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Kapitel 1

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Liebe Leserinnen, liebe Leser, seien wir doch mal realistisch: wieviel Lebenszeit verbringen wir mit Sex? Nehmen wir an, ein Durchschnittsmensch hat einmal am Tag Sex. Wir alle wissen, das ist eine sehr optimistische Annahme, selbst wenn man die Onanie hinzurechnet. Und nehmen wir weiterhin an, der Durchschnittsbürger wendet dafür 24 Minuten auf. Auch das ist, wie wir wissen, ausgesprochen hoch gegriffen, aber es lässt sich leichter rechnen. Bei 24 Stunden pro Tag wären 24 Minuten ein Sechzigstel. Der schmeichelhaftesten Schätzung zufolge verbringen wir also knapp 1,7 % unserer Zeit tatsächlich mit Sex. Unsere Öffentlichkeit dagegen ist voll davon. Von den Werbeflächen, digital wie analog, strahlen uns meist junge, aber immer attraktive Körper entgegen, keine Zeitschrift verzichtet auf erotische Komponenten, wir selbst machen uns bestmöglich zurecht, auch wenn wir nur vor die Tür gehen: überall wollen wir optimal auf das andere Geschlecht wirken. Auch in Fernsehfilmen, Kino und Literatur sind Sex und Erotik omnipräsent und durch die Abflusskanäle des Internets schwappt eine Flut aus Pornografie. Gemessen an der öffentlichen Präsenz müsste man also annehmen, wir wären neben dem Broterwerb fast ausschließlich mit Sex beschäftigt. Ich hatte dieses krasse Missverhältnis immer belächelt - bis ich selber in diese Sexspirale geriet und in die archaischen Urgründe des Lebens hinabgezogen wurde.

Ich heiße Immanuel Polcas, bin Publizist und Schriftsteller und habe schon einige Bücher geschrieben: philosophische Traktate, Essays, soziologische Aufsätze, aber auch zwei Romane, die den geistigen und moralischen Zustand der Gegenwart beleuchten sollten. Bücher, die manche Verlage als Feigenblatt der Bildung benutzen: Seht her, wir haben auch Anspruch im Programm! Das große Geld verdienen sie mit anderen Werken. Ich schrieb also Bücher, die den Verfasser kaum ernährten, und den Verleger eher Geld kosteten, als einbrachten. Jedenfalls behauptete der das ständig. Die schöne Wohnung und ein Leben über der Armutsgrenze hatte ich weitgehend meiner Frau zu verdanken, die im höheren Management durchaus erfolgreich war.

Vor etwa zweieinhalb Jahren hatte ich eines der nervigen Gespräche mit meinem Verleger Edgar Hugenbach, aber diesmal war es mehr als nur ein Gespräch über die alltäglichen Tücken des Verlagswesens, diesmal ging es um das nackte Überleben. Hugenbach hatte schon zu lange keinen „Bringer“ mehr, der letzte nennenswerte Verkaufserfolg lag mehr als ein Jahr zurück: der Historienschinken einer akribischen Autorin, die fünf Jahre und längerr an einem Buch schrieb. Bis zu ihrem nächsten Erfolg wollte und konnte Hugenbach nicht warten:

„Uns steht das Wasser bis zum Hals“ sagte er bedrückt, „wenn wir in den nächsten Monaten keine Granate zünden, können wir dicht machen.“

Hugenbach haute mir kumpelhaft auf die Schulter:

„Ihre erlesenen Werke liegen in den Regalen wie schimmeliges Brot. Selbst ihre zwei Romane waren keine richtigen Hits. Und dieser Romanversuch hier“, er wies abwertend auf mein Typoskript, das ich ihm auf den Tisch gelegt hatte, „das wird auch kein Renner.“

Romanversuch! Allein für diese Frechheit hätte ich ihm eine reinhauen müssen.

„Ach ja“ sagte ich beleidigt, „und welchen Bringer soll ich ihrer Meinung nach schreiben?“

Da grinste er mich schief an und sagte:

„Sex sells!“

„Wie bitte, ich soll...?“

„Ja, wer sonst? Sie sind ein glänzender Stilist, Polcas, wer Worte so tanzen lassen kann wie Sie, der kann auch einen prickelnden Roman für ein breites Publikum schreiben.“

Ich musste ihn wie ein Vollidiot angesehen haben, denn er schien mich trösten und ermutigen zu wollen, wie ein dreijähriges Kind. Er drehte meinen Stuhl vom Schreibtisch weg, hockte sich vor mich hin, nahm meine Hände und flehte:

„Polcas! Sie können das und wir brauchen das! Immo, helfen Sie mir, helfen Sie uns den Verlag zu retten!“

„Ich kann das nicht“, sagte ich, stieß ihn weg, sprang auf und verließ wie ein Traumwandler sein Büro.

