Читать книгу Landsturm im Feuer - Ernst von Wolzogen - Страница 5
Das letzte Aufgebot
Оглавлениеas war im friedlichen Jahre 1908, als unser prächtiger alter Bezirkskommandeur mich mitten in einem harmlosen Privatgespräch mit der Frage überraschte, ob ich mich nicht für den Mobilmachungsfall zur Verfügung stellen wolle.
Ich schaute erstaunt drein. Ich, mit meiner Musterkarte von Gebresten und Gebrestlein; ich, der die ominösen Sechzig schon in greifbarer Nähe fühlte, ich sollte mich noch einmal als Leutnant verkleiden! Ich sollte schneidigen Springinsfelden mit geschwungenem Säbel voranstürmen, ich, dem schon die Puste ausgeht, sobald er vor Beendigung des Verdauungsgeschäftes eine sanfte Anhöhe ersteigen soll?
„Warum denn nicht?“ erwiderte der Major mit kriegerisch blitzenden Augen. „Ich sage Ihnen, wenn‘s zum Klappen kommt — und es muss über kurz oder lang zum Klappen kommen — wir graben Leichen aus!“
Dies scharf geprägte Wort bohrte sich mir in Hirn und Herz ein, und ich stellte mich wirklich wieder zur Verfügung und erhielt jedes Jahr meinen geheimen Stellungsbefehl für irgendeine Verwendung im Garnisondienst. Wer dachte damals an den Landsturm! Selbst altgediente Militärs stellten sich den wohl als einen wilden Haufen mit Sensen, Dreschflegeln und alten Jagdbüchsen bewaffneter Ehekrüppel und Jubelgreise vor, der nur für den Fall der äußersten Not, wenn der Feind schon mitten im Lande hauste und die Armee vernichtet war, aufgerufen werden könnte, um die letzte verzweifelte Verteidigung von Haus und Herd zu versuchen.
Und da geschah in diesem Jahre des Unheils das Unerhörte, dass der Landsturm gleich bei der allgemeinen Mobilmachung mit aufgeboten wurde! Und siehe: die „ausgegrabenen Leichen“ warfen sich in ihre alten Uniformen und drängten sich in Scharen in den ersten Tagen der Mobilmachung auf den Bezirkskommandos. An meinem Wohnort tauchten nahezu vierhundert verschimmelter, verstaubter, schier vergessener Offiziere auf. Und es dauerte nicht allzu lange, so wurde ihr brennender Eifer, ihrem Vaterlande mit ihren mehr oder minder schönen Resten zu dienen, belohnt, indem man sie auf die allerorten in Bildung begriffenen Landsturmbataillone verteilte. Wenn nicht noch im letzten Augenblick ein Professor aufgetaucht wäre, der noch im zarten Jünglingsalter der späteren Vierziger stand, so wäre ich in meiner Kompagnie mit meinen nahezu Sechzig der jüngste Leutnant gewesen! Eine Woche lang maßen wir uns heimlich mit misstrauischen Blicken und dachte sich jeder sein respektlos Teil von den militärischen Tugenden des Herrn Kameraden. Dann aber, als unsere Truppe beisammen war, schwand das Gefühl der Befremdung vor dem Schall des ersten kräftigen Kommandos wie weggeblasen; wir fühlten uns wieder als Soldaten — Soldaten zum ersten, zum zweiten und zum dritten — ebenso wie diese von ihrem Pflug, ihrem Handwerk, ihrem Geschäft zur Fahne gerufenen würdigen Bürger und Familienväter. Mit dem Nock des Kaisers zogen diese wackeren Deutschen auch unsere unverwüstliche und unnachahmliche Disziplin wieder an, den freudigen Gehorsam, das stolz bescheidene Pflichtgefühl. Wenige Tage strammen Exerzierens und eine Truppe stand auf den Beinen, die, wenn sie auch nicht mehr wie die Jungmannschaft tagelang fortgesetzten Gewaltmärschen mit vollem Gepäck gewachsen sein mag, doch sicherlich im Feuer ausharren und jedem Angriff standhalten wird wie eine Mauer aus Quadern. Uns alten Offizieren griff diese freudige Überraschung mächtig ans Herz. Niemand von uns kam sich mehr komisch vor als Landsturmführer, ebenso wenig wie wir diesen reifen Männern komisch vorkamen. Das Gefühl, doch noch seinen Platz ausfüllen zu können in der Reihe derer, die berufen sind, Deutschland wieder eine Welt von Feinden zu verteidigen, beglückt uns alle gleichmäßig, Vorgesetzte wie