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Deutsche Zuversicht
Оглавлениеm Tage, als das österreichische Ultimatum an Serbien veröffentlicht wurde, war ich zufällig in Ischl.
Der Fremde in einem großen Badeort kann kaum einen rechten Eindruck von der Wirkung gewichtiger Ereignisse auf die Volksseele empfangen, denn in solchen Stätten des luxuriösen Vergnügens oder der ängstlichen Rücksichtnahme auf Leidende gehen die Menschen maskiert und sind die Zäune der Konvention besonders hoch und dicht aufgeführt. Als ich aber am Abend desselben Tages nach Hallstatt, das ich mir zur Sommerfrische ausersehen hatte, zurückkehrte, war der Eindruck des folgenschweren kaiserlichen Ultimatums schon ganz anders zu spüren. Die Sommerfrischler von Hallstatt sind zum größten Teil eigensinnige Liebhaber justament dieses malerischen Nestes, sie kehren hartnäckig immer wieder dorthin zurück, wie oft sie auch schon unter dem ewigen Regen und den feuchten Nebeln gelitten haben mögen. Also kennen sie sich alle untereinander, reden alle miteinander und ziehen auch Ausländer und Neulinge in die schöne ländliche Vertraulichkeit ihrer Ferienstimmung hinein. Als am anderen Abend die ausweichende Antwort Serbiens, durch die der Kriegsfall gegeben war, bekannt wurde, da wusste auch gleich die ganze Fremdenkolonie, wer von den Eingeborenen alles mit musste. Die Bergführer wurden auf die Almen geschickt, um die gestellungspflichtigen Senner zu benachrichtigen, am Salzbergwerk und in den Salinen ordneten die Wehrpflichtigen in der gebotenen Eile, aber in männlicher Fassung, ihre Angelegenheiten, packten ihre Köfferchen und fuhren ihren Gestellungsorten zu. Kein trunkenes Singen und Johlen, keine ruhmredige Beredsamkeit ward laut. Mit stillem Ernst, mit ruhiger Zuversicht stellten sich diese Leute in den Dienst der gerechten Sache ihres Vaterlandes; und dieselbe mannhafte Fassung, dieselbe nicht laute und eitle, sondern tiefe, ehrliche Begeisterung für die Ehrensache Österreichs erfüllte die Herzen der Zurückbleibenden. Nur ganz harmlose Gemüter konnten sich bei der Vorstellung beruhigen, dass es sich um eine rasch zu erledigende Strafexpedition gegen die Urheber des Attentats von Sarajewo handle. Alle anderen, die besseren Zeitungsleser, die helleren Köpfe, erwogen in banger Sorge die Frage, ob Russland die Versprechungen seines serbischen Gesandten von Hartmann einlösen, dadurch für das Deutsche Reich die Bündnisfrage gegeben und der seit lange drohende Weltkrieg gegen Deutschland entfesselt werden würde. Noch erlebte ich in dem lieben friedlichen Bergnest das erste Aufrauschen der stolzen Freude über die brüderliche Einigkeit aller Völker deutscher Zunge, über den plötzlichen herrlichen Friedensschluss der verschiedenen Rassen und Nationalitäten der Habsburgischen Monarchie — aber dann hielt es mich nicht länger: ich musste unbedingt in der Heimat sein, wen» die Kriegserklärung Russlands oder gar die drei Kriegserklärungen der Ententemächte an den Dreibund erfolgten. Ich gelangte am 29. Juli noch glatt, in nicht einmal überfüllten Zügen, nach München.
