Читать книгу Die kühle Blonde. Erster Band - Ernst von Wolzogen - Страница 3
Erstes Kapitel. Nach dem Theater.
ОглавлениеDie Vorstellung im „Deutschen Theater“ war zu Ende. Wagen auf Wagen rasselte durch die enge Durchfahrt nach der Schumannstrasse, und auf dem schmalen Bürgersteige drängten sich die Fussgänger. Ein frostiger Wind trieb ihnen einen feinen Regen ins Gesicht, welcher, trotzdem man sich noch im Oktober befand, schon mit einigen vorzeitigen Schneeflocken vermischt war. Die Damen nahmen ihre Kleider auf, die Herren klappten die Kragen ihrer Ueberzieher in die Höhe und hatten Mühe, mit ihren Schirmdächern dem bösen Wetter Trotz zu bieten. An der Pferdebahnhaltestelle in der Karlstrasse entwickelte sich ein rücksichtsloser Kampf um den Vortritt, sobald ein neuer Wagen anhielt. Schon mehrmals hatte der kurze Bescheid des Schaffners: „Nur noch vorn Platz, meine Herrschaften!“ die drängende Menge wieder zurückgescheucht, als sich drei Menschen von dem Haufen loslösten, um die Richtung nach der Friedrichstrasse einzuschlagen. Der eine war ein grosser, starker Herr in einem langen, formlosen Ueberrock, der ein kleines, ebenso formloses Filzhütchen tief in die Stirn gezogen hatte. Dicht an seine rechte Seite geschmiegt schritt eine Dame, das Haupt durch eine Kapuze und einen schwarzen Spitzenschleier vermummt, und zur Rechten der Dame ging ein kleinerer Herr in einem kurzen Paletot, den Cylinder auf dem Kopfe, und bemühte sich, mit seinem Schirm das Gesicht der Dame vor den kalten, prickelnden Regentropfen zu schützen.
„Da haben wir’s!“ rief dieser letztgenannte ganz vergnügt, „vor dem Cirkus hält auch keine Droschke mehr! Du siehst, Cousinchen, alle Umstände vereinigen sich, um mir Recht zu geben. Es kann dir unmöglich gut bekommen, wenn du nach einem so nervenaufregenden Kunstgenuss gleich nach Hause fährst und etwa gar ungegessen zu Bette gehst. Ich wenigstens würde heute nacht kein Auge zuthun können, ehe ich nicht einen soliden Schlaftrunk zu mir genommen hätte. Ich bin, weiss Gott, als alter Theaterbesucher doch einigermassen kugelfest, aber diese letzte Scene der Adelheid — Donnerwetter, so was habe ich noch kaum erlebt! — Das nenn’ ich mit Kartätschen schiessen. So was müsste polizeilich verboten werden.“ Mit einem kurzen, nicht eben natürlichen Gelächter schloss er seine laut und fliessend hervorgesprudelte Auseinandersetzung.
Die Dame entgegnete nichts, sondern schmiegte sich nur noch enger an ihren älteren Begleiter.
Der grosse Herr hatte auch nur ein etwas unwilliges Brummen als Antwort auf den schwachen Scherz des Jüngeren bereit. Dann wandte er sich zu ihm und rief ihm über den Kopf der Dame hinweg zu: „Nu ja, nu ja, wir sind eben Provinzler, die Lori und ich. Unsereiner kriecht hinter den warmen Ofen, wenn er so unter der Traufe gestanden hat — und das braucht Zeit, bis ihm die alte Haut wieder trocken auf dem Leibe sitzt! Ihr Grossstädter schüttelt euch bloss tüchtig und fahrt ein paarmal mit dem Schnabel durch die Federn, wie die Gänse, wenn sie aus dem Wasser kommen, und dann seid ihr wieder kreuzfidel!“
„Na, höre mal, lieber Onkel —, ich danke für den Vergleich!“ lachte der junge Mann. „Aber freilich, einem Pommern darf man das nicht übel nehmen. Du kommst ja aus dem Paradies der Spickgänse — da gehört natürlich dieses edle Geschöpf zur höchsten Aristokratie der Tierwelt. Ich darf mich also nur geschmeichelt fühlen, nicht wahr?“
„Hm! Na — du weisst zu parieren!“ versetzte der Oheim vom Lande und dann fügte er hinzu: „Ich wäre dir allerdings dankbar, lieber Günther, wenn du uns zu einer anständigen echten Bierquelle führen wolltest. Ich muss gestehen, ich habe auf diese Erschütterung meines inwendigen Menschen einen kolossalen Durst bekommen. Lori, mein Kind, du hast doch nichts dagegen?“
„Wie du willst, Papa!“ flüsterte die junge Dame mit einem leichten Seufzer.
Der alte Herr klopfte zärtlich die feine, schmale Hand der Tochter, die so fest auf seinem Arme ruhte. Er beugte sich zu ihrem Ohr hinab und sagte besorgt: „Ich hätte dich nicht mitnehmen sollen, Kind, es hat dich zu sehr angegriffen.“
„Nein, Papa, nein, ich danke dir tausendmal. Es war herrlich! Es ist nur so schrecklich, gleich darauf in den Lärm hinaus zu müssen und unter die schwatzenden Menschen! Achtet nur gar nicht auf mich. Man muss sich ja an so etwas gewöhnen.“
„Das ist wahr, mein Liebling!“ erwiderte der Vater, indem er ihren Arm an sich drückte, „für dich ist das eine gute Abhärtungskur — wie der hohe Reichstag für mich!“
Fast unaufhörlich fortplaudernd geleitete der Neffe — er nannte sich Günther von Schlichting und war seines Zeichens Referendar beim Kammergericht — seinen Onkel, den Rittergutsbesitzer und Reichstagsabgeordneten Freiherrn von Drenk und seine Base Lori nach dem „Restaurant Friedrichstadt“, welches an der Ecke der Friedrichs- und Mittelstrasse, in dem Hause der Bodega-Compagnie, das mit zahlreichen Fenstern auf beide Strassen hinausgehende erste Stockwerk einnimmt.
