Читать книгу Heilige Corona, steh uns bei! - Ernst Ludwig Becker - Страница 8

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2. Kapitel

Der Sohn

David, unser Sohn, ist circa vierzehn Jahre alt. Es ist nicht so, dass ich nicht genau wüsste wann er geboren wurde, aber er war schon von Anfang an ein unscheinbares Kind. Einmal hätten wir ihn fast in einem Schnellrestaurant in seiner Babyschale vergessen, was unter anderem auch daran lag, dass meine Englischschüler dort ihr erarbeitetes Kulturwissen erproben wollten. Den kulturellen Schaden wollte ich nun nicht mit verantworten, nach allem was ich den Schülern so gepredigt hatte über dieses weltweite, krank machende Fastfood Essen, die Gleichmacherei, von Qualität und Arbeitsbedingungen ganz zu schweigen und wollte unerkannt entschwinden. Wir waren schon fast aus der Tür, als die asiatisch aussehende, äußerst fürsorgliche Mitarbeiterin uns den Jungen hinterher gebracht hatte. „Hallo, sie haben ihr Baby vergessen!“ rief sie uns durch den ganzen Raum zu, in dem sich so ziemlich alle Augenpaare auf mich gerichtet hatten. Als Vorbild sollte man sich auch wirklich vorbildlich verhalten und man muss halt immer wissen, was für das Ansehen wichtig ist.

Die Nächte waren problemlos, keine Kinderkrankheiten, an die ich mich erinnern kann und er gehört uns beiden, mir und meiner Frau, soweit ich das aus der Ferne beurteilen kann, denn eigentlich bekomme ich ihn selten zu Gesicht. Während der gemeinsamen Mahlzeiten ist er äußerst wortkarg und auf unsere Fragen gibt er schmallippige Antworten. Das erinnerte mich an den Großvater von Brigitte, väterlicherseits, dem man auch alles aus der Nase ziehen konnte. Den spanischen Großvater hatten wir nie kennengelernt. Brigitte sagt, die verschwinden ab einem bestimmten Alter und werden nie mehr gesehen. So wie bei uns die Katzen. Das habe ich ihr aber diesmal nicht geglaubt.

David hat zwar auch ein paar Gene von seinem spanischen Großvater, aber ich glaube nicht, dass das was mit seiner Zurückgezogenheit zu tun hat. Ich hege den Verdacht oder habe die Theorie, dass das was mit seinem ersten Geburtstag zu tun haben könnte. Damals kam die „ganze!“ Verwandtschaft aus Spanien zu Besuch, auch weil damit seine Taufe abgeschlossen werden sollte. Der Anfang der Taufe mit den anhaltenden, zermürbenden Debatten zwischen mir und Brigitte wurde zu ihren Gunsten ausgefochten. Ihre Mutter würde sich im Grab umdrehen, wenn der Junge nicht getauft würde. Das wollte ich dann doch nicht riskieren. Man weiß ja nie was danach noch passieren könnte. Auch der neue Pastor hatte da zumindest seine Finger mit im Spiel, weil er sich auf den liebenswerten David als seinen ersten Teufling freute. Jedenfalls hatte damals die „ganze!“, überwiegend weibliche Verwandtschaft, den armen Tropf so dermaßen abgeschmatzt, dass er einen bleibenden Schaden abbekommen hatte. Meine Eltern hatten auch mal einen Hund, der bei jedem Kindergeburtstag im ganzen Haus nicht mehr aufzuspüren war.

David hat sein Zimmer im Souterrain, was seiner Absonderung noch zugutekommt. Außerdem hat er dadurch die gewinnbringendsten Möglichkeiten, seinen multiplexen, verschleierten „Business Ideas“ nachzukommen, ohne besonders bei uns nachfragen zu müssen. Denn er ist erstaunlich geschäftstüchtig und hat schon mehrere Existenzgründungen hinter sich. Ich glaube, dass lernen die Kinder schon im Kindergarten. Ein paar Wochen nach seiner offiziellen Aufnahme in der Zauberkiste, hatte er mehr Murmeln als alle Jungs im Hort zusammen. Überhaupt schien da unter der Aufsicht der Kindergärtnerinnen der ein oder andere Wildwuchs zu gedeihen. Mit den Murmeln war er an die Spitze der Sozialleiter gestiegen und auch Zuhause versuchte er damit das Dienlichste dabei herauszuschlagen. „Nicht wahr, die Hausarbeit machen nur Frauen?“, fragte er mich mit seinen dreieinhalb Jahren, als ich gerade meine Hände vom Abspülen abtrocknete.

