Menschen weiter diese Probleme angehen, ja, dass die Menschen mal auf die Wissenschaftler genauso hören, wie jetzt auf die Virologen. Sie wollen den globalen Wahnsinn überwinden, den Klimawandel stoppen und kämpfen für eine sichere Zukunft für alle. Nur habe ich jetzt die Befürchtung, dass sie ihr ganzes revolutionäres, flüchtiges Leben und ihre Zukunft in den wenigen Wochen in diesem Zimmer durchleben wollen und mache mir Gedanken, ob mir Corona in Jasminas Sanktissimum lieber wäre als der Spanier Carlos.

Unsinn. Hauptsache Gesund.

Heilige Corona, steh uns bei!

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