„Und wie Sie das können“ rief Hugenbach mir hinterher, „und wie! Denken Sie darüber nach!“

Eine Stunde später schaute ich ratlos aus dem Fenster meines Schreibzimmers und dachte über das Gespräch nach, das ich hier nur arg verkürzt wiedergegeben habe.

Sex sells?

Früher vielleicht, dachte ich. Das Thema ist doch längst durch- und durchgenudelt. Ausgelaugt und ausgelutscht. Will das wirklich noch jemand lesen? Wo sich doch heute jeder überall mit einschlägigen Bildern und Filmen versorgen kann?

„Vor allem lesen“ hatte Hugenbach in dem Gespräch bemerkt, „das Foto, der Film, da gebe ich Ihnen Recht, Bilder erschöpfen sich rasch, weil sie alles zeigen und dem Betrachter kaum Spielraum lassen. Geschickt gesetzte Worte dagegen sprechen nicht alles direkt aus, sie deuten nur an und reizen damit die Fantasie. Geschickt gesetzte Worte lösen mehr aus im Kopf als Bilder, die kein Geheimnis mehr übrig lassen. Sie haben das Zeug dazu, den Trieb über den Intellekt zu anzusprechen. Verbinden Sie Anspruch und Lust miteinander! Auch Kopfmenschen...“

Nein, ich glaube er sagte nicht „Kopfmenschen“, er sagte Klugscheißer, ja, „...auch Klugscheißer haben Überdruck in der Hose, den sie irgendwie abbauen müssen. Denen müssen Sie den Schweinkram intellektuell auftakeln, verstehen sie?“

Ja, wie sollte ich das denn verstehen? Bumsen für Bildungsbürger? Adorno meets Porno, oder was?

Ich schaute noch immer ratlos aus dem Fenster, als ob da draußen irgendein Stoff für dieses Vorhaben zu finden wäre. Die Tante von „Essen auf Rädern“ fuhr in den Innenhof, brachte meinem alten Nachbarn, Herrn Stein aus dem Parterre das Mittagessen.

‚Angenommen, die da’, dachte ich in meiner Verzweiflung, Hugenbachs Stimme noch im Ohr:

„Bringen Sie mir eine saftige Geschichte und zwar zügig, oder wir müssen unser Brot bald mit richtiger Arbeit verdienen!“

Das war deutlich genug.

Meine Frau hatte sich längst daran gewöhnt, dass ein vom Erfolg verhöhnter Schriftsteller ihr auf der Tasche lag, Hugenbach konnte das nicht. Wollte ich mir nicht die Mitschuld am Ruin eines renommierten Kleinverlages aufladen, musste ich mein Wolkenkuckucksheim verlassen und zwischendurch für eine gute Auflage schreiben. Nun denn, dachte ich trotzig-wütend, wenn ihr Schweinkram haben wollt, sollt ihr Schweinkram kriegen!

Also angenommen, die da. Die Frau von Essen auf Rädern. Ich hatte sie schon oft gesehen, aber nun fiel mir zum ersten Male mal auf, dass sie eine schöne, schlanke Figur hatte. Meine neue Aufgabe veränderte und verschärfte also bereits meine Wahrnehmung, das war doch schon ein Anfang.

Bloß: wie konnte ich sie zu meinem Stoff machen, wie konnte ich sie zu mir heraufschreiben? Ich könnte sie klingeln und sagen lassen:

„Entschuldigen Sie bitte, Herr Stein ist nicht zu Hause, könnte Sie ihm sein Essen...“

Und dann? Wie weiter? Sie könnte fragen, ob sie meine Toilette benutzen darf, und danach meine Dusche. Und ich reiche ihr das Handtuch und... und wo blieb dabei der höhere Anspruch? Dafür müsste sie eine Studentin sein, die Essen ausfährt, um ihr Philosophiestudium zu finanzieren. Oder vielleicht Germanistik? Oder noch besser: Literatur! Ja, so vielleicht: Sie hat eine Reifenpanne, ich helfe ihr, wir kommen ins Gespräch, ich gebe mich als Schriftsteller zu erkennen, sie erzählt, dass sie mitten in der Doktorarbeit steht, Thema: Darstellung und Zweck der Sexualität im Werk von Henry Miller! Ihr fehlt von der Trilogie Sexus, Nexus, Plexus, ausgerechnet Sexus, der selbstverständlich in meinem Regal steht. Sie kommt mit in die Wohnung, wir trinken Kaffee und plaudern über Millers teilweise sehr derben Sexszenen, wir reden uns heiß, sie sieht, wie meine Hose sich spannt, packt aus, packt zu, fährt aus den Klamotten, setzt sich auf mich und reitet uns ins Nirwana! Na, wie wär’ das? Albern, oder? Nein, dachte ich, so wird das nichts. Das wird nie was, ich kann so was nicht!

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