Читать книгу Die kühle Blonde. Erster Band - Ernst von Wolzogen - Страница 4

Zweites Kapitel. Richtige Berliner.

Оглавление

Das fischzugberühmte Stralau läuft mit seinen letzten Häusern, meist Bierwirtschaften und Bootsbauereien, auf einer Landzunge aus, welche die Reichshauptstadt der hierorts gar breitspurigen Mutter Spree sozusagen in kindlichem Uebermute weit herausstreckt. Und der Spitze dieser Landzunge gegenüber liegt ein kleines Eiland, welches der Berliner Witz in einer Anwandlung grausamster Galgenlaune die „Liebesinsel“ getauft hat. Dem Spreeathener schmeckt seine kühle Blonde in der Gartenwirtschaft dieses nüchternsten, reiz- und poesielosesten aller Eilande ebensogut, als würde sie ihm in einem cyprischen Myrthenhaine kredenzt, während die alten, echten Athener den Frechen, der es gewagt hätte, solch ein Stück Kartoffelland, von missfarbigem Wasser umflossen, mit der Schaumgeborenen in geistige Verbindung zu setzen, sicherlich wegen Gotteslästerung gesteinigt hätten.

Und dennoch waren es zwei Künstler, leibhaftige Musensöhne, welche an einem der letzten sonnigen Oktobertage mit ihrem Segelboot hier gelandet waren, um auf dieser trostlosen Insel bei einer Weissen den nahe bevorstehenden Sonnenuntergang zu geniessen.

„Was sinnst du, Fernando, so trüb’ und bleich?“ spottete der eine von ihnen, ein untersetzter, breitschulteriger Mann mit modisch gestutztem, dunkelblondem Vollbart, indem er dem neben ihm sitzenden jungen Menschen mit der auffallend hohen Stirn und den dunkel umränderten blauen Augen scherzend auf den Oberschenkel schlug. „Sie sind zwar nicht Landschafter, aber im Anblick so jrossartiger Naturschönheiten muss es doch sojar enem sauern Hering vor Verjnügen schwummerig werden, dächte ich! Immer ’raus aus de Trauerkutsche, junger Mann — wofor sind wir denn sonst nach de ‚Liebesinsel‘ jejondelt?“

„Ja, Sie haben gut lachen,“ entgegnete der andere bitter, „Sie betreiben Ihre Kunst als einen Sport, so gut wie das Segeln, die Jagd und das Radfahren — Sie Hausbesitzer Sie!“

„Nanu, wer wird denn gleich so harte Worte wählen!“ fuhr jener gutmütig dazwischen. „Na, prost! Die Kunst soll leben!“

Er pustete den Schaum von der Oberfläche des sandgelben Getränkes und nahm einen tüchtigen Schluck. Dann rief er, mit zärtlichen Blicken in die Ferne schauend: „Is des nich einfach jrossartig, det Wasser, det Jrün, der Rooch und die Luft!“ Er streckte pathetisch die Hand aus, indem er mit malenden Bewegungen nach Westen wies, wo am fernen, dunstigen Horizonte hinter der qualmenden Riesenstadt, gerade über dem breiten, mattschimmernden Wasserspiegel, von freilich grünen, sonst aber so flachen und reizlosen Ufern eingesäumt, die Sonne in die Versenkung zu steigen im Begriffe war.

Der jüngere Mann blickte ungläubig zu seinem Kunstgenossen auf und versetzte: „Das sagen Sie, Herr Flörke, der Sie erst vor vier Wochen aus der Schweiz zurückgekommen sind!?“

„Eben drum!“ rief Flörke laut. „Mir können de Alpen und der janze Klimbim von meinswejen jestohlen wer’n! Denn erstens mal is et verflucht schweisstreibende Arbeit, da rufzukrabbeln, un wenn man oben is, denn sieht man merschtendehls nischt. Und is et ’mal ausnahmsweise klar, denn flimmert d’ Sonne och gleich so doll uf ’n Schnee, dass eenen die Oogen überjehen. Und bei die Kälte wer’n einem ooch de Fingern so klamm, dass man doch nich bei malen kann! Und nu erst jar die faulen abjejrasten Thäler: wat sieht man denn da? Is ja allens ringsrum zu! Da fühlt sich der freie Jeist beklommen wie Aujust im Krönungswagen! Luft — Luft — und nochmal Luft — des is de Hauptsache bei de Landschafterei! Oder meinen Sie etwa nich, Meister Vollborth?“

Der zog die Stirn in Falten und höhnte: „Ja wohl, lauter Luft, — oder sagen wir lieber Wind, ist’s freilich mit dieser Kunst — und eitel Dunst obendrein!“

Flörke klopfte ihm begütigend auf die Schulter: „Na, na, sei’n Sie man jemietlich, oller Freund! Darum keene Feindschaft nich! In der Kunst kommt es ja doch bloss auf das Wie an. Dass Sie was können, das hab’ ich ja heute an Ihren Studien jesehen. Folgen Sie man vertrauensvoll meinem Rate. Nu aber an Bord! Es is die höchste Zeit — Vater Döhmke kriecht höllisch früh in de Klappe.“

Sie zahlten, bestiegen ihr Boot und segelten in wenigen Minuten nach Treptow hinüber.

In einer kleinen Bucht, die zum Bootshafen hergerichtet war und dem ziemlich grossen Garten einer stattlichen Villa zugehörte, legten sie an. Auch dieser Garten hatte nichts Berauschendes an sich, war aber doch im Vergleich zur „Liebesinsel“ schier ein Paradies zu nennen. Am Ufer zog sich eine Reihe von Weiden hin, über welche zwei stattliche Rüstern hervorragten. Unter der mittelsten Rüster befand sich eine Gartenbank mit Tisch und Stühlen; zwischen zwei Weiden war eine Hängematte befestigt. Zwischen der Baumreihe und dem Hause lag ein wohlgehaltener Rasenplatz und dicht am Hause befanden sich noch ein paar mager bestellte Blumenbeete. Das war die ganze Herrlichkeit — und doch in Anbetracht der Nähe der Riesenstadt eine wahre Herrlichkeit, ein beneidenswerter Besitz.