Leonore war zum erstenmal von ihrem Vater nach der Reichshauptstadt mitgenommen worden, zum erstenmal betrat sie heute ein solches grosses Restaurant. Als die schwüle, von Tabaksqualm und Speisendunst durchsättigte Luft ihr beim Eintritt so heiss und schwer entgegenschlug, wäre sie am liebsten sogleich wieder umgekehrt. Wie alle Leute, die vom Lande oder aus der Kleinstadt kommen, hatte sie das Gefühl, als ob alle diese fremden, plaudernden und lachenden, kauenden und schluckenden Menschen an ihrer bescheidenen Person einen wer weiss wie lebhaften Anteil nähmen, und als sie ihren weiten Mantel ablegte und den Kopf von seinen Hüllen befreite, stieg ein so ängstliches Gefühl der Befangenheit in ihr auf, wie wenn sie der Mittelpunkt der unverschämten Neugier eines gaffenden Haufens wäre. Und dabei hatten doch nur einige von den Herren am benachbarten Tische flüchtig nach ihr umund aufgeblickt.
Freilich, was sich da aus dem plumpen Fahrmantel mit dem alten schottischen Muster, aus der garstigen Kapuze entwickelte, war wohl des Aufschauens wert. Lori von Drenk besass eine überaus zierliche, mittelgrosse Figur von vollendetem Ebenmass der Formen, welche ein schlichtes, aber gut sitzendes schwarzes Seidenkleid zur schönsten Geltung brachte. Ein weisser, schlanker Hals, von einem losen Tüllschleier anmutig umrahmt, nicht von einem jener militärisch steifen Stehkragen eingezwängt, trug ein zierliches blondes Köpfchen, sehr einfach und sittig frisiert.
Als sie an dem kleinen Tisch am Fenster Platz nahm, drückte einer der Herren am Nebentische rasch seinen goldnen Kneifer auf die Nase und betrachtete sie mit unbefangenster Aufmerksamkeit. Lori bemerkte es bald genug und fühlte, wie ein jähes Rot ihre Wangen überhauchte. Sie sah, wie der Herr seinen Genossen etwas zuflüsterte, wie alle sich nach ihr umwandten und wie sie dann lächelnd ihre Meinungen austauschten.
Lori war keine herausfordernde Schönheit. Ihre Züge waren weich und zart, die Nase etwas zu zierlich; Mund und Kinn überaus mädchenhaft, frisch und lieblich; die Augen gross, dunkelblau, aber still und verständig, durchaus nicht schmachtend im Ausdruck. Ein guter Beobachter konnte wohl aus dem Blicke dieser Augen herauslesen, dass Lori nicht die schwanke, willenlos hingegebene Natur besitze, welche die zarte Blumenschönheit ihres Gesichtes anzudeuten schien.
„Nun, was sagen Sie, grosser Mann, ist das nicht ein entzückendes Geschöpfchen?“ fragte der Herr mit dem goldnen Kneifer seinen Nachbarn, einen auffallend grossen Mann mit einem langgestreckten starken Kopf und einem Paar kleiner heller Augen unter der hohen Stirn.
Dieser paffte gleichgültig den Rauch seiner Cigarre von sich, warf noch einen raschen, scharfen Blick nach Lori hinüber und sagte dann achselzuckend: „Eine kühle Blonde! Es ist die langweiligste Sorte von Schönheit, die ich kenne. Ich wette mit Ihnen, dass sie den ganzen Abend über nicht einmal ordentlich lachen wird!“
„Es muss wohl wahr sein, dass die Gegensätze sich anziehen,“ versetzte der erste, indem er sich mit den schlanken Fingern, an denen mehrere Ringe mit auffallenden Steinen glänzten, durch das leicht gelockte dunkle Haar strich. „Für mich haben diese zarten Blondinen mit den ernsten Veilchenaugen immer eine grosse Anziehungskraft besessen, obwohl ich meinem verfluchten Temperament nach mich doch eigentlich gerade auf die Allerkohlrabenschwärzesten angewiesen fühlen sollte. Sehen Sie bloss, wie das Mädel rot wird, sobald sie sich beobachtet fühlt! Das ist ja rein zum Tollwerden! Ich glaube, ich mache heute nacht noch Verse!“
Der Referendar von Schlichting hatte, nachdem man dem Kellner Bescheid gegeben, seinen Zwicker sorgfältig abgerieben und nun auch seinerseits flüchtige Umschau in der Nachbarschaft gehalten.
„Du, Lori,“ wandte er sich nun an seine Base, „sieh’ mal da nach dem grossen Tisch hinter uns hinüber; da hast du einen ganzen Haufen Berühmtheiten bei einander. Der Mann da mit dem dünnen blonden Haar auf dem langen eckigen Kopf und dem unbedeutenden Schnurrbärtchen, das ist Werner Grey, der so rasch berühmt gewordene Romanschriftsteller. Die kleinen dunklen Herren neben ihm mit den anmutigen Nasen von zweifelloser Herkunft, das sind zwei unsrer gefürchtetsten Kritiker. Die spiessen einen unglücklichen Autor oder Schauspieler mit derselben Gleichgültigkeit an einem boshaften Witz auf, wie ein Junge einen Käfer auf die Nadel. Der junge Mann mit dem unordentlichen Schopf, der sich so nachlässig mit seinem Stuhl zurücklehnt, ist Joseph Kainz, den du heute so sehr als Franz bewundert hast — weisst du, der vor einer halben Stunde sich aus dem Fenster gestürzt und sich jedenfalls das Genick gebrochen hat.“
„Der? Er sieht so gleichgültig und gelangweilt aus — gar nicht, als ob ihm das nahe ginge, was er darstellt,“ sagte Lori, den jungen, von der ganzen Berliner Damenwelt vergötterten Schauspieler mit einem ihrer hellen, aufmerksamen Blicke streifend.