In seinem Aquarium tummelt sich eine Horde Guppys, schon in vierter Generation und zum Teil mit ausgefransten Heckflossen, aber seine Firma „Rent a Fish“ soll trotz Corona Shutdown noch immer Gewinne abwerfen. Den Verkauf von Spinnen musste er einstellen, nach dem wir ein paar äußerst erzürnte Anrufe einiger Eltern erhalten hatten. Brigitte bestand auch vehement darauf, dass das Einmachglas mit dem Spinnennachwuchs sein Schlafzimmer verlassen sollte. David ist an dieser Sache eigentlich überaus interessiert, Biologie und so und vor allem die Vermehrung, der Zuwachs sozusagen. Zurzeit experimentiert er mit gebräuchlichen, ganz normalen Pflanzen, wie er sagt.

Das scheint uns auch sicherer als die Tierzucht. Allerdings hat sich unser Stromverbrauch rasant erhöht wegen der Lampen in seinem Zimmer und ob sich das am Ende rechnet, frag ich ihn, wegen der Kalkulation. Er glaubt schon, manche Betriebskosten könnte er leicht outsourcen. Für den Notfall hat er trotzdem schon mal die Seiten vom Wirtschaftsministerium durchgelesen. Da gab es Hilfsanträge, die auf viel wackeligeren Beinen stehen, habe ich in den Nachrichten gehört. Mit den alten Rigipsplatten aus der Garage, die er spaßiger Weise als Rehgibsplatten tituliert, wollte er in seinem Zimmer schon eine Zwischenwand einbauen und den einen Teil des Zimmers untervermieten. Aber da hat Brigitte das letzte Wort noch nicht gesprochen.

Von der Ferne, das heißt vom Wohnzimmerfenster aus, beobachte ich wie die Jungs aus seiner Klasse durch den Garten schleichen und über sein Fenster in das Zimmer einsteigen. Immerhin halten sie den geforderten Mindestabstand und kommen in zeitlichen Interwallen. Wie die vierzehn Pennäler den Zwischenraum in seinem zwölf Quadratmeter großen Zimmer bewerkstelligen können, ohne den Austausch von Aerosolen und anderen Körperflüssigkeiten zu erleiden, will ich lieber nicht überprüfen. Was man nicht weiß, macht mich nicht heiß. So ähnlich hat es dieser eine FDP-Politiker in der letzten Anne Will Show auch gesagt. Das ist jetzt noch kein Grund die FDP zu wählen. Später erfahre ich dann doch, dass er, also David, nicht der FDP-Fritze, vierundvierzig Cent bei dem heimlichen Flohmarkt in seinem Zimmer erhalten hat, das wären fast neuneinhalb Prozent der Umlaufsumme, mehr als jedes Sparbuch heute abwirft, berichtet er mit Stolz. Da musste ich ihm tatsächlich einmal Recht geben. Wirtschaft und Geld waren bisher nicht meine Stärken und werden es wohl auch nicht sein. Nur während des Studiums hatte ich mich dem Kapitalismus und den Marxistischen Revolutionärinnen ein wenig angenähert. Ich kam aber nie nah genug an sie heran.

Alle Räder stehen still, wenn es das Corona will! So könnte man heute rufen. Aber natürlich geht es ja um unsere Gesundheit, da sind Arbeitsplätze einmal nicht die wichtigste Sache. Also um unsere unmittelbare Gesundheit. Andererseits, einige Räder laufen weiter. Die Braunkohle müssen wir jetzt erst einmal weiter abbauen, die Verbrennung der Kohle schadet uns ja nicht sofort und auch nicht allen. Ok, mit der chemischen Verseuchung könnte ein gewisses Krebsrisiko einhergehen oder rätselhafte, hormonelle Wachstumsstörungen, aber na ja, das betrifft vielleicht mehr die wenigen Länder, die sowas auch zulassen. Wir sind da außen vor, wir verdienen nur etwas dabei. Also jetzt nicht Sie und ich. Und was die ganzen Wissenschaftler und Ökologen schon seit dreißig Jahren fordern, damit die Erderwärmung geschmälert wird, schafft das Virus in ein paar Tagen. Der Verkehr ist weniger geworden und die Flieger sind am Boden und die Luftverpestung und der Lärm gehen zurück. Gewiss arbeiten jetzt verstärkt die Hintermänner, dass sich die Räder wieder drehen, schließlich geht es doch von neuem mal wieder um Gewinne und die armen Aktionäre will man ja auch nicht vergraulen.

