Читать книгу Gegen die Vergangenheit - Ernst Meder - Страница 7
3. Kapitel
ОглавлениеWir trafen uns bewusst zum ersten Mal am zwanzigsten September neunzehnhundertfünfunddreißig in der Synagoge in Berlin in der Levetzowstraße. Die war so groß, dass es Zufall war, dass wir uns überhaupt wahrgenommen haben. Gedankenverloren fuhr sie fort, da waren jeden Freitag fast zweitausend Gläubige, die sich zum Gebet eingefunden haben. Das Datum weiß ich deshalb so genau, weil fünf Tage vorher die Nürnberger Rassengesetze verabschiedet worden waren.
So wurden die Gesetze zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre damals genannt, darin wurden allen Nicht-Ariern, also uns Juden, die Bürgerrechte entzogen. Von einem Tag auf den anderen waren wir nur noch einfache Staatsangehörige keine Reichsbürger mehr.
Gab es denn keine Reaktionen oder Proteste aus dem Ausland, kam die Gegenfrage, wenn es denn welche gab, wie war die Reaktion darauf.
Sie haben alles ignoriert, es ist an ihnen abgeperlt wie Wasser an einer Regenpelerine. Es bewirkte genau das Gegenteil, erneut kam es in ganz Deutschland zu Boykottaufrufen. Sie stellten vor den Eingang jüdischer Geschäfte einen braunen Unformträger, der ein großes Schild in die Höhe hob, darauf stand „Deutsche kauft nicht in jüdischen Geschäften“. Auf Plakaten hatte man uns Juden schon länger als Kakerlaken oder sonstiges Ungeziefer bezeichnet, es waren abartige Darstellungen, die von der Mehrzahl der Deutschen gar nicht mehr wahrgenommen wurde. Nachdem der Protest gegen diese Zerrbilder ausgeblieben war, fühlten sich die Verantwortlichen bestätigt, sie gaben nur die Ansicht der Mehrheit wieder, so ihr Argument.
Nach dem neuen Gesetz durften Juden und Deutsche nicht mehr heiraten, zudem wurden Unterschiede gemacht zwischen Deutschblütigen, Juden und Mischlingen ersten und zweiten Grades. Danach galten Deutschblütige und Mischlinge als Reichsbürger, für Juden galt das aber nicht. Wegen der Gefährdung der Reinerhaltung des deutschen Volkes waren deshalb Ehen mit uns Juden verboten.
Die Diskussion über die neuen Gesetze war sehr groß, ein Teil unserer jüdischen Gemeinde glaubte nicht mehr daran, dass sich etwas ändern würde, dass wir Juden wieder als Teil des Deutschen Reiches anerkannt werden. Sie entschlossen sich, ihr Geschäft zu verkaufen, um im Ausland neu anzufangen. Es gab bereits die ersten Warner, die gesagt haben, dass alles noch viel schlimmer werden wird, dass wir besser woanders neu beginnen sollten.
Ephraim gehörte zu den Menschen, die positiv dachten, die überzeugt waren, dass die Nationalsozialisten nicht weiter die Juden als ihr persönliches Opfer betrachten konnten, dass das Ausland dies nicht zulassen würde. Er glaubte tatsächlich an das Gute im Menschen, er konnte sich nicht vorstellen, dass jemand ihn auch dann mutwillig verletzen würde, obwohl er niemandem ein Leid zugefügt hatte. Er erzählte von seinem Chef, der ihn vor den Nazis in Schutz genommen, seinen Arbeitsplatz gegen den Widerstand der Nazis für ihn bereitgehalten hatte.
Trotzdem war er, wie ich später feststellen konnte, ein Sicherheitsfanatiker, der sich gegen alles und jeden absichern wollte. Wenn der heute noch leben würde, dann würde er eine Versicherung gegen Zahnausfall abschließen, obwohl er seit Jahren keine Zähne mehr hat.