„O, von dem glaube ich doch, dass ihm das Feuer, das er, wenn ich mich so schroff ausdrücken darf, des Abends so vulkanisch ausspeit, auch wirklich im Busen brennt — um mich poetisch auszudrücken.“ Der Referendar kam sich sehr witzig vor und spielte lachend mit seinem Kneifer, indem er sich, gleichsam sich entschuldigend, gegen seine Base verbeugte.
Weder Vater noch Tochter verzogen eine Miene, und der Neffe, in seiner Eitelkeit als witzelnder Plauderer leicht gekränkt, zog die Brauen in die Höhe und setzte seinen Zwicker wieder auf die Nase. „Ist doch eigentlich ein reichlich öder Herr, der brave Onkel Drenk,“ erwog er innerlich — „repräsentiert die fabelhafte Species philosophischer Pisang! Man sieht ihm wenigstens die graue Abstraktion nicht an! Er ist wohlgenährt wie ein Domprobst — muss sich geradezu fett studiert haben, denn ich habe nie bemerkt, dass er für materielle Genüsse einen besonderen Sinn hätte. Und die Base Lori ist seine würdige Tochter, schön wie ein Maientag — aber zehntausend Fuss über dem Meere! Rings herum starrer Fels, keuscher Schnee — und dabei zehn Grad Kälte!“ Er lächelte fein und zupfte etwas nervös an seinem blonden Bärtchen. Schade, dass er diese seine Meinung über die Drenks nicht an irgend jemanden los werden konnte — es wäre so hübsch gesagt gewesen!
Es war ein Stillstand in der Unterhaltung eingetreten, währenddessen die drei ihre Blicke von Tisch zu Tisch wandern liessen, nach bekannten Gesichtern oder nach auffallenden Erscheinungen suchend. Als der junge Herr von Schlichting sich eben wieder mit einer gleichgültigen Bemerkung seiner Base zuwandte, beugte sich Lori über den Tisch zu ihm hinüber und flüsterte im rasch zu: „Sieh’ dich doch ’mal um! An deinem Berühmtheitentisch der Herr mit dem lockigen dunklen Haar starrt mich fortwährend an — ich finde das unanständig!“
Der Referendar warf einen flüchtigen Blick über die Schulter hinter sich und gab dann, ebenfalls im Flüsterton, lächelnd zurück: „Ei, ei, Lori, ich gratuliere dir zu deinen künftigen Triumphen. Wenn Renard dir so auffällig huldigt, dann kannst du deines Erfolges in den Berliner Salons sicher sein! Er gilt als ein grosser Kenner der Schönheit; sein Urteil wird hier von einem gewissen Kreise in allen Dingen für massgebend gehalten.“
Der Freiherr mischte sich in die Unterhaltung: „Renard?“ fragte er leise, „doch nicht der Doktor Gisbert Renard, der die famose Broschüre über Genie und Sittlichkeit geschrieben hat?“
„Genie und Sittlichkeit? Haha! Das ist gut! Ja, ja, richtig — ich erinnere mich,“ versetzte der Referendar, „gelesen habe ich die Chose nicht. Wird wohl pro domo geschrieben sein; denn ich zweifle nicht, dass er sich für ein Genie hält, wogegen es mit seiner Sittlichkeit ...“ Er zuckte die Achseln und liess den Satz unvollendet.
„Nein, da irrst du dich,“ warf der Onkel ein. „Die Abhandlung knüpfte an den Prozess Gräf an und war sehr ernst und objektiv gehalten.“
„Objektiv ist gut!“ lachte Schlichting ironisch. „O ja, er wird wohl keine Gelegenheit versäumt haben, das Thema zu studieren. Es ist noch kein Jahr her, dass ihm seine Frau durchbrannte — eine hübsche Schauspielerin semitischer Rasse — und sehr pikant!“
„Was hat das mit der Sittlichkeit des Mannes zu thun?“ fragte Lori, die klaren ernsten Augen verwundert auf ihren Vetter richtend.
Er zuckte die Achseln und warf nur die eine Silbe: „Na!“ leicht hin.
Lori strich mit ihren schlanken weissen Fingern die Serviette glatt über die Tischkante. „Ach so — du meinst, eine solche Frage dürftest du mit mir nicht erörtern. Ein Ballgespräch wäre das freilich nicht!“
Der Referendar wurde verlegen. „Das soll ein Stich sein, nicht wahr? Nun, weisst du, ich kann schon ernsthaft reden, vielleicht sogar auf Bällen, aber offen gestanden — bei aller Hochachtung vor deiner Objektivität, mein ebenso schönes wie gelehrtes Cousinchen! — ich glaube nicht, dass du aus der Provinz viel Verständnis für diese Art Leute mitbringst.“
„Diese Art Leute? Wie meinst du das?“ forschte Lori.
Der Referendar beugte sich nahe zu seiner Base hinüber und auch der Freiherr horchte auf, indem er seine grosse Hand ans Ohr legte.