Untergebene. Wir haben Vertrauen zueinander, wir fühlen uns als Volksgenossen, wir befehlen ohne Überhebung, wir gehorchen ohne die leiseste Empfindung von Entwürdigung. Der wohlhabend gewordene Unternehmer steht neben dem sozialdemokratischen Arbeiter in Reih und Glied, der alte Truppenoffizier, der vor langen Jahren vergrämt und verbittert seine militärische Laufbahn frühzeitig beendet sah und jahrzehntelang über sein Missgeschick geflucht und gewettert hat, lebt wieder auf in dem männlichen Soldatenspiel und hat allen Groll vergessen, ja, er nimmt sogar die Kameraden von der Reserve und von der Landwehr für voll, die ihr Beruf als Staatsbeamte, Gelehrte, Künstler, Handelsherren und Industrielle weitab von allen militärischen Wegen durch die Höhen und Tiefen des Lebens geführt hat. Und diese Gelegenheitsoffiziere haben alle ihre weit auseinandergehenden politischen, religiösen, wirtschaftlichen Standpunkte, ihre Sonderinteressen, ihre eigensinnigen Schrullen selbst vergessen und rücken mit dem guten Willen zum gegenseitigen Verständnis, zur gegenseitigen Duldung nahe zueinander, wie Sturmverschlagene unter einem gastlichen Dach, wohlig durchwärmt von dem lodernden Feuer der gemeinsamen Begeisterung für die große, heilige Sache. Und die stillschweigend anerkannten Häupter dieser vom Anfall zusammengewürfelten Schar sind nicht die geistig Bedeutendsten, höchst Angesehensten, Begütertsten, sondern diejenigen, die schon sechsundsechzig und siebzig mitgemacht haben, die etwas von Krieg und Sieg zu erzählen wissen, die schon einmal Blut fürs Vaterland vergossen haben. Wir haben mehrere Eiserne Kreuze von siebzig unter den Offizieren des Bataillons.
Der eine Träger eines solchen, ein immer noch quecksilbrig lebendiger Hauptmann mit martialischem graublonden Schnurrbart, hat mit Hindenburg dieselbe Schulbank im Kadettenkorps gedrückt, erinnert sich seiner sehr wohl noch, weiß aber keineswegs zu berichten, dass er damals schon durch irgendwelche Besonderheit das künftige Feldherrngenie habe ahnen lassen. Ein anderer Hauptmann hat sechsundsechzig als Kornett im hessischen Kontingent mitgemacht und sich siebzig den höchsten hessischen Tapferkeitsorden errungen.
Er trägt das weiße Schnurrbärtchen unter der Nase noch flott aufgewichst und das dünne Haar vor den Ohren in kühn geschwungenen Sechsen festgelegt. Er hat die Kriegsgeschichte sämtlicher Völker und Zeiten und die Rangliste seit den sechziger Jahren im Kopf. Und unser Major gar! Eine prächtige Figur aus dem Rahmen eines Grütznerbildes leibhaftig herausgetreten. Ein Wallensteinischer Feldobrist mit einem Schuss Rodensteiner. Die Lippen und die prallen Bäckchen künden Genussfreudigkeit, und in den Augen zwinkern allerlei verschmitzte Humore.
Ein echter weinfroher Alemanne ist er — und nebenbei ein grundgelehrtes Haus, Geologe und Paläontologe. Seinen Landsmann und Leibpoeten Scheffel weiß er noch halb auswendig, auf Verlangen lässt er aber auch ganze Kolonnen Dantescher Terzinen frei aus dem Gedächtnis und in der Ursprache aufmarschieren. „Nur kei Hascht, meine Herren, die Dinge sich historisch entwickle lasse. Dann aber, wenn‘s an de Feind geht — nix wie druff!“ Das ist seine militärische Generalidce. Siebzig hat ein Granatsplitter in seinen Eingeweiden gehaust, also dass er sich nicht mehr gerade aufrichten kann. „Wenn ich nuff klettre duh, darf niemand net luege, aber wenn ich herobe sitz uff mei‘m Gaul — oha!“
Und als wir „ausgegrabenen Leichen“ alle noch einmal gründlich untersucht wurden, ob nicht doch der eine oder der andere noch in der Feuerlinie zu verwenden wäre, da war unser krumm geschossener Major der Einzige, der aus dem Untersuchungszimmer mit dem Jubelruf heraustreten durfte: „Felddienschtfähig, meine Herren, felddienschtfähig!“ — Zwei Tage später war er fort — nach der Front!