Der Mann, der sich eines solchen angenehmen Ueberflusses rühmen durfte, nannte sich Karl Friedrich Ferdinand Zwillich und war seines Zeichens Bauklempner. Freilich brauchte er schon lange nicht mehr mit dem Lötkolben auf schwindelhohen Dachfirsten zu hantieren, er betrieb seit einer ganzen Reihe von Jahren das Geschäft „ang Jroh“ und war nur noch als geschäftlicher Leiter „von’s Janze“ thätig. Um fünf Uhr etwa kam er aus der Stadt nach der Villa hinaus und dann widmete er sich seiner lieben Familie, welche aus seiner Gattin Eugenie und drei Töchtern mit Namen Else, Erna und Erika im Alter von zwölf bis achtzehn Jahren bestand.

Als die beiden Maler durch den Garten nach dem Hause hinaufschritten, fanden sie die drei Zwillichmädchen und noch ein paar ihrer Freundinnen mit Reifenwerfen beschäftigt, während auf der Veranda des Hauses, welche mit Blumenampeln, Epheuwänden, Palmenvasen und Oleanderkübeln sehr hübsch ausgeschmückt war, Frau Eugenie und noch zwei andere Herrschaften dem Spiele zusahen. Flörke schien hier sehr bekannt zu sein; er rief im Vorbeigehen den erhitzten, kichernden Mädchen einige Neckereien zu und schleppte dann seinen Kollegen mit auf die Veranda, um ihn den Herrschaften vorzustellen.

„Herr Malermeister Vollborth — Frau Zwillich.“ Und dann, auf eine sehr grosse und sehr hagere Dame mit einer runden Brille auf der Nase deutend: „Fräulein Döhmke, berühmt als Tante Albertine — Herr Rentier Pickel.“

Tante Albertine schnellte kerzengerade in die Höhe, warf einen scheuen Blick über die Brille, knickste und setzte sich ebenso plötzlich wieder nieder, um an ihrem Strumpfe weiterzustricken, während der zuletzt vorgestellte Herr, ein kleiner Mann mit einem dichten, dunklen Vollbart und in der Mitte gescheiteltem Haar, sich mit der Hand auf dem Herzen mehrere Male auffallend tief nach der linken Seite zu verbeugte, während doch der vorgestellte junge Mann auf der rechten stand. Vollborth starrte den sonderbaren kleinen Herrn erstaunt an und bemerkte da freilich gleich, was ihm die anderen alle gleichzeitig durch eifrige Gebärden klar zu machen suchten, nämlich: dass Herr Pickel blind war.

Frau Zwillich wandte sich mit einem liebenswürdigen Lächeln dem bleichen jungen Künstler zu. Sie musste einmal recht hübsch gewesen sein — schade, dass einige Zahnlücken den sonst so freundlichen Eindruck ein wenig störten; aber in ihrem Blick lag immer noch etwas jugendlich Schmachtendes und ihrem hohen Organ bestrebte sie sich im Verkehr mit Leuten von Bildung stets einen gewissen weichen, schmeichelnden Ton zu verleihen. Und mit diesem Schmachtblick und diesem Schmeichelton richtete sie nun auch die teilnahmsvolle Frage an Herrn Vollborth: „Also auch ein Künstler? Jott die Kunst! Ich schwärme für die Kunst! — Malen Sie auch Jejend?“

„Nein, bedaure sehr, ich male vorzugsweise Akte,“ versetzte Vollborth lächelnd.

Frau Eugenie blickte zu Herrn Flörke auf und sagte etwas unsicher: „Wie — Akten malen Sie?“

Flörke lachte ungeniert laut auf, während Vollborth mühsam seine Heiterkeit unterdrückte. Frau Eugenie aber stimmte etwas geziert in das Lachen ein und drohte dem Jejendmaler schelmisch mit dem Finger: „Ach, jehen Sie doch, Sie loser Spötter! Nein, was Sie auch ejal für Possen im Kopf haben!“ Und dann wandte sie sich kichernd und erklärend an Herrn Rentier Pickel: „Der Herr ist natürlich Jurist!“

Mit dem Ausruf: „Sehr angenehm, Herr Referendar!“ verbeugte sich der Blinde wieder mit der Hand auf dem Herzen gegen Vollborth, und zwar diesmal nicht wieder in der falschen Richtung, da er ihn inzwischen reden gehört hatte.

Nun konnte auch der bescheidene Vollborth nicht umhin, in das laute Gelächter des Kunstgenossen einzustimmen, der dann der betretenen kleinen Gesellschaft erklärte, man habe sich vor das dürre Wort Akt ein „N“ zu denken, es bedeute also so viel wie barfuss.

„Nein, diese Künstleer!“ schmollte Frau Eugenie. „Sie halten mir jetzt jewiss für sehr unjebüldet, Herr Vollborth; aber ich kann Ihnen man sagen, ich verstehe auch was von’s Essthätiche — wo sollten’s denn auch sonst meine Töchter her haben!? Denken Sie bloss, meine Aelteste spielt den Flüjel beinah wie Albert — (sie meinte vermutlich d’Albert); meine Zweite malt wirklich zu talentvoll, vorläufig natürlich bloss mit Wasser; aber wenn sie so fortfährt, hat Fräulein gemeint, dürf’ se übers Jahr mit Oel — das heisst: denn kommt se natürlich bei’n Professor — wir haben’s ja, Jott sei Dank, dazu! Und was die Jüngste ist, die dichtet wirklich jrossartig! Das Nestküken, man sollte es nicht für möchlich halten, wenn nich der Vater — mein Mann hat nämlich früher auch seine poetische Ader jehabt,“ wendete sie sich mit stolzem Lächeln an Herrn Flörke, „aber freilich, wie Jöthe sagt: Mit den Jürtel, mit den Schleier ... na, Sie kennen ja Jöthen, meine Herren! Die Nachtijall singt ja auch bloss ...“ Sie suchte nach einem Ausdruck und entschloss sich endlich, errötend, zu dem Worte „vorher“.