An jenem Sabbat sahen wir uns zum ersten Mal, verträumt unterbrach sie ihre Erzählung, dabei lief ihr eine Träne aus ihrem linken Auge, welche sie geistesabwesend abwischte. Sie war in Gedanken zurückgekehrt zu jenem Sabbat, zu diesem Treffen, welches ihr Leben so verändert hatte. An den Tag, an dem sie die Liebe ihres Lebens gefunden hatte. Sie hatte nie wieder geheiratet, obwohl es genug Bewerber gegeben hatte, wie er selbst erlebt hatte.
Sie nahm ein Taschentuch, wischte erneut über die Augen, um dann mit einem Trompetenton auszuschnauben. Wir haben uns in die Augen gesehen, danach wussten wir beide, dass wir verloren waren, verloren für jeden anderen, keiner wäre in der Lage gewesen, uns voneinander fernzuhalten. Er kam auf mich zu, mit seinen staksigen Bewegungen, wie eine Marionette, die einer, der es gut mit uns meint, an den Schnüren auf mich zu bewegt.
Umständlich stellte er sich mir vor, ich konnte die Hoffnung in seinen Augen sehen, die sagte, weise mich nicht ab, aber auch die Angst, dass er abgewiesen werden könnte. Ich nahm ihn an der Hand, dann zog ich ihn etwas weg von dem Trubel, den vielen Leuten, die uns beobachteten, dann sagte ich ihm meinen Namen.
Wir stellten fest, dass wir über fünfundzwanzig Ecken verwandt waren, hatten jedoch noch nie voneinander gehört. Seine Eltern gehörten zu der Gruppe von Juden, die aus Deutschland wegwollten, die in einem anderen Land neu beginnen wollten.
Wir hatten uns in eine Ecke der Synagoge zurückgezogen, dabei haben wir uns gegenseitig unser bisheriges Leben erzählt, die Zeit voreinander ausgebreitet, die wir ohne den Anderen gelebt hatten.
Ich erzählte ihm, dass ich eigentlich studieren wollte, aber jetzt keine Möglichkeit mehr sah, meinen Traum, hier in Deutschland zu erfüllen, da uns Juden der Zugang zur Universität verwehrt wurde. Mein Traum war es seit meiner frühesten Jugend einmal Medizin zu studieren. Ich wollte Menschen helfen, wobei ich in meinen Träumen immer Kindern geholfen habe, da in Kinderärztin geworden war.
Er hat mir erzählt, wie er zur Chemie gefunden hatte, von seinem Studium. Auch von dem Lob, welches er von seinem Professor erhalten hatte, der ihn auch an die Firma, in der er jetzt arbeitete und forschte, vermittelt hatte. Sein Kummer als feststellen musste, dass seine Forschung sich sehr eng an den Produkten orientierte, die von der Firma verkauft wurden. Sie hatten kein Interesse in eine Forschung zu investieren, die ihnen scheinbar keinen Nutzen brachte.
Um seine eigene Forschung weiter betreiben zu können, hatte er sich ein kleines Labor zu Hause eingerichtet, damit er auch zu Hause forschen konnte. Um die Kosten für sein Labor tragen zu können, hat er sich als Erstes darum gekümmert, dass er nach etwas geforscht hat, was sich schnell verkaufen lässt.
Aber das hat er mir eigentlich erst später erzählt, vorerst hatten wir mit unserer Lebensgeschichte mehr zu erzählen, als wir Zeit hatten. Mitten in unser Gespräch platzten meine Eltern, die mich schon eine Weile gesucht hatten. Kaum hatten sie mich gefunden, kamen auch schon seine Eltern, die von meinem Vater gerufen worden waren.
Die Enttäuschung war ihrem Gesicht anzusehen, eigentlich hatten sie sich für ihren Sohn etwas anderes vorgestellt. Eine reiche Kaufmannstochter oder eine reiche was weiß ich, auf alle Fälle jemand mit viel Geld. Nun hatte sich der dumme Junge die Tochter eines Lehrers ausgesucht, die noch weniger Geld als er selbst hatte.
Viele Einwände von allen Seiten sollten verhindern, dass wir zusammenfinden, sie sprachen von dem Fehler, der Unglück über unser Leben brächte. Allerdings hatten sie nicht für möglich gehalten was uns in den Minuten oder waren es nur Sekunden, wirklich geschehen war. Ich habe nie feststellen können, wie lange es wirklich gedauert hat, die wir uns in die Augen gesehen haben, dieser Augenblick, der bewirkte, dass wir uns unsterblich ineinander verliebten.
