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Einleitendes
ОглавлениеNachfolgende persönliche Erinnerungen an die Verschleppung meiner baltischen Landsleute nach Sibirien im Februar/März 1918 aus Dorpat habe ich aus dem Gedächtnis und unterstützt durch mancherlei Angaben der Leidensgenossen im Wesentlichen — bis auf den Schluss im — Krasnojarsker Gefängnis niedergeschrieben.
Ich glaube, dass die beispiellose Gewalttat, der viele hundert deutscher Männer zum Opfer fielen, beispiellos selbst, wenn man, wie wir, gewöhnt ist, mit russischen Rechtsbegriffen und Instinkten zu rechnen, es verdient in ihren Einzelheiten festgehalten zu werden.
Kann man doch in der Geschichte weit zurückgehen, ehe man auf eine ähnliche Ächtung und Verschleppung stößt; selbst die unter Iwan dem Schrecklichen und unter Zar Peter über Dorpat verhängten Gewaltakte treten fast zurück, wenn wir den angeblichen Fortschritt der Jahrhunderte und das, was damals beinahe Gewohnheitsrecht war, im Auge behalten.
Überall, wo Kulturmenschen wohnen, wird man sich, man mag in diesem oder jenem politischen Lager stehen, mit tiefer sittlicher Empörung von den Schreckensmännern in Reval, Dorpat und den anderen Städten und ihrer leider damals so willigen und an Zahl großen Gefolgschaft abwenden, die in feiger Weise an Wehrlosen, Männern wie Frauen, brutal und raffiniert ihre Rache nahmen — nur weil sie Deutsche und z. T. baltische Edelleute waren
Die Ereignisse erklären sich leicht auch für den unseren baltischen Verhältnissen Fernerstehenden. Der Krieg hatte über die deutsche Bevölkerung der Ostseelande eine Zeit furchtbarer Heimsuchung gebracht. Unter dem krankhaften Misstrauen, das ihr von Regierung, Reichsduma und Gesellschaft entgegengebracht wurde, hatte sie namenlos zu leiden. Sehr bald nach Ausbruch des Krieges, vornehmlich im zweiten Jahr, wurde eine Anzahl Deutscher aller Stände und Berufe nach Innerrussland oder nach Sibirien ohne Recht und Gericht ausgewiesen.
Ein Teil von ihnen musste dabei alle Schrecken der Etappenbeförderung, wie sie schweren Kriminalverbrechern zu Teil wurde, über sich ergehen lassen, die Mehrzahl in öden Dörfern inmitten ungebildeter Bauern Jahre lang verbringen.
Das beleidigende Misstrauen übertrug sich auf die deutschen baltischen Beamten und Offiziere, die, wenn auch mit schwerem Herzen inmitten des sittlichen Konflikts, in den sie hineingestellt waren, ihre Pflicht dem Zaren und dem russischen Reich gegenüber treu erfüllten.
Ich erinnere ferner nur an die Ächtung der deutschen Sprache, deren öffentlicher Gebrauch mit schweren Geld- und Gefängnisstrafen geahndet wurde, an die Aufhebung der deutschen Schulen und der Deutschen Vereine und an die Ausstoßung der baltischen Dumamitglieder aus der Oktobristenfraktion. Einen Schandfleck bildete weiter die gewaltsame Austreibung der deutschen Kolonisten aus Kurland und namentlich aus Livland, wo sie seit der Zeit Katharina’s Ü. in der Kolonie Hirschenhof lebten. Sie wurden in entsetzliches Elend hinausgestoßen. Was damals der Einzelne, was die Gesamtheit hat erdulden müssen, das schreit zum Himmel.
Und doch sollte das alles nur ein schwaches Vorspiel zu dem sein, was im Gefolge der letzten Revolution über die Lande hereinbrach. Die Selbstbestimmung der Völker, die Kerenski proklamierte, entfesselte auch bei uns uferlose Hoffnungen. Die Letten und Esten, unter der Psychose ehrgeiziger und romantischer Führer, träumten von der Gründung eigener Staatswesen, in denen für die Deutschen überhaupt kein Platz mehr vorhanden sein sollte. Obwohl noch nicht sozialistisch, erklärten die Führer, ihnen voran der Postimeesredakteur Jaan Tönisson, die Expropriation des deutschen Eigentums, wenn auch gegen eine gewisse Entschädigung, für unumgänglich notwendig. Der estnische Landtag in Reval, der diese Pläne verwirklichen sollte, hatte aber ein sehr kurzes Dasein.
Denn schon hatte der radikale Sozialismus der Bolschewiken auch bei uns zu Lande immer weiter um sich gegriffen, und vollends mit dem Sieg der Maximalisten in Petersburg war auch allen Autonomieplänen der estnisch-lettischen Bourgeoisie ein jähes Ende gemacht.
Überall wurden die maximalistischen Machthaber die unbeschränkten Herren der Lage, stürzten die alten Einrichtungen und ließen mit einer Rücksichtslosigkeit sondergleichen andere Stimmen überhaupt nicht zu Wort kommen.
Die Gutsbesitzer wurden expropriiert, ein schamloses Raubsystem brach sich Bahn. Mit Entsetzen sah auch das lettische und estnische Volk in seiner überwiegenden Mehrheit, wohin der bolschewistische Terror führte.
Alles, was Eigentum besaß, sehnte die Befreiung durch Deutschland herbei. Bittschriften liefen überall um, die das aussprachen. Da erfolgte in der Nacht vom 10. Februar (27./28. Januar a. St.) der ruchlose Gewaltstreich der Revaler Schreckensmänner, die Achterklärung und Verschleppung des baltischen Adels und zahlreicher anderer baltischer Männer. Davon ist in den folgenden Blättern die Rede.
Was mich anlangt, so verdanke ich meine erste Verbannung nach Sibirien (April 1915 bis Mai 1917), wie auch die zweite (Febr. — April 1918) wohl vornehmlich der journalistischen Tätigkeit, die mir in Riga und jetzt in Dorpat die Möglichkeit gegeben hat, für die deutschen Lebensinteressen unserer baltischen Heimat mit Nachdruck einzutreten, eine Pflicht und eine Ehre, für die man willig auch jedes Opfer bringt.
Dr. phil. Ernst Seraphim.
Krasnojarsk — Gefängnis.
Am Tage unserer Befreiung —
27. März 1918.