Herr Pickel nickte bestätigend mit dem Kopfe und drückte mit einem leichten Seufzer wiederum seine Rechte aufs Herz, als ob er sagen wollte: „Nein, wie die Frau sich auszudrücken weiss!“

Und Flörke gab gleichzeitig der allgemeinen Bewunderung lauten Ausdruck und fügte hinzu: „Von Ihrem Manne wundert mich des übrijens jarnich: erstens mal von wegen den bejeisternden Jejenstand“ — er verbeugte sich artig gegen die Hausfrau — „und zweitens, weil es eine bekannte Thatsache is, dass die meisten Dichter unter den Blechschmieden zu finden sind! — Uebrijens, ist Herr Zwillich noch nicht zu Hause jekommen?“

„Ach nein! — Er is ja Wahlvorsteher, wie Sie wissen. Heute ist ja Stichwahl, — da wird er wohl vor Zehnen nicht zu Hause kommen.“

„Hm! Schade!“ rief Flörke, „wir hätten ihm gern unsern jenialen Kollegen hier vorjestellt. Vielleicht, dass er doch mal Lust kriegt, seine liebe Familie malen zu lassen.“

„Ach Jott!“ rief Frau Eugenie in gelindem Entsetzen. „Doch nicht unbegleitet?“

„Na natierlich — und ob! Aber mit Taubenflügel an de Schulterblätter — denn fällt et nich so uf! Für Ihre Engel is des ja auch des passendste Kostüm!“

„Nein, nein, diese jungen Herren!“ seufzt Frau Eugenie mit einem bekümmerten Blick nach oben. „Na, eins weiss ich jewiss: einen Künstleer jebe ich keins von meine unschuldigen Täubchen!“

„Ach nee! Ach nee! Des kann doch Ihr Ernst nicht sein, verehrte Frau,“ flötete Flörke mit drolliger Betrübnis; „ich dachte, Sie müssten es doch schon lange bemorken haben, was für ein Auge ich auf Fräulein Else jeworfen habe!“

Herr Pickel rieb sich vergnügt die Hände und beugte sich flüsternd zu der Hausfrau hinüber: „Na, liebe Freundin, was hab’ ich jesagt? Ja, ja, wenn ich nich de Augen offen hielte!“

Frau Eugenie lächelte errötend und verlegen und flüsterte mit einem süssen Blick in Flörkes lustige Augen: „Ja, wenn es sich freilich um Ihrem Lebensjlücke handelt, lieber Herr Flörke ...“

„Ich werde mein Schicksal männlich zu tragen suchen,“ fiel jener rasch ein und wandte sich dann fofort an das hagere Fräulein Döhmke mit der Frage, ob ihr Bruder zu Hause sei.

Tante Albertine schnellte empor, guckte über die Brille, sagte: „Ja, es wird ihm sehr angenehm sein“ — und sass mit einem Ruck wieder auf ihrem Stuhle.

In grösster Hast, als ob sie etwas sehr Wichtiges zu versäumen hätten, verabschiedeten sich die beiden Maler und machten sich dann eiligst die Treppe hinunter und ums Haus herum zum vorderen Eingang hinein.

Sie stiegen die Treppe zu dem ersten und einzigen Stockwerk hinauf, schritten dann einen langen Korridor hinunter, öffneten an dessen Ende eine schmale Thür und sahen eine steile dunkle Stiege vor sich, ähnlich denjenigen, welche in den Berliner Mietskasernen zu den sogenannten Hängeböden, den Mädchenkammern, hinaufzuführen pflegen. Oben angekommen, tastete Flörke ein Weilchen im Dunklen herum und pochte dann laut an eine Thür. Eine heisere Stimme rief „Herein!“ — und die beiden Kunstjünger betraten Vater Döhmkes Turmzimmer.

Der alte Herr, er war noch grösser und fast ebenso schlank wie seine Schwester Albertine, erhob sich bei ihrem Eintritt von dem ans Fenster gerückten Grossvaterstuhl und ging ihnen mit einem vergnügten, heiseren: „Hah! he! he! ’n Abend! ’n Abend!“ entgegen. Er trug einen wollenen Shawl um den Hals, welcher unter eine gestrickte Jacke geknöpft war, die seinen hageren Oberkörper eng umschloss. Seine unheimlich langen Beine staken in einem Paar Hosen von englisch karriertem dicken Stoff und an den Füssen glänzten matt ein Paar ausgetretene Lackstiefeln.

Herr Vollborth wurde in feierlicher Weise vorgestellt und konnte sich nicht enthalten, die seltsame Erscheinung des alten Herrn mit grossen Augen zu mustern. Vater Döhmke gewahrte das und sagte, an sich herabschauend:

„Die Herren haben mich im Negligé überrascht, he! he! Das ist mein Atelierkostüm.“

„Ach, Sie malen selbst?“ fragte Vollborth. „Das wusste ich nicht; — Herr Flörke sagte mir, Sie seien Sammler.“

Der Alte lachte wieder gutmütig und strich sich mit dem Rücken der Hand unter dem Kinn weg. Der graue, struppige Bart quoll ihm unter dem Halstuch hervor und umhüllte ihm wie eine Fortsetzung dieses Kleidungsstückes Kehle, Kinn und Unterlippe, wogegen die Wangen ein Paar ölig aufgesteifter und spiralig nach innen gedrehter Koteletten zierten. Er erklärte dem jungen Manne, dass er unter seinem Atelier den Bootsschuppen verstehe, in dem er bis vor kurzem gearbeitet habe.

Allerdings hatte seine Erscheinung mehr vom alten Seemann als vom Künstler. Und auch die zahlreichen Aquarelle, Oelbilder und Skizzen, welche die vier Wände seines engen, aber sehr behaglich altväterisch ausgestatteten Stübchens vollständig austapezierten, stellten vorzugsweise Seestücke, Schiffe und Uferlandschaften dar. Es waren vorzügliche Arbeiten darunter, welche Vollborth mit grossem Anteil betrachtete. Mehrere, und zwar nicht die schlechtesten Bilder, rührten von Flörke her. Der Alte freute sich sichtlich des Beifalls, den der junge Künstler seiner Sammlung zollte.

„Sie sind wohl lange zur See gefahren, Herr Döhmke?“ fragte Vollborth.