„Weisst du, dieser Renard ist eine richtige Grossstadtpflanze. Er muss überall dabei sein, wo etwas los ist, sei es eine Theaterpremière, eine Kanzlerrede, ein Jubiläumsdiner, eine Eröffnungsfeier, ein denkwürdiges Leichenbegängnis oder was sonst immer. Er ist stolz darauf, zum tout Berlin zu gehören, er kennt alle Welt und wird von aller Welt gekannt, er macht allen schönen Frauen den Hof, ist mit allen grossen Künstlern befreundet, speist mit den oberen Zehntausend und kneipt in Hemdärmeln mit der Bohème, wo es so Stil ist. Er besitzt Geist genug, um mit gescheiten Leuten gescheit zu plaudern und ebenso auch die nötige Schnoddrigkeit, um die flachsten Köpfe zu amüsieren; jeder Mensch hält ihn für seinesgleichen, — er selbst glaubt sich wahrscheinlich allen überlegen und ist doch ganz befriedigt durch die Rolle, die er als Licht unter den Lichtern spielt, obwohl er im Grunde nichts weiter bedeutet, als eine von den Fünfhundert-Kerzen-Leuchtkräften, welche zusammen die grosse Bogenlampe speisen, die sich Berliner Gesellschaft nennt.“
„Hm, sehr gut ausgedrückt!“ brummte der Freiherr mit beifälligem Kopfnicken, während Lori sich nicht weiter äusserte, sondern die Gelegenheit benutzte, den Gegenstand ihrer Unterhaltung, der gerade in lebhaftem Gespräch mit dem grossen Grey begriffen war, mit kühler Aufmerksamkeit zu betrachten. Sie fand ihn gut aussehend, zum mindesten nicht gewöhnlich. Seine hohe weisse Stirn ragte in zwei schön geschwungenen Ausbuchtungen fast bis auf die Höhe des Kopfes hinauf, während in der Mitte das künstlerisch gewellte braune Haar sich noch erfolgreich gleichsam auf seinem rechtmässigen Boden festklammerte. Auf dem Hinterhaupt war, einer verwachsenden Tonsur gleich, dieser üppige Haarwuchs bereits stark gelichtet; dagegen waren die Bewegungen des Mannes so rasch und jugendlich, dass sein Alter schwer zu erraten war. Im übrigen sah sie nur das energische Profil und dass er nicht über Mittelgrösse war. Sie wandte sich mit teilnahmsvoll gespanntem Ausdruck dem Vetter wieder zu und ermunterte ihn fortzufahren durch die Frage: „Nun, und was steckt eigentlich dahinter? Was leistet er?“
„Was er leistet?“ versetzte der junge Mann mit hochgezogenen Brauen. „Je nun: er macht sich angenehm! Soviel ich weiss, ist er ursprünglich Rechtsanwalt gewesen — hat vielleicht mal irgend einem würdigen Hauptschuft durch ein glänzendes Plaidoyer über die Barriere geholfen und sich dadurch einen Namen gemacht, der ihn in der Gesellschaft günstig einführte. Von seiner Herkunft weiss ich nichts — wahrscheinlich gehört die Familie zur französischen Kolonie, denn der Mann ist unzweifelhaft mit Spreewasser getauft — du weisst doch, Onkel, bei dem richtigen Berliner hat der hugenottische Perouquier und der emanzipierte Jud’ Pathe gestanden; ein reines Produkt von Sand und Kienäpfeln ist diese Sorte nicht! — Na, also eines Tages gehört Doktor Gisbert Renard zur Gesellschaft, hat Geld die Hülle und Fülle — kein Mensch weiss, woher, sein Name taucht immer öfter in den Zeitungen auf als Mitglied eines Komitees zur Feier des vierzigjährigen Jubiläums irgend eines eitlen Mimen, des sechzigsten Geburtstages irgend eines Künstlers oder Gelehrten, als Verfasser eines launigen Gelegenheitsgedichtes oder auch einer ernsthaften Flugschrift. Man sieht ihn heute Arm in Arm mit Virchow unter den Linden spazieren und tuschelt sich morgen etwas über sein Verhältnis mit der jungen Frau Kommerzienrätin so und so in die Ohren; dann taucht er wieder in irgend einem Luxusbade als Freund einer graziösen Tänzerin auf; übermorgen hält man ihn allgemein für den Verfasser eines aufsehenerregenden politischen Artikels in den Grenzboten — plötzlich ist er zum Aerger von einigen Dutzend jungen Damen verheiratet, dann gibt es ein anmutiges Skandälchen, hier und dort ein bisschen sittliche Entrüstung über Madame oder Monsieur, je nachdem — aber jedenfalls viel Vergnügen, und schliesslich grosse Freude bei der Nachricht, dass Madame mit Hinterlassung einiger Kinder ihm davongelaufen ist! Als Anwalt praktiziert er, glaube ich, schon lange nicht mehr; aber wunderbar bleibt es doch, wozu der Mann und so viele seinesgleichen immer Zeit haben!“
Der Kellner brachte die bestellten Speisen, und während des Essens sprang das Gespräch nunmehr flüchtiger von einem Gegenstand auf den andern über. Lori beteiligte sich nur sehr wenig daran, ebenso wie sie an ihrem Gerichte nur zerstreut herumschnitt und nur winzige Bissen davon zu sich nahm, wie ein satter Vogel, der noch ein Stückchen Zucker zu picken bekommt. Sie ass wie eine vornehme Dame, welche der Sauberkeit einer öffentlichen Küche nicht traut, und handhabte das Bierglas mit einem gewissen scheuen Missbehagen. Der Vater schalt sie gutmütig aus ob ihrer Kostverachtung und der Vetter Referendar konnte sich nicht enthalten, sie ein wenig mit ihrem Provinz-Damentum zu necken. Doch sie wies Vorwürfe wie Neckerei mit der ruhigen Bemerkung zurück, dass sie nach einer heftigen Gemütserschütterung, wie sie das gewaltige Spiel des Fräuleins Pospischill als Adelheid in der Scene mit dem Vehmrichter in ihr verursacht habe, niemals viel essen könne und dass es ihr überhaupt nicht angenehm sei, unter lauter Fremden und zudem in solcher Luft zu speisen.