Da sah es schon ganz anders aus. Alle Straßen schwarz von Menschen, Autos über Autos mit Offizieren, Extrablattverkäufer, die sich heiser schrien, eine gewaltige Springflut heimwärts flüchtender Ferienreisender, die im Nu alle Gästehäuser überflutete und den riesigen Hauptbahn, Hof in einen toll gewordenen Ameisenhaufen verwandelte. Auf der Straße traf ich den Kollegen Max Halbe, glühend vor Begeisterung, und er nahm mich mit in die berühmte Literatenecke des „Torggelhauses“, die Nacht für Nacht widerhallt von dem Kriegsgeschrei ästhetischer Gegensätze, wo große Worte geprägt, Werte umgewertet, Kampfgenossenschaften und Erfolgversicherungen gegründet, alte Freundschaften durch einen boshaften Witz gesprengt, Weltanschauungen ironisch zerpflückt, soziale und ethische Fragen spielend gelöst und die Fahnenstangen funkelnd neuer Ideale genagelt werden. Eine bunte Gesellschaft fand sich zusammen. Frank Wedekind, Karl Rößler, Max Pallenberg, ein bekannter lyrischer Edelanarchist und andere Ober- und Unterführer im modernen Geisterkampfe. Unter dem überwältigenden Eindruck der großen ernsten Stunde dachte keiner von diesen heißen Köpfen daran, auch nur mit einem Worte der ästhetischen Tagesfragen zu gedenken. Die ganze tönende Phraseologie des Welt-bürgertums blieb beschämt im tiefsten Busen verschlossen. Der einzige Punkt der Tagesordnung war die Frage: Wird es dem deutschen Geist, der deutschen Kraft gelingen, sich siegreich zur Wehr zu setzen gegen den neidvollen Hass der ganzen Welt? Als der anarchistische Lyriker der kindlichen Zuversicht Ausdruck gab, die Welt würde mit einem Schlage wieder Frieden finden, trenn eine gut angebrachte Bombe das leidige Karnickel an der Newa beseitigte, donnerte ihn Max Halbes Stentorstimme an: „Herr, Sie drücken das Niveau!“ Ja, wahrhaftig, das war das richtige Wort: in solch entscheidungsschwerer Schicksalsstunde stürzen, wie kindische Sandbauwerke, alle die Menschheitsbeglückungspläne träumerischer Fanatiker zusammen, die Organisationen des Neides, der kleinlichen Selbstsucht enthüllen sich als verbrecherische Umtriebe gegen die heilige Sache des Vaterlandes. Was heißt Menschheit, was heißt Gerechtigkeit, was gilt Rang, Klasse, Konfession, Besitz und persönliche Überzeugung selbst des herzensreinsten Schwärmers, wenn es sich um die Existenz der Rasse, um die Verteidigung der gemeinsamen Kulturerrungenschaften dieser Rasse, um Sein oder Nichtsein des Vaterlandes, des großen völkischen Blutsverbandes handelt?!
Am 31. Juli nachmittags erscheint der Maueranschlag, durch den der deutsche Kaiser das Reich für im Kriegszustande befindlich erklärt. In wenigen Stunden werden wir wissen, ob Russland es wirklich wagt, die Lunte an die Minenkette zu legen, die ganz Europa mit dem Untergang bedroht. Am Morgen des 1. August ein Sturm auf den Münchener Hauptbahnhof, wie er dort noch niemals erlebt wurde. Endlose Züge im Nu zum Bersten vollgestopft; die Bahnhofshallen und die Bahnsteige bis weit hinaus mit Bergen von Großgepäck erfüllt, das unmöglich befördert werden kann. Ich bin glücklich, noch einen Platz zu finden auf der eisernen Verbindungsplatte zwischen zwei Durchgangswagen. Sieben Stunden stehend, in fürchterlicher Enge zusammengepfercht und bei den Kurven durch-einandergeschüttelt — aber wir ertragen es alle ohne Murren, mit gutem Humor sogar, wir ewig zum Nörgeln und Schimpfen aufgelegten Deutschen!
Mit verhältnismäßig geringer Verspätung läuft der Zug in Darmstadt ein, als letzter fahrplanmäßiger Schnellzug. Die stille friedliche Residenz ist kaum wiederzuerkennen. Die Rheinstraße, in ganz Deutschland berühmt durch den guten Scherz eines alten Darmstädters, der einst einem Fremden auf die verwunderte Frage, warum man denn in dieser gewaltigen Haupt- und Prachtstraße keine Menschen sehe, erwidert haben soll: „Was wolle Se denn, do wimmelt ja als e Accessist ums Eck“ — diese berühmte Rheinstraße ist von dichtem Menschengedränge in ihrer ganzen Länge erfüllt und die fünf Autos, die noch vor kurzem den ganzen Verkehrsbedarf vom Bahnhof nach der Stadt für anspruchsvolle Reisende vermittelten, scheinen sich plötzlich um das Hundertfache vermehrt zu haben. Die Hupen gellen, kreischen und trompeten kaum minder ohrenbetäubend als in München. Sie haben keine Minute Zeit zu verlieren, denn jede Sekunde kann die entscheidende Nachricht bringen, welche das ganze gewaltige deutsche Heer, den gesamten Verwaltungsapparat vor die Aufgabe stellt, die geheimnisvollen Berechnungen, die Jahrzehnte lange Riesenarbeit unseres Generalstabes sofort und mit Anspannung aller Kräfte zur Ausführung zu bringen.
Die Kriegserklärung an Russland wird um fünf Uhr nachmittags angeschlagen und unmittelbar darauf erscheinen die längst vorbereiteten Bekanntmachungen der Militär- und Zivilbehörden über alle Einzelheiten der Mobilmachung, über Ort und Stunde, wo die Gestellungspflichtigen sich einzufinden haben, über die Kriegsfahrpläne der Eisenbahn, den Übergang der Polizeigewalt an das Militär, die Ausmusterung der Pferde, die Verproviantierung, die Lebensmittelpreise, das Wichtigste über den Geldverkehr, die Aufhebung der Sonntagsruhe.