„O ja, auch das!“ versetzte der Alte, indem er den jungen Herren eine Prise anbot und dann selbst bedächtig schnupfte. Die Dose, die er wohlgefällig hin- und herwandte, war von Gold und reich mit Edelsteinen besetzt. „Hübsch, was?“ schmunzelte er, indem er Vollborth das Kleinod reichte. „Das hab’ ich von dem armen Kaiser Max bekommen.“

„Ach, Sie waren also auch in Mexiko?“ Vollborth machte immer grössere Augen. „Als Kapitän wohl?“

„Nee — hehe! als Unternehmer, was man so sagt!“ erwiderte Vater Döhmke und strich sich über den spärlichen grauen Haarwuchs. Und dann fuhr er zu dem andern gewendet fort: „Ihr junger Freund kennt mir wohl noch jarnich?“

„Wir wollten ihm die Ueberraschung nicht verderben,“ lachte Flörke.

„Na, dann klären Sie’n man bisken uf!“ rief der Alte. „Aber ich denke, dazu rühren wir uns erst mal ’n ordentlichen Toddy an — was?“

Man war es zufrieden und Vater Döhmke zündete sofort die grosse Spirituslampe an, die auf dem eisernen Ofen stand, und setzte Wasser auf. Unterdessen musste Vollborth dem alten Herrn über seine Person Auskunft geben und sich durch Beantwortung einiger Dutzend Fragen über Herkunft, Bildungsgang und so weiter auslassen. Die Art und Weise des wunderlichen Alten zu fragen, hatte in ihrer Derbheit nichts von zudringlicher Neugier an sich; es schien, als betrachte er es als sein Recht und seine Pflicht, sich nach der Weise der homerischen Gastfreunde möglichst genau über die Verhältnisse eines Menschen zu unterrichten, bevor er ihn seiner näheren Bekanntschaft würdigte. Vollborth war ein recht empfindlicher junger Mann, aber durch die naive Geradheit des alten Sonderlings konnte er sich doch nicht verletzt fühlen, sondern antwortete folgsam wie ein Schüler im Examen: er heisse Manuel Vollborth, sei als Sohn eines hamburgischen Kaufmannes in Valparaiso geboren, habe früh seine Eltern verloren; sei dann bei Verwandten in Deutschland schlecht und recht erzogen, dummer Streiche wegen mehrmals von der Schule gejagt worden, habe früh sein Talent zur Malerei entdeckt, aber darum harte Kämpfe mit seinen Verwandten gehabt, und endlich, nachdem er es auf dem Gymnasium wenigstens zum Einjährigenzeugnis gebracht, sich gänzlich von ihnen losgesagt, um in München die Akademie zu beziehen. An seinem einundzwanzigsten Geburtstag habe er zwei Dutzend Hundertmarkscheine als angeblichen Rest des väterlichen Vermögens ausgezahlt erhalten und sei damit nach Italien aufgebrochen, um seine Seele in Schönheit zu berauschen. Binnen zwei Jahren sei sein Geld auf die Neige gegangen und er nach Berlin gekommen, um hier seine mehr oder weniger unbekleideten Fabelwesen bei den Bankiers unterzubringen. Die Bankiers wollten aber vorläufig noch nichts von ihm wissen und er sei daher gegenwärtig darauf angewiesen, seine alte Leinwand als Hungertuch zu benutzen. Ein paar dürftige Aufträge für Kopien von Museumsbildern und das Bildnis einer verstorbenen Schlächtermeistersgattin nach Photogramm hätten ihn in den letzten Monaten notdürftig über Wasser gehalten. Seine vorrätigen Gemälde habe er für ein Butterbrot, ein unbelegtes, an einen Kunsthändler verkauft. Neue Bilder könne er nicht malen, da ihm die Mittel fehlten, Modelle zu bezahlen.

Der Alte kratzte sich in den Bartstoppeln und brummte: „Nette Jeschichte! Sie sind also so ’n richtiger Taugenichts von einem Idealisten! Für Ihre nackten Jötter und Nymphen is det hier nich det richtige Klima! Jeh’n Se in sich, junger Mensch, werden Se Bekleidungskünstler, malen Se Sammet und Seide, so natürlich, dass man’s ihnen ansieht, wieviel der Meter jekost’t hat. Was für ’n Schafsjesicht oben rauskukt, dadruf kommt es weiter nich an.“

Vollborth zuckte unwillig die Achseln und rief: „Was soll mir der gute Rat? Ich finde ja nicht ’mal so ein Schaf, das so viel auf sein Fell verwenden kann!“

„Na, wer weess,“ meinte Flörke, „Vater Döhmke hat vornehme Bekanntschaften in unsern Herrgott seinen Tierjarten!“

„Ja, ich möchte jerne was für Sie thun,“ versetzte der Alte, „aber die Leute wollen doch erst mal wat sehen von Ihnen! — Haben Sie denn jarnischt Bekleidetes vorzuweisen?“

„Ausser ein paar Studien nach italienischen Mönchen, Fischern und Bauernweibern nichts,“ erwiderte Vollborth missmutig lächelnd.

Und der Alte sann ein Weilchen nach und sagte endlich ernsthaft, als ob ihm eine Erleuchtung geworden wäre: „Wissen Se, ich wer’ Ihnen wat sagen: Sie müssten sich an ein nobles Konfektionsjeschäft wenden und um die Erlaubnis bitten, ein besonders schönes Staatskleid abmalen zu dürfen und denn zum Schluss den Kopp von ener hübschen Probiermamsell oben druff setzen. Für die Sorte, die’s dazu hat, sich malen zu lassen, is die elejante Toilette meistens doch die Hauptsache. Und denn, wer weess? Am Ende stellen det die Jeschäftsleite denn in ihrem Schaufenster aus — und für so ’ne neie jrossartige Idee werden se schon en paar Kröten springen lassen.“

„Pfui Teufel! Die Idee ist göttlich!“ rief Vollborth grimmig lachend. Sein Kunstgenosse aber lobte allen Ernstes den vorzüglichen Gedanken und redete dem armen Schlucker eifrig zu, ihn ohne Verzug zur Ausführung zu bringen.