Der Vetter lachte: „Ich glaube wahrhaftig, Lori, dich hat die Scene stärker mitgenommen, als die Pospischill selber.“
„Ich kann nicht glauben,“ versetzte Lori, „dass eine Schauspielerin, die andern so mächtig ans Herz zu greifen weiss, selbst ganz ungerührt bleiben sollte von dem Furchtbaren, das sie darzustellen hat. Ein Weib, das ihren Gatten so schamlos hintergeht, ihn dann kaltblütig tötet und nun den Rächer in so unheimlicher Gestalt herankommen sieht — das ist etwas so Entsetzliches, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, wie eine Frau sich in eine solche Rolle hineinzuleben vermag!“
„Nun ja, jede vermag’s auch nicht,“ belehrte der junge Schlichting; „dazu muss eine schon ein bisschen den Teufel im Leibe haben. Einer meiner Freunde, ein vortrefflicher Musiker, klagt geradezu sein unglückliches Schicksal an, weil es ihn zu einem so rettungslos anständigen Menschen gemacht habe, — er behauptet, vom grossen Lumpen bis zum grossen Künstler sei nur ein Schritt, und die Tugend ein für allemal unproduktiv!“
Der Freiherr schüttelte den Kopf: „Wo soll das hinaus? Diese Verachtung aller Tugend, Treu und Ehrlichkeit ist auch so eine kostbare Errungenschaft unsres freimaurerisch-reformjüdischen Jahrhunderts.“
Der Referendar wusste bereits, dass der gute Oheim in seinem seltsam krausen Studiengange in jüngster Zeit zu der grossen Entdeckung gelangt war, dass für alle Niedertracht der Gegenwart einzig und allein die Logenbrüder und Reformjuden verantwortlich zu machen seien. Er wusste auch, dass der Onkel kein Erbarmen kannte und kein Ende fand, wenn man unvorsichtig genug war, sich auf dies Thema mit ihm einzulassen. Er liess daher seinen Einwand auf sich beruhen und drückte sich etwas allgemein also aus: „Ja, ja: man immer dicke durch? Wie der Berliner sagt! Nur nicht umsehen und stehen bleiben, wenn man einen unterwegs umgerannt hat; wenn man nur selbst früh genug ankommt. Rücksicht, Höflichkeit sind Lügen — nicht nur im Deutschen! Aber die Lüge ist freilich oft ein nützliches Ding.“ Er sagte das mit der wichtigen Miene des welterfahrenen Mannes, der den armen Hinterwäldler wohlwollend belehrt. „Gelt Onkel, im Reichstag lernt man auch bald genug, diesen Gassenhauer nachpfeifen! Wie gefällt es dir eigentlich in dem hohen Hause?“
Der wohlbeleibte Pommer putzte sich mit der feuchten Serviette den Bart, seufzte und sprach: „Wenn man so, wie ich, mit der Absicht hierhergekommen ist, seinem Volke Zufriedenheit zu schaffen, ehrliche Arbeit zu belohnen, widerstreitende Interessen nach Kräften zu versöhnen, dann kann es einem bald schwer ums Herz werden! Man möchte wirklich wünschen, man wäre ein Erzeinfaltspinsel oder ein Türke, mit dem Kismet bewaffnet! Na, lassen wir das lieber! Ich bin wohl auf meiner Scholle zu alt geworden und verstehe die Welt nicht mehr. Du bist ein junger Mann, Günther, ich will dir keine Illusionen rauben. Illusionen bedeuten Thatkraft — behalte das nur immer im Auge! Du bist ein guter Kopf, ein scharfer Beobachter, das erkenne ich aus allem, was du sagst. Die Zukunft hat solche Köpfe nötiger als meinen pommerschen Dickschädel! Lass dir nicht bange machen, mein guter Günther!“
Der Referendar liess seinen Kneifer von der Nase fallen und schlug in des Onkels dargereichte Rechte ein. Der brave Herr kam ihm mit seiner Manier „des Lebens Unverstand mit Wehmut zu geniessen“ recht abgeschmackt vor und er dünkte sich in seiner weltstädtischen Aalhaut dem schleppfüssig dahinwandelnden und vor jedem neuen Thore stutzenden Provinzler unendlich überlegen. Er vermochte ein etwas spöttisches Lächeln nicht ganz zu verbergen — und Loris klaren Augen war dies Lächeln und seine Bedeutung nicht entgangen.
Sie mahnte zum Aufbruch und die Herren mussten ihr wohl oder übel Folge leisten, obwohl sie gern noch eine Halbe getrunken hätten.
Gleichzeitig mit ihnen stand auch Herr Renard vom Nachbartische auf. Lori erhob die Arme, um ihren Schleier auf dem Hinterhaupte festzubinden, während der Vetter hinter ihrem Rücken den weiten Mantel, zum Umlegen bereit, ausgebreitet hielt. Renards scharfe, lebhafte Augen hingen voll Bewunderung an ihrer schlanken Gestalt, deren vollendete Formen eben jetzt ihre Haltung zur besten Geltung brachte. Das junge Mädchen fühlte unter dem Schleier, wie sie errötete, und raffte mit einer raschen, ärgerlichen Wendung den Mantel um. Das Spitzentuch, das sie vorhin über den Kopf geworfen hatte, hing jetzt unbenutzt über ihrem Arm. Sie nestelte noch an ihrem Handschuh beim Hinausgehen.