Das war auch einer der Gründe, weshalb ich später nie wieder geheiratet habe, ich wollte dieses Erlebnis, das wie ein Blitz uns beide getroffen hatte, nicht mit einer neuen Verbindung bagatellisieren. Mit jemandem diese einzigartige Liebe, meine einzigartige Liebe nicht dadurch auf das Niveau eines Alltäglichen herabsetzen.
Wir haben uns damals über viele Konventionen hinweg gesetzt, haben beschlossen uns nicht von anderen etwas auferlegen zu lassen, was wir beide nicht wollten. Nach diesem Sabbat haben wir uns jeden Tag gesehen, es gab keine Ausnahme kein Hindernis, welches dies hätte verhindern können. Nach drei Tagen beschlossen wir so schnell als möglich zu heiraten, wir wollten uns nicht jeden Tag aufs Neue treffen, um uns wieder zu trennen, wobei jeder in sein Zuhause zurückging.
Nachdem wir den anderen davon erzählten, wuchs der Widerstand auf allen Seiten. Seinen Eltern war ich nicht gut genug, außerdem sollten wir uns doch zuerst kennenlernen, damit wir prüfen, konnten, ob wir zusammenpassten. Meine Eltern hatten Einwände gegen die Levi‘s, diese seien nicht gläubig genug, sie seien zu liberal, während sie zu den konservativen Strömungen innerhalb der jüdischen Gemeinde zählten.
Seine Freunde rieten ihm ab, weil er doch noch Zeit habe, sich noch nicht genug ausgetobt hatte, außerdem sei er viel zu jung, um sich jetzt schon fest an eine Frau zu binden.
Meine Freundinnen waren auch nicht besser, auch sie wollten nicht, dass ich mich, mit meinen neunzehn Jahren, so schnell und ohne Überlegung in so ein Abenteuer stürzte. Stell Dir vor er ist gewalttätig, oder stell Dir vor er ist geizig, oder stell Dir vor er ist impotent, Du kannst Dir nicht vorstellen, welche Gründe genannt wurden, um uns unsere Heirat zu verleiden.
Die einzige Person, die uns in unserem Vorhaben gegen alle Widerstände bestärkte, war Rabbi Weizenbaum, der uns beglückwünschte, dass wir so eine große Liebe gefunden haben. Nun hatten alle ein neues Opfer gefunden, jetzt war Rabbi Weizenbaum Objekt ihrer Beschimpfung. Wie er sich erdreisten könne, uns zu der Hochzeit, der "Chuppa" zuzureden, er wisse doch sehr genau, welche Bedenken die jeweils andere Seite habe.
Langsam füllten sich ihre Augen, die plötzlich auftretende Flüssigkeit wirkte wie eine zweite Linse, die die vorhandene Linse mit einem Schleier überzog. Auf seinen fragenden Blick antwortete sie mit zittriger Stimme, Rabbi Weizenbaum wurde am neunten November in der Reichspogromnacht umgebracht, als von den Nazis aufgestachelte Deutsche unsere Synagoge geschändet und angezündet haben.
Er hatte versucht, dies zu verhindern, hatte sich den Plünderern und Brandschatzern in den Weg gestellt, wollte seine Synagoge verteidigen. Es wurde nie ein Schuldiger gefunden oder jemand deswegen verurteilt. Die Polizei hat sich geweigert Ermittlungen aufzunehmen, sie haben immer nur von einem Unfall gesprochen.
Der sogenannte Unfall war, dass jemand ihm von hinten den Schädel mit einem Knüppel zertrümmert hat, er dann auch noch in der Nähe der Synagoge liegen gelassen wurde. Aber damals hat der Tod eines Juden in Deutschland nur noch sehr wenig Leute interessiert, ihr neu erwachter Nationalstolz duldete solche Kreaturen, wie Göbbels und andere uns Juden damals nannten, nicht in ihrer Gemeinschaft.