„Es ist doch jammerschade, dass Sie sich nich verheiratt’ haben, Vater Döhmke,“ sagte Flörke; „was für ’ne schöne jrosse Tochter könnten Sie jetzt schon haben. Da hätten Se doch nu ’ne Bestellung für son’n würdigen jungen Künstler! Ueberhaupt, warum haben Sie eijentlich nich jeheirat’t?“

„Warum ick nich jeheirat’t hab’?“ gab der Alte mit einer komischen Grimasse zurück. „Möchten Sie meine Olle jetzt sehen?“

Die beiden jungen Leute lachten laut auf und Vater Döhmke stimmte mit einem zufriedenen Grunzen ein: „Na also — ick ooch nich!“

Mittlerweile war das Wasser heiss geworden, der Toddy wurde zurecht gemischt. Der Alte reichte Cigarren, echte Importierte, und dann setzten sich die drei gemütlich um den Tisch, der Alte auf das federmatte, geblümte Sofa, die jungen Leute auf die Stühle. Er holte aus dem Tischkasten eine Landkarte von Mittelamerika hervor, wies auf die Eisenbahnlinie von Mexiko nach Veracruz und sagte: „Des bin ich.“

„Sie haben diese Bahn gebaut?“ fragte Vollborth erstaunt.

„Ja wohl, und noch manche andere; z. B. in Frankreich und in Aegypten.“

„Da müssten Sie doch aber ein steinreicher Mann dabei geworden sein?“

„O ja, ich hatte mir recht hübsch was uf de hohe Kante jelegt; aber wie denn so manchmal so wat von so wat kommt — ’s is eijentlich ’ne zu dumme Jeschichte. Herr Flörke, der kann Ihnen was davon erzählen.“

Und gern berichtete Flörke, nur hin und wider von Vater Döhmke durch eine satirische Randbemerkung unterbrochen, seinem jüngeren Genossen, dass der wunderliche Alte, seines Zeichens Ingenieur, im Jahre 1848 dem Vaterlande, dessen Boden ihm zu heiss unter den Füssen geworden, den Rücken gekehrt und sein Glück in anderen europäischen und überseeischen Staaten gesucht habe. Er sei so ziemlich überall dabei gewesen, wo in der Welt etwas los war, und habe als Baumeister wie als Geldauftreiber bei verschiedenen Bahnunternehmungen eine erste Rolle gespielt, sei bei Kaisern, Königen, Grossvezieren und Staatsministern aus- und eingegangen, beherrsche vier oder fünf Sprachen, ausser der berlinischen, und sei als reicher Mann einige Jahre nach dem grossen Kriege in das geeinigte kaiserliche Deutschland zurückgekehrt, um hier die Früchte seiner Arbeit in Ruhe zu geniessen und als angesehener, verdienter Bürger des neuen Deutschen Reiches sein Dasein zu beschliessen. Um dieses Verdienst sich zu erwerben, habe er den grössten Teil seines Vermögens in einem grossen Grundstück in der Nähe Berlins angelegt und dies dann dem Staate geschenkt, als Bauplatz für eine damals gerade geplante militärische Anstalt.

„In Amerika ist des nämlich nischt Unjewöhnliches,“ ergriff Vater Döhmke nun selbst das Wort; „ich glaube, man kann sagen, die meisten Hochschulen, Museen, Spitäler und so weiter sind dort von reichen Privatleuten jestiftet. Man find’t det janz in der Ordnung, dass en Mann, der ’n unanständig jrosses Vermöjen aus seinem Vaterlande rausjeholt hat, nachher auch für dies Vaterland was Ordentliches thut und nich allens im Kasten verschliesst, damit seine Herren Söhne und Schwiejersöhne es nach seinem Tode zum Fenster rausschmeissen. Hier in Deutschland sahen se mich freilich für ’n Narren an deswegen. Nu ja — se haben ja auch recht jehabt: wat jing unsern Staat mein Jeld an? Ich hatte ja mein Schäften im Ausland jeschoren!“

„Wie? Sie haben doch nicht etwa durch die Schenkung Ihr Vermögen eingebüsst?“ rief Vollborth erstaunt.

„Des nu wol jerade nich,“ versetzte der Alte, „zum Leben hab’ ich ja immer noch jenuch, und auf Jummiräder braucht ja am Ende nich jeder olle Esel zu fahren! Und übrijens: wat jeder Schlächtermeester sich leisten kann, wenn’t Jeschäft jut jejangen hat, det jenügte meinem Ehrjeiz noch lange nich! — Mit die militärische Anstalt war’t nämlich nachher Essig — und mit ’n Mal war auch des Irundstück so riesig im Werte jesunken, dass ich Jott dankte, wie ick die Kitsche for ’n Pappenstiel wieder los wurde. Na — denn kamen se nu und versetzten mir janz stillschweigens, ohne nähere Anjabe meiner Verdienste, eenen roten Vogel in’t Knopploch. Ich, nich faul, denke: wie du mir, so ick dir oder haust du meinen Juden, hau ick deinen Juden und lasse meinen Jeschäftsträger so janz im jeheimen ausbaldowern, wo wohl det nächste Reichsdollhaus hinjebaut werden soll! Na, det kriegte der auch richtig zu wissen, und haste nich jesehen, hab’ ich des Irundstück gekooft und dem verehrten Fiskus jeschonken. Der Spass war zwar ’n bisken deuer, denn et musste dort erst entwässert werden; aber davor stellt’ ich auch die Bedingung, dass ich und meine Erben immer ’ne Freistelle in des neue Dollhaus beanspruchen dürften. Ob se nu da oben jedacht haben, ich will ihnen uzen? Na, kurz und jut: seitdem is et von des Dollhaus auch wieder stille jeworden — wo’t doch so ’n brennendes Bedürfnis wär’!“ Er kratzte sich den Kopf und lachte ironisch vor sich hin.