Renard verabschiedete sich hastig von seinen Freunden und eilte dann der schönen Fremden nach. Ah, welch ein Glücksfall! Auf einer der obersten Treppenstufen lag ihr schwarzes Spitzentuch. Er hob es auf, und am Fuss der Treppe angekommen, schaute er um sich und drückte, da er sich unbeobachtet sah, tief aufatmend sein Gesicht hinein. Er vermeinte den feinen, vornehmen Duft ihres Haares einzuatmen, er küsste das Tuch — und dann trat er rasch auf die Strasse hinaus.
An der Ecke der Friedrichstrasse, unter einer Laterne, holte er die drei ein. Er zog seinen Hut und sagte verbindlich: „Gestatten die Herrschaften — ein ehrlicher Finder! Ich bin so glücklich gewesen, diesen Spitzenshawl zu retten. Ich glaube, mich nicht zu irren — das gnädige Fräulein trug ihn um den Kopf, als Sie das Restaurant betraten.“
Die Baronesse nahm mit einer anmutigen Neigung des Hauptes das Tuch aus seiner Hand entgegen, während ihr Vater in ihrem Namen dankte: „Allerdings, Herr Doktor, wir sind Ihnen sehr verbunden.“
„Ah, ich habe das Vergnügen, von Ihnen gekannt zu sein!“ rief Renard stutzend.
Der alte Freiherr lupfte nochmals seinen Hut und sagte: „Wir haben ‚Genie und Sittlichkeit‘ gelesen, meine Tochter und ich, und mein Neffe, Herr von Schlichting, machte uns darauf aufmerksam, dass der Verfasser in unserer Nähe sitze. Mein Name ist Baron Drenk, Gutsbesitzer und zur Zeit Abgeordneter.“
Doktor Renard verbeugte sich gegen die ihm auf diese Weise Vorgestellten und sagte: „Von heute ab werde ich anfangen stolz zu werden auf mein bisschen Schriftstellerei, da sie mir eine solche Bekanntschaft verschafft hat. Ich hätte nie zu hoffen gewagt, dass meine trockne Abhandlung auch schöne Leserinnen finden werde.“
Wieder nahm der Freiherr für seine Tochter das Wort: „Wir sind zwei einsame Leutchen, meine Tochter und ich. Wir teilen alles miteinander, und so auch unsere Lektüre. Meine Tochter hat eine ganz besondere Vorliebe für populär gehaltene philosophische Abhandlungen und dergleichen.“
„Es macht mich wahrhaft stolz, dass es mir vergönnt war, mit meiner bescheidenen Arbeit auch einmal Ihre nachdenkende Teilnahme für einige Zeit gefesselt zu haben — das heisst wenn mir das wirklich gelungen ist!“ wandte sich Renard an das Fräulein. Er besass ein wohlklingendes starkes Organ.
„Gewiss, Herr Doktor,“ versetzte Lori, „ich habe viel nachgedacht über Ihre Ansichten; aber ich darf nicht darüber urteilen, denn an mir selbst ist nichts Geniales und von der Welt verstehe ich auch wohl nichts — besonders seit gestern.“
„Seit gestern?“
„Ja, gestern sind wir hier angekommen. Ich bin zum erstenmal in Berlin,“ erklärte Lori auf seine erstaunte Frage.
Der Referendar ergriff die günstige Gelegenheit, sein unfreiwilliges Schweigen zu brechen, indem er dem Doktor mit versteckter Ironie von dem Hauptinhalt ihrer jüngst gepflogenen Unterhaltung Andeutungen gab und besonders das Verhalten seiner Base im Theater schilderte. „Ist es nicht merkwürdig?“ schloss er: „Wir gehen aufs Land, um unsere Nerven zu stärken, und wenn diese kerngesunden Herrschaften aus der Provinz zu uns kommen, dann zeigen sie sich nervöser als unsere mattesten Badeflüchtlinge.“
„Ich glaube, Sie ziehen da einen falschen Schluss,“ entgegnete Renard. „Es ist gerade ein Zeichen der nervösen Abspannung, wenn selbst die starke Leidenschaft nicht mehr zu erschüttern, das Schöne nicht mehr zu begeistern und das Hässliche nicht mehr Abscheu zu erregen vermag. Und gerade die Kunst wird ihre Wirkungen viel stärker auf den Gesunden ausüben, als auf den Kranken. Der blasierte Mensch spottet gern der tragischen Erschütterung, weil sie ihn vor sich selbst beschämt; der Gesunde empfindet sie als einen Genuss, weil sie ihn im Glauben an das Grosse stärkt — meinen Sie nicht auch, mein gnädiges Fräulein?“
„Gewiss,“ versetzte Lori, indem sie lächelnd zu ihm aufblickte. „Das ist auch immer meine Empfindung der Kunst gegenüber gewesen. Es ist trostlos, dies gedankenlose Behagen an lauter gefälligen Nichtigkeiten, aber es ist herrlich, sich so recht als Zwerg empfinden zu dürfen, wenn die Kunst einem das Grosse einmal mit wirklicher Kraft gegenüberstellt.“
Sie waren unter solchen Gesprächen bis an die Ecke der Französischen Strasse gekommen, als ein lärmender Auftritt sie hässlich unterbrach. Vor dem Café National schlugen zwei aufdringlich modern gekleidete Damen mit ihren Regenschirmen aufeinander los. Garstige Schimpfworte flogen herüber und hinüber und erregten das rohe Gelächter des rasch anwachsenden Zuschauerkreises.
„Da haben Sie ein Gegenstück zu Genie und Sittlichkeit,“ scherzte der Referendar: „Die ungenierte Unsittlichkeit!“
Der Freiherr war mit seiner Tochter rasch abgebogen, um die andere Seite der Strasse zu gewinnen.