Leise fuhr sie fort, aber wir waren noch bei unserer geplanten Hochzeit, die für erhebliche Unruhe in unsrer Gemeinde sorgte. Meine Eltern hatten mir übrigens bereits einen anderen Ehemann ausgesucht, einen passenden, wie sie meinten, da er auch der konservativen Glaubensrichtung angehörte.
Als sie spürten, dass sie mit ihren Einwänden nichts erreichen konnten, im Gegenteil, je mehr sie gegen uns waren, desto enger wurde unsere Beziehung, desto größer unser Widerstand. Also beschlossen sie gute Mine zu dem, ihrer Ansicht, bösen Spiel zu machen. Sie versuchten jetzt, das Beste für das eigene Familienmitglied herauszuholen. Die Verhandlungen für den Ehevertrag die „Ketuba“, zeigte erneut die Unterschiede unserer Eltern, während sie sich zähnefletschend gegenübersaßen.
Bis Ephraim ein Machtwort sprach, er hatte eine Ketuba aufgesetzt, die weit über das übliche Eheversprechen hinausging. Du weißt, dass in der Ketuba der Ehemann verspricht, einen finanziellen Ausgleich zu zahlen, sollte die Ehe enden oder sie als Witwe zurückbleiben. Er hatte alles so verfasst, dass alles an mich gehen sollte, wenn er sich je von mir trennte oder falls er sterben sollte.
Meine Eltern jubelten, seine Eltern heulten und jammerten wegen der ungerechten Lösung, aber es war uns gleichgültig. Ich hätte ihn auch ohne Ketuba geheiratet, ich wäre ihm auch ohne Heirat überallhin gefolgt.
Trotz aller Versuche uns auseinanderzubringen, haben wir am fünften November, keine zwei Monate, nachdem wir uns zum ersten Mal gesehen haben, geheiratet. Genau da, wo wir uns zum ersten Mal gesehen haben, in unserer Synagoge mit Rabbi Weizenbaum. Es war unsere Anerkennung dafür, dass er uns während der ganzen Zeit bestärkt hatte, gegen die Widerstände unsrer Familien und Freunde anzukämpfen.
Er war es, der uns bei der Mizwa den Becher Wein gegeben hat, von dem wir nippten, der den Segensspruch gesprochen und der die Ketuba verlesen hat. Als Ephraim am Schluss das Weinglas zertreten hat, da sind sich doch alle in die Arme gefallen, haben geweint.
Danach im Jichud-Raum, als wir endlich allein für uns waren, da hat er mir noch einmal gesagt, dass er mich gegen jeden Widerstand geheiratet hätte. Ganz egal was alle anderen gesagt hätten. Im Anschluss daran haben wir dann doch mit allen gemeinsam gefeiert, das Masel Tow zu unserer Begrüßung kam dann doch von allen.
Ein Teil unserer Freunde hatte an unserer Hochzeit nicht mehr teilnehmen können, sie hatten Deutschland kurz nach den Nürnberger Gesetzen bereits verlassen. Sie wollten nicht weiter in einem Land leben, welches sie nicht als einen Teil ihres gemeinsamen Staatswesens betrachtete, sie als das anerkannte was sie seit Generationen waren, als Deutsche. Sie hatten uns erzählt, wie sie erpresst, ihnen ihr Eigentum weggenommen, oder wie ein Strohmann der Nazis ihr Geschäft für eine lächerliche Summe übernommen hatte.
Mendel Kauffmann hatte ein Lebensmittelgeschäft, als er sich entschloss auszuwandern tauchte ein Egon Müller in seiner Uniform auf, bot ihnen zweihundert Reichsmark für sein Geschäft. Als er sagte, dass allein die Waren in dem Geschäft mehr als dreitausend Reichsmark an Wert hätten, das Haus nochmals zwanzigtausend Reichsmark wert sei.
Daraufhin hatte dieser ihm gesagt, der Staat werde keinen anderen Käufer als ihn akzeptieren, wenn er sein Angebot ablehne, werde er nächste Woche nur noch einhundert Reichsmark erhalten. Er hat dann an diesen Müller verkauft, er wollte mit seiner Familie nur noch raus aus Deutschland zu seinem Bruder nach Amerika.