Vollborth wollte eben noch mit weiteren Fragen in den wunderlichen Alten dringen, als die Thür leise aufging und die hagere Gestalt der Tante Albertine auf der Schwelle sichtbar werden liess. Das alte Fräulein machte einen Knicks wie ein Schulmädchen und blickte dann mit seltsam verstörten Augen den Bruder an. Sie hielt die Klinke immer noch in der Hand, bereit, sich auf seinen Wink lautlos wieder zu entfernen.

„Na, willst de hier ’n bisken bei uns unterkriechen, Tineken?“ rief der Bruder und winkte ihr ermunternd, näher zu treten. „Wenn dir der Tabaksqualm nich unanjenehm is — die jungen Herren erlauben doch wohl?“

„I wo werden wir denn nich?“ rief Flörke für beide, liess sich aber im übrigen in seiner nachlässigen Haltung nicht stören, da er wusste, dass das alte Fräulein an Höflichkeit nicht gewöhnt war. Vollborth dagegen beeilte sich, ihr einen Stuhl heranzuholen, welche Mühwaltung sie jedoch dankend ablehnte, indem sie rasch in dem Sorgenstuhl am Fenster Platz nahm.

Es war mittlerweile schon recht dunkel geworden und nur die Rauchwolken, die vor dem Fenster vorbeizogen, leuchteten noch in graulichem Dämmerlicht.

„Wir könnten eijentlich de Lampe anstecken,“ schlug Vater Döhmke vor, und das Wort war kaum gesprochen, als auch schon Tante Albertine von ihrem Sitze wieder emporschnellte, um mit jenem Diensteifer, der ihr angeboren war, das Verlangte zu besorgen. Selbstverständlich war es eine alte Stobwassersche Schiebelampe, welche sie nun brennend aus dem Nebenzimmer hereinbrachte. Und als sie sie mit einem fast verlegenen Lächeln auf den Tisch stellte und mit der Schürze sorgfältig den Oeltropfen abwischte, der wie unvermeidlich an der Kapsel des Brenners hing, gewahrte der Bruder erst ihr verstörtes Aussehen und rief lachend: „Nu sag’ mal bloss, was is’n dir passiert? Du machst ja ’n Jesicht, als hätt’st de ’n Jeist jesehen!“

„Hab’ ich auch, Viktor, hab’ ich auch!“ flüsterte sie, indem sie die Augen zur Decke aufschlug. „Denke dir man bloss, wie ich um das Haus herumgehe, seh’ ich draussen am Jitter einen jungen Menschen stehen und nach unsern Fenstern starren. Ach Jott, mir ist der Schrecken in alle Glieder jefahren!“

„Wieso denn?“ lächelte Döhmke. „Hatte denn der junge Mensch so was Jeisterhaftes an sich?“

„Ach nein, er sah janz frisch und jesund aus, auch janz anständig anjezogen — und wenn ich nicht wüsste, dass er jetzt drüben in Kalifornien ist, dann hätt’ ich jeglaubt, es wäre leibhaftig unser Henri!“

„I was Dausend! Sollte der dolle Junge am Ende wieder in Berlin sein? Hast de ’n denn nich anjesprochen?“

„Ach nein, ich war doch so erschrocken! Und wie er mich sah, da ging er gleich weiter und that jar nich so, als ob. Es ist doch am Ende man ’n Strolch jewesen, der sich nach Jelegenheit umsehen wollte. Na, wenn sie nächstens bei uns einbrechen, denn will ich mich jar nich wundern!“

Die Maler hatten schweigend dem Gespräch der Geschwister zugehört. Jetzt konnte sich Flörke nicht enthalten, seiner Spottlust lachend Luft zu machen, wogegen übrigens auch Vater Döhmke keinen Einspruch erhob; er grunzte vielmehr behaglich mit.

Aber da — horch! was war das? Pünktlich wie in einer Gespenstergeschichte, wo der beleidigte Geist sich in dem Augenblicke bemerkbar macht, wo man seiner zu spotten wagt, so erscholl jetzt auf der engen Stiege, die in Vater Döhmkes Turm hinaufführte, ein lautes Gepolter. Die ganze kleine Gesellschaft, die noch eben so laut gelacht hatte, verstummte unwillkürlich — und da ward draussen ein dumpfes, schauerliches Stöhnen vernehmbar.

Flörke erhob sich zuerst und ergriff mit dem Ausruf: „Nanu, det wird doch keen Beenbruch sind!“ die Lampe und eilte nach der Thür. Der Alte folgte ihm rasch und auch Vollborth wollte ihnen eben nach, als Tante Albertine ihn beim Arm ergriff und mit bebender Stimme anflehte, sie nicht im Finstern allein zu lassen. Die gute Dame war wie betäubt vor Angst und vermochte in ihrer Aufregung gar nicht einmal zu verstehen, was da draussen mit lauter Stimme gesprochen wurde.

Eine Minute später traten die beiden wieder herein. Vater Döhmke leuchtete voran und der Landschafter schleppte, ihn kräftig unter dem Arm stützend, einen jungen Mann herein, dessen hübsches, kluges Gesicht vor Schreck und Schmerz fast noch bleicher geworden war als das der Tante Albertine. Sie begleiteten ihn zu dem alten Lehnstuhl und liessen ihn sanft hineingleiten.

„Danke, danke, meine Herren!“ rief der junge Mann mit einem liebenswürdigen Lächeln. Und dann fuhr er mit einem leisen Schmerzenslaut mit den Handflächen über seine Kniee, beugte sich dabei nach vorn und sagte: „Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle — mein Name ist Reinecke!“

„Flörke,“ „Vollborth,“ erwiderten prompt die beiden Maler, indem sie sich nacheinander kurz verbeugten.

„Ach, Herr Henri — ich habe mich so erschrocken!“ rief Tante Albertine matt, setzte sich auf den nächsten Stuhl nieder und warf einen immer noch zweifelnden, zärtlich verschämten Blick nach dem leidenden jungen Manne hinüber. Vater Döhmke aber trat vor ihn hin, strich sich dreimal mit der knochigen Hand über den dünnen Scheitel und brummte dann grimmig vergnügt: „Potz Heidekuckkuck! Du Schuft, wo kommst du denn her?“

„St!“ machte Reinecke und legte den Finger auf die Lippen. „Ich bin eigentlich in San Francisco — ich spuke hier bloss!“

Tante Albertine war in ihrem Leben noch nie in Ohnmacht gefallen. Jetzt war sie nahe daran; aber sie erinnerte sich ihrer guten Erziehung und liess es bei einem unbedeutenden kleinen Schrei bewenden.