„Das ist abscheulich!“ flüsterte Lori ihrem Vater zu, indem sie sich fester an seinen Arm klammerte. „Wollen wir nicht eine Droschke nehmen?“
Er that nach ihrem Begehren und sie bestiegen den nächsten besten Wagen. Die beiden Herren verabschiedeten sich und Schlichting rief dem Kutscher zu: „Nach dem Askanischen Hof!“
Die Droschke rasselte davon und nun nahmen auch die beiden Herren voneinander Abschied, da der Referendar in der entgegengesetzten Richtung zu wohnen vorgab. Er ärgerte sich ein wenig darüber, dass der andere ihn so kühl behandelte und besonders seinen Witz so schweigend aufgenommen hatte. Renard bestieg nun gleichfalls eine Droschke und fuhr davon, während der junge Rechtsgelehrte die gute Gelegenheit, Berliner Sittenstudien zu machen, nicht versäumte und erst noch das Ende des Zweikampfes jener beiden Heldinnen abwartete, bevor er selber — das Nachtcafé betrat. — —
Doktor Renard pflegte um diese frühe Stunde — es war noch nicht einmal Mitternacht — sonst fast regelmässig das Café Kaiserhof zu besuchen, wo er unter den Herren von der Börse, von der Litteratur, von der Börsenlitteratur und der Litteraturbörse gleich gern gelitten war, obwohl er nicht den Vorzug hatte, sich zu den „geehrten Herren Kollegen“ zählen zu dürfen. Es war ihm heute nicht danach zu Mute, über den neuesten Witz zu lachen oder den neuesten Skandal zu glossieren; das blonde Landfräulein hatte ihn mit seinem Ernst aus der Stimmung gebracht. Er fuhr direkt nach der Drakestrasse, wo er eine mittelgrosse, höchst modern ausgestattete Mietwohnung im zweiten Stock eines neuen Hauses inne hatte.
Das Wachskerzchen, mit dem er sich die Treppen hinaufgeleuchtet hatte, brannte gerade lange genug, um ihm im Vorflur zu leuchten, bis er sich seines Ueberziehers entledigt hatte. Er zündete die Lampe nicht an, sondern warf sich in seinem dunklen Studierzimmer auf den wunderbar bequemen Schlittendiwan. Er verschränkte die Arme unter dem Kopf und schloss die Augen, um ein wenig zu träumen. Und wirklich, da stand sie vor ihm, die liebliche Erscheinung, die er hatte heraufbeschwören wollen! Gegen einen hellen Lichtkreis hoben sich die Umrisse der schlanken Gestalt plastisch ab — er sah sie mit zurückgebeugten Oberarmen, mit leicht vorgeneigtem Haupte dastehen, so wie er sie in dem Restaurant gesehen hatte, als sie sich anschickte, den Mantel umzunehmen. Aber jetzt zwang sein Wille sie, ihm stillzuhalten, wie dem Maler sein Modell. Langsam schlürfend wie ein Weinkenner, sog er das schöne Bild in seine Seele ein. Und dann, als es endlich zerflossen war, drängte ein ausgelassener Maskenzug wie aus einem geöffneten Thore aus jenem Lichtkreis heraus. Alle die Frauen und die Mädchen, die er einst geliebt oder zu lieben geglaubt hatte, tauchten hervor, suchten seine Aufmerksamkeit durch die kecksten Gebärden und die leuchtendsten Blicke zu fesseln, ohne dass doch eine den Nachdrängenden länger als ein paar Sekunden standzuhalten vermocht hätte. Keine dieser Damen vertrug es, näher gekannt zu sein, sagte sich Renard, und mit einem bösen Lächeln entliess er eine nach der andern aus seiner Erinnerung. Zum Schluss behauptete seine entlaufene Frau allein das Feld. Er suchte sie unbefangen mit kritischem Blick zu betrachten. O ja, sie war hübsch, sehr hübsch, trotz des dunklen Schattens auf der Oberlippe, trotz des etwas zu grossen, zu schwellenden Mundes. Zum zweitenmal würde er sich nicht in ein solches Gesicht verlieben; aber amüsant war sie doch gewesen, leichten schlagfertigen Geistes, Ohne je etwas Ordentliches gelernt zu haben. Man hatte ihn beneidet um die Frau, so lange, — bis man ihn bemitleidete oder auslachte! Was hatte die Frau aus ihm gemacht, aus seinem Hause, aus seiner Familie!
Er sprang auf und wühlte mit den zehn Fingern durch sein Haar, um die hässliche Erinnerung los zu werden. Dann zündete er ein Licht an und ging in sein Schlafzimmer hinüber, um sich der Stiefeln und des engen Rockes zu entledigen. Weiche rote Saffianpantoffeln an den Füssen, mit einer künstlerhaften Sammetjoppe angethan, betrat er sodann das Kinderzimmer. Er löschte das Licht, denn eine rote Ampel verbreitete hinreichende Helle in dem schmucklosen, aber netten Raume. Er beugte sich über das Bett seiner Aeltesten, eines Mädchens von sechs Jahren. Er setzte seinen Zwicker auf die Nase und betrachtete lange und aufmerksam die weichen Züge des schlafenden Kindes. Das dichte braune Lockengewirr breitete sich weit über das Kopfkissen aus. Die vollen roten Lippen waren leicht geöffnet, weisse Zähnchen schimmerten feucht dahinter. Da lachte das Kind im Schlafe auf, patschte mit der Linken laut auf das Deckbett und wandte sich auf die andere Seite.