Anderen Bekannten aus unserer Gemeinde erging es ebenso, auch sie wurden um ihr Eigentum erpresst. Als sie nach dem Krieg Ansprüche erhoben, haben diese Diebe die Kaufverträge vorgelegt, behauptet alles sei freiwillig verkauft worden. Ein paar dieser Bekannten habe ich hier wieder getroffen, sie haben mir von ihrem Versuch erzählt, Gerechtigkeit zu erlangen, einen Teil ihres Vermögens wieder zu bekommen.
Bitterkeit klang jetzt in ihrer Stimme, als sie sagte, ihre Gefühle, als sie scheiterten, haben sie mir gegenüber so beschrieben, zuerst wurden wir bedroht, dann beraubt, zum Schluss der Lächerlichkeit preisgegeben. Keiner von ihnen wird je wieder einen Fuß in dieses Land setzen, sie haben mit diesem Teil ihres Lebens abgeschlossen, die Gerechtigkeit ist auf der Strecke geblieben.
Nach der Hochzeit bin ich gleich zu Ephraim gezogen, er hatte ja nur einen Tag Urlaub für die Hochzeit bekommen, am Tag darauf musste er schon wieder im Labor stehen. Es gab damals keine Flitterwochen, während er tagsüber arbeitete, habe ich angefangen mich einzurichten. Auch wenn es ein bisschen eng war, da das kleine Labor für seine privaten Forschungen einen Teil des Platzes in Anspruch nahm.
Wir hatten übrigens nie die Möglichkeit unsere Flitterwochen nachzuholen, ihre Stimme klang jetzt traurig. Fast so, als hörte man ein Splittern von Glas in ihr, auch wenn sie jetzt ein neuerliches Aufsteigen von Tränen unterdrücken konnte.
Nicht alle Leute waren damals so wie dieser Müller und andere, aber viel zu viele. Die, die sich versuchten aufzulehnen verschwanden bald, wurden nie wieder gesehen. Du must wissen, dass nach dem Reichstagsbrand auf Betreiben der Nationalsozialisten eine Notverordnung „Zum Schutz von Volk und Staat“ verabschiedet wurde, um missliebige Kommunisten zu verhaften. Dieses Gesetz erlaubte ihnen ohne irgendwelche Gründe Leute zu verhaften, um sie dann in eines der Konzentrationslager zu bringen.
Wir hatten die Dimension dessen, was auf uns noch zukommen sollte, nicht erfassen können, den Warnungen nicht geglaubt, wir konnten uns nicht vorstellen, wozu Menschen fähig sein würden.
Als sie damals begonnen hatten die Bücher zu verbrennen, die nicht in ihr Weltbild passten, da war mir ein Zitat von Heinrich Heine eingefallen. "Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen", aber geglaubt hat es damals niemand.
Die Enge unserer Wohnung störte mich nicht, wir waren verliebt, wir brauchten nicht viel Platz, um glücklich zu sein, wir fühlten uns sowieso immer zueinander hingezogen. Ephraim hatte in seinem Privatlabor begonnen Forschung an unterschiedlichen Projekten zu betreiben, die in der Firma unerwünscht waren.
Um sich sein Labor leisten zu können, hatte er eine Rezeptur für Naturkosmetik entwickelt, die er in jüdischen Apotheken verkaufte. Bald kamen auch einige Nichtjuden in die Apotheken um die Kosmetik kaufen zu können, oder sie ließen sich diese von ihren jüdischen Hausangestellten mitbringen.
Er hatte mir das bereits erzählt, kurz nach unserem Kennenlernen, wobei er das nicht sonderlich ernsthaft betrieb, er wollte nur so viel damit verdienen, damit er sich sein Labor leisten konnte. Unter anderem erzählte er, dass er die Creme in einem großen Tiegel zum Apotheker brachte, der diese dann in kleinen Behältern weiter verkaufte. Ich hatte mir schon vor unserer Heirat Gedanken gemacht, wie wir damit mehr Geld verdienen können, um für schwierige Zeiten etwas zurückzulegen.