Ihr Bruder dagegen fand den Spuk offenbar sehr spassig, denn er liess mehrmals jenes gedehnte Hah! ertönen, welches der ihm eigentümliche Ausdruck besonders guter Laune war, und sagte dann: „Na, des muss ich sagen, kräftig jenuch hast de jespukt, he he! — sogar die Hosen dabei zerrissen!“ Er deutete auf einen langen Riss über dem rechten Knie des Poltergeistes.

Reinecke bedeckte wieder den Schaden mit der Hand und versetzte: „Ja, sehen Sie, Vater Döhmke, da ich doch mit ziemlicher Sicherheit annehmen durfte, dass Sie mich die Treppe runterwerfen würden, so entschloss ich mich, auch gleich hinauf zu fallen. Sie wissen ja aus dem ‚Faust‘:

’s ist ein Gesetz der Teufel und Gespenster:

Wie sie hinein, so müssen sie hinaus.“

„Schlecht citiert, — aber der Witz ist jut!“ grunzte der Alte vergnüglich. „Scheinst dir übrigens eklich weh jethan zu haben, du Schuft! In diesem Zustande dürftest du kaum — transportfähig sein.“ Er machte dazu die Geste des Hinauswerfens.

„Mindestens müsste mir Tante Albertine erst diese klaffende Wunde verbinden,“ lachte Reinecke, auf das zerrissene Beinkleid deutend.

Die beiden Künstler konnten ihrer Heiterkeit nicht länger Zügel anlegen: einer nach dem andern platzten sie mit lautem Lachen heraus und dies Lachen wirkte ansteckend, so dass auch Vater Döhmke, ja der leidende Gegenstand der Heiterkeit selbst, mit einstimmen mussten. Sogar das immer ernst-bescheidene Antlitz des alten Fräuleins erhellte schliesslich ein verlegenes Lächeln. Während die Männer Reinecke zu einem Glase Toddy einluden und frisches Wasser auf den Berzeliusbrenner setzten, ging das Fräulein hinaus, um ihr Nähzeug zu holen.

Vater Döhmke wollte nun in seiner gewohnten Weise ein Examen mit Reinecke anstellen, erhielt aber keine anderen Antworten, als Ja, Nein, Achselzucken, bedeutsame Blicke, St! und Hm!

Da mussten denn die Maler wohl merken, dass sie hier störten, und sie leiteten darum den Abschied ein. Flörke zog den Alten noch einmal auf die Seite, um ihn daran zu erinnern, dass er doch für Vollborth etwas thun möge. Tante Albertine war inzwischen wieder eingetreten und hatte sich daran gemacht, vor Reinecke knieend, den Schaden an seinem Beinkleid auszubessern. Reinecke lehnte sich während dieser Operation stumm in den Sessel zurück und schloss eine Minute lang die Augen, denn ihm war nicht nur von den Schmerzen in den Knieen, sondern auch von der Erschütterung des Falles noch etlichermassen elend zu Mute. Hinter seinem Rücken ging das Gespräch des Alten mit den beiden Malern leise weiter und lief schliesslich wieder auf den grossen Gedanken hinaus, dass Vollborth für Konfektionsgeschäfte Kleider porträtieren solle.

Tante Albertine hatte nicht sobald das Wort Konfektionsgeschäfte aufgefangen, als sie auch schon, aus ihrer gebückten Haltung sich steif aufrichtend, einige der bedeutendsten Firmen dieses Geschäftszweiges samt Adresse aufzuzählen begann.

„Danke, Albertine, du musst es ja wissen,“ lachte ihr Bruder, und dann zu Vollborth gewandt, fügte er erklärend hinzu: „Meine Schwester ist nämlich ein Berliner Adressen-Automat. Wenn bloss davon die Rede is, dass einer was kaufen möchte, und nur noch nicht weiss, wo’s am besten und billigsten ist, denn setzt sich bei meiner Schwester schon janz von alleine de Walze in Bewejung und denn kommt es so sicher wie aus de Spieldose: Krausenstrasse 45, wer wo anders kooft, der irrt sich!“ Er sang es mit heiserer Stimme nach der Melodie: Schmeisst ihn ’raus, den Juden Jtzig!

Das alte Fräulein fühlte sich durch diese Schilderung des Bruders durchaus nicht etwa gekränkt, sondern lächelte vielmehr ganz stolz über das Lob, das ihrem seltenen Verdienste widerfuhr.

„O Tante Albertine,“ rief Reinecke, indem er feierlich den Arm über ihr Haupt ausstreckte, „in der ganzen alten und neuen Welt gibt es Euresgleichen nicht. Könnt Ihr mir nicht auch die Adresse eines Mannes verraten, den der Ehrgeiz plagt, der Wohlthäter eines grossen Künstlers zu werden?“

„Ach, Herr Reinecke, das haben Sie doch nicht nötig,“ versetzte sie erstaunt.

Aber er legte wieder den Finger auf die Lippen und streifte mit einem warnenden Blicke die beiden ihm fremden Männer.

Diese fanden nun endlich auch das letzte Wort und liessen sich von Vater Döhmke die Treppe hinunterleuchten.

Als der Alte zurückkam, steckte er sich eine neue Pfeife in Brand, stellte sich vor Reinecke in drohender Haltung hin und sagte: „Nun möcht’ ich aber wirklich wissen, wo du herkommst, du Windhund, und was du hier zu suchen hast?“

Tante Albertine war mittlerweile mit ihrer Arbeit fertig geworden und richtete sich in ihrer ganzen Länge vom Boden auf.

„Soll ich vielleicht lieber hinausgehen?“ fragte sie vorsichtig.

„Nein, das ist nicht nötig,“ sagte Reinecke: „Sie werden mich schon nicht verraten, Tantchen! Meine Adresse sage ich Ihnen nicht, damit Sie nicht in Versuchung kommen.“

„Ja, wohnen Sie denn nicht bei Ihrem Bruder?“ erkundigte sich der Alte erstaunt.