Sonntagsruhe — welch ein Begriff in solcher Zeit! Sonntag ist der erste Mobilmachungstag und zugleich der Festtag des ersten deutschen Sieges — denn wir dürfen sie erleben, die wundervolle Wahrheit: die Rechnung des Generalstabes stimmt — alles klappt! Kein Rädchen, keine Feder in dem unendlich verwickelten Mechanismus versagt, jeder Mann, jeder Gaul, jedes Kommissbrot ist zur vorbestimmten Minute an der vorbestimmten Stelle. Man hat an einigen Orten die Stichprobe gemacht: genau so viel Menschen, als im Mobilmachungsplan vorgesehen, haben sich auf den ersten Aufruf des Kaisers zur Fahne gestellt, kein Mann mehr, kein Mann weniger! Man darf wohl ruhig behaupten, dass kein Volk der Erde uns das nachmacht. Und es geht von dieser überwältigenden Tatsache ein Strom von Zuversicht in die deutsche Volksseele über, der auch die verzagtesten Gemüter straff in die Höhe reißt.
Und dann kam die ewig denkwürdige Eröffnung der kurzen Reichstagssitzung, die das ganze Volk in wundervoller Eintracht fand. Ultramontane und Junker, fortschrittliche Doktrinäre und entrüstete Pazifisten—ja sogar die bösen Sozialisten in voller Eintracht den oft so leidenschaftlich bekämpften Kaiser umdrängend, um ihm in die liebewerbend ausgestreckte Hand hinein deutsche Treue zu geloben. In dieser symbolischen Geste hat die viel bespöttelte mittelalterliche Romantik des impulsiven Hohenzollern die formale Nüchternheit des Empfindungsausdruckes unserer gegenwärtigen Kulturmenschheit herzbezwingend überrumpelt. Der große Augenblick, als Wilhelm II., von seinem Gefühl überwältigt, das Manuskript der Thronrede von sich warf, seinen Feinden verzieh und den Vertretern seines Volkes die Kaiserhand zum persönlichen Gelöbnis entgegenstreckte, wird unvergessen bleiben für alle Zeiten und von den deutschen Künstlern der Zukunft in Wort und Bild spätesten Geschlechtern als Altarschmuck deutscher Andachtsstunden überliefert werden.
Wohl sah man bleiche erschrockene Gesichter, als die englische Kriegserklärung bekannt wurde, als das österreichisch-japanische Bündnis sich als eine verfrühte Freudenbotschaft herausstellte und die Neutralitätserklärung Italiens bekannt wurde. Wir allein mit Österreich gegen die ganze Welt?! Aber das erhebende Gefühl der vollkommenen Einigkeit von der Ostsee bis zur Adria, von der Weichsel bis zu den Vogesen, in Verbindung mit dem reinen Gewissen, zwingt allen Kleinmut nieder. Wir müssen siegen, denn sonst sind wir verloren — und weil wir siegen müssen, werden wir siegen. Es ist kein Krieg, den dynastische Interessen selbstsüchtig entfacht haben, es ist ein Krieg, den mit Recht beschämte, neiderfüllte Nachbarn aus Missgunst führen, aus Hass gegen die Überlegenheit des deutschen Geistes, gegen deutsche Willenskraft und gegen das wirtschaftliche Glück, das sie sich ertrotzte. Es ist ein uns aufgezwungener Verteidigungskrieg, und niemals haben die deutschen Völker für eine heiligere Sache zur Waffe gegriffen. Darum diese überwältigende Einigkeit! Darum dieser begeisterte Ansturm von 1 300 000 Freiwilligen — viel, viel mehr, als die Heeresleitung überhaupt verwenden kann! Darum ziehen die Regimenter mit hellen Gesichtern, mit frohen Gesängen zu den Bahnhöfen und lassen ihren Humor nicht unterkriegen, obwohl sie wissen, dass sie nicht spazieren geführt werden, um sich in Frankreich an Champagner und in Russland an Kaviar, in England an Roastbeef gütlich zu tun. Sie wissen alle: Es geht „um die Wurst“, wie man hier zu sagen pflegt; sie sind fest entschlossen, zu siegen oder zu sterben. Sie hassen weder die Franzosen noch die Russen, noch die Engländer, aber sie schreiben in kecker Laune mit Kreide auf den Eisenbahnwagen:
Auf jeden Tritt ein Britt,
Auf jeden Stoß ein Franzos,
Auf jeden Schuss ein Russ.
Ja, unser Volk hat noch Kraft, körperliche und sittliche. Und darum wissen wir, dass unsere Rasse noch ihre Daseinsberechtigung, ihre großen Aufgaben für die Entwicklung der Menschheit zu erfüllen habe. Sie ist noch nicht reif zum Untergang, das hat sie in diesen großen Tagen gezeigt — und darum kann sie nicht untergehen, darum muss sie siegen!