Auch Ephraim hatte sich Gedanken gemacht, wie es weiter gehen könne, welche Gefahren für uns bestehen. Es war ihm nicht entgangen, dass immer häufiger Übergriffe auf jüdische Bekannte und Freunde diese nach und nach aus dem Land vertrieben.
Am Wochenende nach unsrer Hochzeit haben wir uns zusammengesetzt, um uns unsere Gedanken und Vorstellungen zu erzählen. Ich wollte ihm sagen, wie ich mehr Kosmetik verkaufen wollte, er hielt sich bedeckt, wollte es mir erst am Wochenende sagen.
Ich habe begonnen, von meinen Plänen zu erzählen, die Creme bei mehr Apotheken, auch bei Nichtjüdischen, anzubieten, außerdem wollte ich kleine Tiegel besorgen, um die Creme auch den Drogerien anzubieten.
Meine Pläne haben ihm gefallen, ich konnte alle umsetzen, der Erfolg in den nächsten Jahren war einfach unvorstellbar. Wir konnten sehr gut leben, seine Forschung machte ihm noch mehr Freude, nachdem ich ihm die alltägliche Arbeit abgenommen hatte.
Seine Gedanken waren weniger erfreulich, er glaubte zwar nicht, dass uns sehr viel Schlimmeres als das, was wir bisher erlebt hatten, passieren würde. Aber er hatte sich insgeheim eingestanden, dass er mit seinen Prognosen einige Male daneben gelegen, dass er sich geirrt hatte.
Deshalb wollte er eine Rückversicherung, wenn er sich tatsächlich nochmals irren sollte, so wollte er die Möglichkeit haben, an einem anderen Ort eine neue Existenz aufzubauen. Er wollte, dass wir das Geld, welches wir erübrigen konnten, auf ein Schweizer Konto bringen sollten. Er hatte deshalb bereits mit einem Freund gesprochen, der häufig geschäftlich in die Schweiz fuhr.
Dieser würde unser Erspartes mitnehmen, um es auf ein Konto von uns einzuzahlen. Sollten wir es nicht in Anspruch nehmen müssen, so war es für die Ausbildung unserer Kinder sowie für unser Alter vorgesehen. Sollten wir tatsächlich auswandern müssen, so hatten wir, zusammen mit seinen Forschungsergebnissen, eine Basis, um neu zu beginnen.
Während er in der Firma und zu Hause forschte, klapperte ich nach und nach Apotheken und Drogerien ab, um unsere Creme anzubieten. Bald stand in fast allen Geschäften unsere Naturkosmetik, auf der natürlich nichts darauf hinwies, dass diese von Juden hergestellt wurde.
Unser Glück waren die Olympischen Spiele, überall wurde Zurückhaltung geübt, man wollte schließlich vor den ausländischen Gästen als weltoffen dastehen. Man wollte der Welt beweisen, dass die allseits beschriebene Hetze gegen Juden ein Hirngespinst war, ein Lügengebilde, welches vor der Weltöffentlichkeit zusammenstürzen würde. Wir konnten unser Geschäft aufbauen, tagsüber belieferte ich die Geschäfte, abends bereitete ich nach Anleitung vom Ephraim die Naturkosmetik her, während er in seinem Labor an seinen Projekten forschte.
Trotz unserer vielen Arbeit nahmen wir uns immer Zeit für uns. Während seine Eltern ausgewandert waren, hatten sich meine Eltern immer mehr aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Häufig trafen wir sie am Sabbat in der Synagoge, aber eigentlich wollten sie immer weniger mit uns zu tun haben, desto gläubiger sie und liberaler wir wurden.
Meinem Vater war von seiner Schule gekündigt worden, man wollte nicht, dass deutsche Kinder durch ihn infiltriert werden, sie hatten Angst, dass es jemanden geben könnte, der Verständnis oder Mitleid mit den Juden hat.
Je schlimmer man ihnen zugesetzt hatte desto mehr beteten sie, versteckten ihre Angst hinter ihrem Glauben. Allerdings weigerte sich mein Vater standhaft, sein Heimatland zu verlassen. Er sagte immer, wenn es denn sein muss, dann sollen sie ihn hier begraben. Nicht einmal das bekam er, beide wurden nach Majdanek deportiert, wo sie später umgebracht wurden.