„O nein, das ist ja eben der Witz,“ versetzte der junge Mann geheimnisvoll und strich sich dabei durch das üppige dunkle Lockenhaar. „Ich habe überhaupt keinen Bruder — ich heisse auch gar nicht Henri Renard, sondern Heinrich Reinecke — das kommt ja auch ganz auf dasselbe hinaus! Eine Namensfälschung kann darin doch niemand sehen, der wie ich gegen den Fremdwörterunfug ist. Also hören Sie, die Sache ist nämlich die: Sie wissen, dass mein cher frère in seiner grossen Weisheit meine Leidenschaft für die Musik immer mit meinen sonstigen Dummheiten in einen Topf geworfen hat. Ein bisschen teuer bin ich ihm ja hier geworden und dass er mich damals hinüberspedierte, damit ich drüben was Besseres lernen sollte, als griechische unregelmässige Verba und solchen Schnickschnack, das nehme ich ihm weiter nicht übel. Ich habe auch in den vier Jahren drüben recht fleissig gelernt. Ich bin alles mögliche gewesen; aber aus allen geschäftlichen Thätigkeiten schnell genug — entfernt worden. Und schliesslich war ich für meinen Lebensunterhalt doch auf mein bisschen Klavierspiel angewiesen. Ich wurde Musiklehrer und verdiente mir ein ganz schönes Geld damit; aber diese niederträchtige Beschäftigung, das fortwährende Anhören und Ausüben des scheusslichsten, geistlosesten Geklimpers schlug mir auf die Nerven und machte mich wild und elend zugleich. Eine ungeheure Sehnsucht überfiel mich nach deutscher Musik, denn davon war in San Francisco nichts zu haben. Ich wollte ganz ernstlich ein Künstler werden; aber ich hatte zu wenig gelernt, und drüben konnte ich nicht haben, was ich brauchte. Mein Bruder wollte nichts von meiner Heimkehr wissen — er glaubt nun einmal nicht an meinen Ernst! Aber er hatte mir ja im Grunde nichts zu befehlen. Sparsam war ich freilich nie gewesen — das Geld zur Ueberfahrt brachte ich aber doch bald zusammen. Da muss ich Unglücksmensch — es ist wirklich unglaublich, was der Zufall für tolle Dinge ausheckt! — denken Sie, da muss ich in der letzten Woche vor meiner Abreise meines Bruders durchgebrannte Frau kennen lernen! Ein schönes Weib war sie immer noch, trotzdem sie inzwischen manches durchgemacht hatte. Es ging ihr gerade schlecht — sie weinte mir etwas vor. Reuethränen in so schönen schwarzen Augen — und ich war der Bruder! Freilich vertraute sie mir auch allerlei Geschichten von Gisbert an, die nicht gerade schmeichelhaft für ihn waren. Na, kurz und gut: sie war die leidende Unschuld, die aus gerechter moralischer Entrüstung geflohen war; ich der edle Mann, der sich berufen fühlen musste, Oel in die Wunden zu giessen, die sein Bruder geschlagen hatte. Das Oel war teuer — und als mein Schiff abgehen sollte, war ich bis auf den letzten Tropfen ausgequetscht. Aber jetzt wieder von vorne anfangen zu sparen? Nein, das ging nicht, wenigstens nicht so lange ich meiner trostbedürftigen Schwägerin erreichbar war. Ich war auch einmal Koch gewesen und hatte das Glück, in dieser Eigenschaft auf einem Bremer Dampfer unterzukommen. In Bremen sass ich natürlich bald tief in der Kreide; doch war mein guter Gisbert so liebenswürdig, auf meinen Hilferuf sofort in eigener Person herüberzukommen, mich auszulösen und mir dann eine namhafte Summe anzubieten für den Fall, dass ich wieder nach Amerika oder sonst einen entfernten Weltteil verduften wollte. Dass ich mit seiner Frau in so regem Gedankenaustausch mich befunden hatte, das schien ihm meine unbedeutende Person ganz besonders wert und meine Abwesenheit von Europa sehr erwünscht zu machen. Ich kannte mein Brüderchen noch nicht von dieser Seite und darum, — es ist einem armen Teufel am Ende nicht zu verübeln, wenn er eine günstige Gelegenheit beim Schopfe nimmt! Ich liess mir also meine Einwilligung teuer bezahlen und dann mich lammfromm von ihm auf dem nächsten Amerikaner in Sicherheit bringen. Glücklicherweise lief aber der Dampfer Southampton an — und ich verschwand! Mit nächster Gelegenheit kehrte ich wieder ins Vaterland, ins teure zurück. Und da bin ich nun zunächst mal inkognito in Berlin. Was weiter aus mir wird, weiss ich noch nicht; jedenfalls mache ich mit der Musik jetzt Ernst. Mein erster Gang galt Ihnen, Vater Döhmke; wenn ich da drüben an mein liebes Berlin dachte, so dachte ich auch immer zuerst an Sie und die vergnügten Stunden, die wir miteinander verlebt haben. Ich strich gegen Abend wie ein Verliebter um das Haus und schaute nach Ihrem Fenster hinauf, bis es dahinter hell wurde; ich wollte auch nicht gern jemand von Zwillichs treffen — darum schlich ich mich so wie ein Dieb ins Haus. Jetzt werdet Ihr mich freilich über Nacht dabehalten müssen, denn meine Kniee haben doch einen tüchtigen Puff abgekriegt; ich komme damit nicht bis zum Schlesischen Thor.“

Er richtete sich auf und wagte einen Gehversuch, der aber schlecht genug ausfiel. Tante Albertine machte ihm auf dem alten Sofa ein leidliches Nachtlager zurecht und dann zog sie sich zurück mit vielen guten Wünschen und Entschuldigungen für die mangelhafte Bettung.

Vater Döhmke aber blieb heute länger als gewöhnlich wach und liess sich von seinem jungen Gaste ein Langes und Breites über seine Abenteuer in San Francisco erzählen.

Die kühle Blonde. Erster Band

Подняться наверх