„Du lachende kleine Meduse!“ murmelte Renard vor sich hin, indem er das Kind leise auf den dunklen Scheitel küsste! Dann trat er an das gegenüberstehende Bettchen seines vierjährigen Knaben. Der hatte sich blossgestrampelt und mit der Gelenkigkeit eines kleinen Clowns sein strammes Beinchen wie einen lieben Kameraden mit den Armen umschlungen. Das rosige Licht liess das kecke, etwas schmollende Gesicht des Bürschchens frischer erscheinen, als es in Wirklichkeit war, und mit den Wangen wetteiferten an straffer gesunder Fülle die wohlgerundeten Hinterbäckchen. Ein väterlicher, neckender Klapps auf diesen naiven Körperteil liess den kleinen Kerl zusammenfahren. Er riss die runden Augen gross auf, starrte seinen Vater mit offenem Munde an, und dann sagte er ganz klar und gemütlich: „Na, Papa, bist du auch mal da?“ und dann wälzte er sich auf den Bauch, bedeckte die Augen mit den kleinen Fäusten — und war in zwei Minuten wieder fest eingeschlafen. Sein Vater zog das Deckbett herauf und glättete es über seinem Rücken.
Die Thür zum Nebenzimmer war nur leicht angelehnt — ein leises Husten klang von dorther. Renard horchte auf, lächelte, schüttelte den Kopf und ging wieder in sein Studierzimmer zurück.
Mit dem Licht in der Hand stellte er sich vor den Spiegel und betrachtete aufmerksam sein Ebenbild: „Hm! Nun ja,“ murmelte er vor sich hin, „die Kinder haben etwas von mir! Ich will einmal eitel sein. Aber wie lange wird es dauern, da ist es aus mit dem rafaelischen Cherubtum und meine süssen Kinder sind dem Stamme Abrahams, Isaaks und Jakobs rettungslos verfallen! Es sollte mich gar nicht wundern, wenn meine eigene christliche Nase nicht auch schon einen Stich ins Prophetische bekommen hätte.“
Er betrachtete diese gefährdete Nase von allen Seiten, ohne dass er doch vorläufig etwas Beunruhigendes daran wahrgenommen hätte. Dann stellte er das Licht auf die Spiegelkonsole, zündete sich eine Cigarette an und begann einen nachdenklichen Spaziergang um das Zimmer herum. Er legte die hohe Stirn in Falten, nagte die Unterlippe, blieb stehen, paffte eine dicke Wolke durch die Zähne, fuchtelte mit den Händen herum, stiess abgebrochene Worte, halbe Sätze hervor; kurzum — er dichtete!
Jetzt schien er eine Strophe beisammen zu haben. Er nahm das Licht und begab sich damit nach dem Schreibtisch, um die Studierlampe anzuzünden. So, das war gethan! Von einem grünen seidenen Schleier bedeckt, warf sie ihr mildes Licht auf das glatte weisse Löschpapier der Schreibunterlage.
Da lag ja ein Brief mittendrauf! Renard wollte den Störenfried nach einem flüchtigen Blick auf die Adresse beiseite schieben. Das Ding konnte auch bis morgen warten. Jetzt galt es, die Muse zu schmieden, solange sie warm war — wie sein Freund Wippchen gesagt haben würde. Aber diese Handschrift? — Er nahm den Brief wieder zur Hand, setzte den Kneifer auf und betrachtete aufmerksam die Aufschrift. Poststempel Bremen.
„Himmel! Der verdammte Junge wird doch nicht etwa zurückgekommen sein!?“ knirschte der Doktor zwischen den geschlossenen Zähnen hervor. Dann riss er hastig den Umschlag ab und entfaltete den Brief.
Wahrhaftig, da stand’s:
„Lieber Bruder!
Ja staune nur! Da bin ich wieder im alten Lande. Ich konnte mir nicht helfen — es hilft Dir also wohl auch nichts! Sehr vergnügt wirst Du natürlich nicht sein, dass Du mich nun wieder hast. Aber am Ende bin ich doch gar nicht so schlimm; dumme Streiche muss jeder machen, der es einmal zu etwas bringen will. Darüber mache Dir weiter keine Sorgen! Uebrigens bist Du ja auch ein verfluchter Kerl! Wenn wir zwei uns einmal hinsetzen und uns alles ordentlich überlegen, dann werden wir schon sehen, was mit mir anzufangen ist. Also alles Nähere mündlich!
Nur noch eins: ich bin als Schiffskoch frei herübergekommen. Natürlich habe ich jetzt keinen Ueberfluss an Kleingeld. Der Wirt pumpt höchstens noch vierundzwanzig Stunden, — das sehe ich dem fetten Schufte an — mein Koffer schien ihm gleich keinen sonderlich vertrauenerweckenden Eindruck als Pfandstück zu machen. Also sei so gut und weise mir per Draht eine bescheidene und N.B. anständige Summe an. Hotel Ottmer.
Dank und Gruss zuvor von
Deinem treuen Bruder
Henri.
P. S. Deine Frau lässt Dich schönstens grüssen. Ich habe sie in San Francisco zufällig getroffen. Du übrigens — na, wir sehen uns ja bald ...!“
Renard liess sich matt auf seinem stilvollen Schreibsessel mit dem gepressten Lederbezug zurücksinken. „Nanu kann’s hübsch werden!“ stöhnte er und schleuderte dabei das brüderliche Schreiben unsanft auf den Schreibtisch zurück.
Er sann ein Weilchen nach, dann entnahm er einem Fache des Aufsatzes auf dem Schreibtisch das Fahrplanbuch und blätterte mit leicht zitternden Fingern darin herum, bis er die Strecke nach Bremen gefunden hatte. Er beschloss, am andern Morgen selbst hinüberzufahren, um mit dem Strolch, dem Henri, ein ernstes Wort zu reden. Er durfte ihm um keinen Preis nach Berlin kommen — um keinen Preis!