Bei uns bestätigte sich, was wir seit unserem ersten Zusammentreffen gewusst hatten, wehmütig erzählte sie weiter, wir hatten gewusst wir gehören zusammen, jetzt bestätigte sich dies Tag für Tag. Ephraim hatte mir zu meinem Geburtstag etwas gesagt, was als Lebensmotto für unsere Zukunft gelten sollte. „Tempus fugit Amor manet“, als ich ihn gefragt habe was das bedeutet hat er es für mich übersetzt, „die Zeit vergeht, die Liebe bleibt“. Eigentlich war es zu wenig, denn unsere Liebe blieb nicht, sie wuchs, sie steigerte sich, sie wurde immer mehr.
Auch in der Firma lief alles gut für Ephraim, nachdem es diesem Parteisoldaten, diesem Bloch nicht gelungen war, ihn aus der Firma zu drängen, hatte er scheinbar Frieden mit ihm geschlossen. Ephraim konnte bei ihm die Rohstoffe kaufen, die er für seine private Forschung benötigte, die er sonst als Jude nur über viele Umwege bekommen hätte. Er hat zu dem Zeitpunkt nicht verstanden welche Motive diesen bewogen von sich aus auf Ephraim zuzugehen, um ihm dieses Angebot zu unterbreiten.
Das Olympiajahr war sehr gut für uns, wir konnten über Ephraims Freund schon eine erkleckliche Summe in die Schweiz schmuggeln. Ephraim kümmerte sich nicht mehr darum, er verließ sich in diesen Dingen auf mich. Wenn ich gelegentlich darüber reden wollte, sagte er nur, behalte es für Dich, was ich nicht weiß kann ich nicht verraten. Es war so, als hätte er etwas geahnt, dass irgendwann etwas auf ihn zukommen würde, es dann besser war, nichts zu wissen.
Das Olympiajahr war für uns das Jahr, in welchem wir meist unbeschwert lebten, wir spürten die Zurückhaltung, wenn wir unterwegs waren, die Pöbeleien waren meist nur unterschwellig. Es machte sich bemerkbar, dass die Nationalsozialisten dem Ausland demonstrieren wollten, “seht her, bei uns ist alles in Ordnung, sogar Juden können bei uns normal leben“. Leider hatte auch dieses Jahr, obwohl es ein Schaltjahr war, nur dreihundertsechsundsechzig Tage. Lieber wäre mir gewesen, wenn dieses Jahr dreitausend Tage gehabt hätte, dann wäre uns viel erspart geblieben.
Schon bald nach Neujahr war es leider vorbei, das war auch das erste Mal, als wir zu zweifeln begannen, ob wir richtig gehandelt haben. Dieser Himmler sprach von einer „Entjudung Deutschlands“, die durch die Mobilisierung des „Volkszorns“ und Ausschreitungen erreicht werden sollte. Unterstützt wurden diese Hassreden mit immer neuen Artikeln in ihrer Lieblingszeitung von Julius Schleicher „Der Stürmer“. Diese hatte auf seiner ersten Seite immer „Die Juden sind unser Unglück!“ geschrieben, um gleich zum Beginn die Leser über die Schuldfrage aufzuklären.
Auch wir spürten die antisemitische Stimmung sehr schnell, meine Lieferung in arische Geschäfte konnte ich nur noch sehr früh oder spät abends machen. Man wollte nicht, dass tagsüber eine Jüdin in ihrem Geschäft gesehen wird. Auf unsere Kosmetik wollten sie nicht verzichten, damit konnten sie immer noch sehr viel Geld verdienen. Es war mühsamer, gefährlicher, wenn man abends spät oder morgens früh unterwegs war, aber wir verkauften immer noch so viel, dass wir Ersparnisse in die Schweiz bringen lassen konnten. Wir hatten begonnen, uns einzuschränken, so viel es ging zu sparen, damit wir wieder neu anfangen konnten.