David geht da viel taktischer vor. Man muss nur die Marktlücken erkennen, sagt er und eine solide, zukunftssichere, ökologische Basis aufbauen. Auf mehrere Standbeine kommt es an und systemrelevante Bereiche infiltrieren, da verlässt er sich ganz und gar auf die Lobbyisten. Der Rest des Lebens kommt dann schon von ganz allein. David wird da schon seinen Weg bestreiten. Wahrscheinlich hat er auch was mit dem Verschwinden unserer hochprozentigen, klaren Getränke aus der Alkoholschublade zu tun. Antony, unser langjähriger Freund aus England, brachte uns bei jedem Besuch eine Flasche Vodka mit. Als ich ihn dann mal fragte, warum er denn immer Vodka mitbringt und das aus England, sagte er: „There are a lot of Vodka bottles in your drawer. I think you like it.“ Ich hätte ihm erklären sollen, dass die da nur stehen, weil den Vodka keiner mag. Der Desinfektionsspender jedenfalls, den Brigitte extra für uns im Badezimmer aufstellte, um sie vor dem gefährlichen Virus zu schützen, verbreitet letzter Zeit ungewohnt gewöhnliche Gerüche, die mir die medizinische Händedesinfektion sensationell erleichtern. Man muss auch manchmal Opfer bringen für die Gesundheit. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann David in die Massenproduktion umsteigt. David ist noch in der Experimentierphase, also nicht wie Jasmina, die alle möglichen Phasen, und ich meine alle „Möglichen!!“, hinter sich hat und abgeklärt und überlegen der Zukunft entgegenblickt. Vielleicht repariert er die kaputten Türen auch selbst und Toilettenpapier ist der „Heiligen Corona“ sei Dank, und wegen seiner zukunftsweisenden Geschäftsempfehlungen ausreichend vorhanden. Noch lässt er sich auch auf ein altbewährtes Belohnungssystem ein. In der freien Wirtschaft würde man auch von Gehalt sprechen, aber David meint im Lohnsystem würde er mehr verdienen. Deshalb haben wir auch Pauschalen vereinbart. Den Vertrag hat er selbst entworfen und gleich eine Steigerungsrate eingebaut, die von der Erhöhung der Diäten im Landtag abhängig ist. Für Müll raustragen und Rasenmähen hat er auch eine Erschwerniszulage ausgehandelt. Für eine Eins im Zeugnis bekommt er fünf Euro, für eine Zwei vier Euro und für eine Drei im Zeugnis drei Euro. Bisher hatten wir Glück und mussten noch kein Geld für eine Vier oder Fünf ausgeben. Gewinnorientiertes Denken nennt man das, ob und wann die Hormone dann zuschlagen werden und das ganze System ins Wanken bringen, ist schwer zu sagen. Männer sind jedoch einfacher gestrickt. Ich seh` das ja bei mir.

Auch Carlos überraschte mich mit seinen kniffelig männlichen Nachfragen. Warum das Geschlecht von Mädchen sächlich ist, also es das Mädchen heißt und nicht „die Mädche,“ fragt er mich als ich das Essen vorbereite und er die Packung mit der Buttermilch aus dem Kühlschrank holt und ob das was mit „das Virus“ zu tun hat, dass das dann auch so wie ein „Mädche“ ist, eine gefährliche Sache halt. Ich versuche ihm zu erklären, dass das Geschlecht nicht immer vorhersagbar ist, dass man das bitter erlernen muss und dass das nichts mit dem Gefahrenpotential einer Sache zu tun hat, dass aber immer, wenn viele Gegenstände zusammenkommen, sie weiblich werden. Zum Beispiel „das Kind“ und „die Kinder,“ „der Hund“ und „die Hunde.“ Vielleicht hätte ich mir diesen Spaß nicht erlauben sollen. Ich sehe schon an seinem wirren Gesichtsausdruck, dass ich ihn damit sehr überfordert habe. Ich höre noch, wie er beim Fortgehen etwas in seinen pubertären Dreitagebart murmelt, „der Mann“ - „die Manne,“ „das Virus“ - „die Viruse“. Vielleicht sind viele Gestalten auf einmal doch gefährlicher geworden und vielleicht hätte ich die Sache pädagogischer angehen sollen.

Brigitte fragt mich, wann er, Carlos, gedenkt denn wieder nach Spanien zurückzukehren. So unter Männern hätten wir doch schon bestimmt darüber gesprochen? Carlos Gonzales Martines ist einer der vierundzwanzig Austauschschüler, die von der Corona Krise überrascht wurden und der als einziger politisches Asyl ersucht hat. Sogar die Lokalzeitschrift hat einen Bericht darüber geschrieben. Politisches Asyl, im Sinne von staatsmännisch oder vorsorgendes, kluges Verhalten. Er ist halt seiner Zeit voraus und wer würde ihn in dieser Situation jetzt zurückschicken? Schließlich ist Kost und Logis frei Haus und die psychischen Belastungen halten sich auch in Grenzen. Was tut man nicht alles für die Gesundheit und die Völkerverständigung. Wenn nur mal alle Europäer so hilfsbereit gewesen wären. Aber erst einmal hat jeder an sich selbst gedacht und alle Grenzen wurden verschlossen. Das müssen noch so alte nationalistische Entgleisungen sein, die aus virulenten Motiven hervorbrechen, da ist manchmal einer kränker als der andere. Die Hotspots sind nicht die ganzen Länder, sondern vielleicht ein paar Regionen, die überfüllte Mietskaserne, die Schlachtfabrik oder ein fast nächtlicher Verein.

Das wird auf alle Fälle viel, viel besser in der Zukunft werden, Dank der „Heiligen Corona“.

Jedenfalls in unserer Familie.

Heilige Corona, steh uns bei!

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