Die Übergriffe wurden wieder schlimmer, noch mehr Freunde und Bekannte begannen Deutschland zu verlassen, nachdem mit jedem Monat neue Berufe veröffentlicht wurden, die wir Juden nicht ausüben durften. Sie begannen, uns die Existenzgrundlage zu entziehen, Ephraim hatte nur deshalb keine Probleme, weil er eigenartigerweise unter dem Schutz von diesem Bloch stand. Natürlich wollte auch sein Vorgesetzter, dass er weiter arbeitete, dem Druck der Partei hätte er sich aber bestimmt keinen Widerstand entgegengesetzt.
Wir hatten mitbekommen, dass die Juden die auswanderten, ihr Vermögen hier lassen mussten, dass sie bei der Ausreise sogar durchsucht wurden. Wenn jemand beim Schmuggeln von Wertgegenständen ertappt wurde, mussten alle ins Gefängnis. Unser Freund hatte das Glück, dass er seit Jahren über die Grenze in die Schweiz fuhr, dabei die Grenzbeamten schon einige Male bestochen hatte.
Sie hatten sich bestimmt überlegt, dass für sie besser war, wenn er zehnmal über die Grenze fuhr, sie bei jeder Fahrt ihr Bestechungsgeld kassierten, als wenn sie ihn abgefangen hätten, um ihm das Geld abzunehmen. In diesem Falle hätten sie es abliefern müssen, außerdem, wer schlachtet schon das Huhn, welches ihm goldene Eier legt. Für uns war es gut, da unsere Ersparnisse immer sicher auf unserem Konto landeten.
Dann begannen die ersten Enteignungen, einfach so, ohne Entschädigung wurden jüdischen Unternehmern ihre Firmen weggenommen, damit die angeblich ungeschmälerte Macht der Juden in Handel und Industrie gebrochen wird. Als der Wirtschaftsminister im November abgelöst wurde, war das Schlimmste zu erwarten, als Übergangsnachfolger wurde der fette Hermann Göring eingesetzt.
Er war es auch, der den Weihnachtsboykott gegen jüdische Geschäfte in diesem Jahr organisierte. Eigentlich wussten wir beide bereits, dass wir nicht in Deutschland bleiben konnten, wir wollten es aber immer noch nicht wahrhaben, hatten immer noch ein bisschen Hoffnung, dass sich etwas ändern würde.
Während das Chanukka-Fest im Jahr vorher, mein zweites Chanukka mit Ephraim, noch gefeiert wurde, hatten wir in dem Jahr das Fest leise und besinnlich begangen. Wieder wurden Prophezeiungen laut, als viele sich fragten, ob es vielleicht das letzte Fest in Deutschland sein würde. Die Geschäftsleute litten unter dem Boykott, die Nationalsozialisten hatten wieder ihre Helfer vor den Eingängen postiert, um alle deutschen Kunden abzuhalten, in jüdischen Geschäften einzukaufen.
An jedem Sabbat konnte man im Anschluss sehen, wie die Leute zusammenstanden, diskutierten und überlegten, was sie tun sollten. Viele taten sich schwer, das Geschäft, das zum Teil über Generationen aufgebaut worden war, aufzugeben, um woanders neu zu beginnen.
Vor allem die Alten wollten ihr Lebenswerk nicht im Stich lassen, da gab es Familien deren Söhne im Ersten Weltkrieg für ihr Vaterland, für Deutschland gekämpft, die ihr Leben verloren hatten.
Die Zuversicht von Ephraim war gewichen, er glaubte inzwischen auch, dass sich die Situation für uns Juden immer weiter verschlechtern würde. Allerdings befand er sich in einem Zwiespalt. Er hoffte, noch mehr Geld zu sparen, er glaubte es sei noch nicht genug, außerdem befand er sich bei mehreren Forschungsprojekten vor dem Durchbruch.
Auch unsere Naturkosmetik wurde verstärkt gekauft, weil sie inzwischen den Ruf bekommen hatte, gegen Faltenbildung zu helfen. Wer auch immer das Gerücht in die Welt gesetzt hatte, weiß ich nicht, aber es hat uns geholfen, auch in arische Geschäfte zu verkaufen.
Aber jetzt bin ich müde, komme morgen dann will ich Dir gerne erzählen, wie unser Leben weiterging, das schlimmste Jahr sollte noch vor uns liegen.