Auch unter der Mannschaft gibt es Originale genug. Da ist ein alter Feldhüter von siebenundsechzig Jahren, der Wiesenhannes, der siebzig mit gemacht hat und durchaus nochmal eine Schlacht sehen möchte. Da ist der Mann mit den zehn Kindern, die als Begründung für jedes Urlaubsgesuch, als Entschuldigung für jeden verunglückten Gewehrgriff herhalten müssen.
Da ist der Mann, der sieben Jahre in einem eleganten französischen Badeort Hotelportier war und nun seine Flinte gegen die Franzosen tragen muss, die ihm nie etwas zuleide getan haben. Da ist der heimliche Poet, der mir ins Wirtshaus gefolgt ist, sich plötzlich ein Herz fasst, in die Gaststube voller Offiziere hereintritt und mir in dienstlicher Haltung meldet: „Herr Oberleutnant, ich hätt‘ e Gedichtche gemacht auf die Melodie: Preisend mit viel schönen Reden.“
Und während ich noch sein Geschreibsel durchstudiere, tritt eine Ordonnanz herein: „Es soll sofort ein Ersatzmann für den Trumpheller Michel nach Belgien gestellt werden, indem dass dem Trumpheller Michel kein Rock net passe tut. Abfahrt heute Nacht elf Uhr fünfzehn.“
„Herr Oberleutnant, ich melde mich freiwillig“, sagt mein Dichter, die Hacken zusammenschlagend. — „Gut, wenn Ihnen dem Trumpheller sein Rock passt, treten Sie in Gottes Namen für ihn ein und Glück auf den Weg.“ Er steckt sein Manuskript und sein Lob in die Tasche, macht stramm kehrt — und in derselben Nacht ist der Dichter unterwegs nach Belgien.
Das Lied dieses Wackeren war eine gutgemeinte Reimerei, wie sie viele ungeschulte Köpfe mit einiger Mühe zuwege zu bringen pflegen; jede Strophe behandelte einen unserer Feinde. Ich weiß nur noch den Schluss der französischen Strophe:
„Sonst ist an ihnen auch nicht viel,
Der ganze Anzug hat kein Stil.“
Aber eines ging deutlich aus dem rhythmischen Gestammel hervor: die harte Notwendigkeit dieses Weltkrieges für uns und die politischen wie psychologischen Triebfedern, die unsere Gegnerschaft zu der unnatürlichen Verbrüderung Halb—und Ganz-Asiens mit den freien Briten und dem hochkultivierten Franzosenvolke zusammengeführt haben, die hat auch das einfachste Hirn, das naivste Gemüt in unserem Volke klar begriffen.
Und das ist es, was uns stark macht, was uns diese unerschütterliche Siegeszuversicht gibt: die allgemeine Einsicht, dass wir für eine gerechte Sache gegen eine Verschwörung des Neides mit der Rachlust und der niederen Beutegier kämpfen.
Also ist unser letztes Aufgebot beschaffen. Die neun Offiziere unseres Bataillons zählen zusammen 514 Jahre, die fünf Vizefeldwebel und Offizierstellvertreter haben zusammen 5,19 Doppelzentner Lebendgewicht — für ausgegrabene Leichen eine anständige Leistung! Jedenfalls ist ihnen das Übergewicht über jeden Feind sicher. Mag sein, dass wir auch nicht viel besser bekleidet und ausgerüstet sind, dass wir mit unseren Gestalten und unserer Gelenkigkeit auch nicht mehr Staat machen können als die letzten Aufgebote der feindlichen Armeen, aber eines darf man wohl kühnlich behaupten: Mit so zweifelsfreiem Gemüt, mit solcher inneren und äußeren Ruhe, solchem sittlichen Ernst und solch stramm soldatischem Frohsinn trägt kein anderer Landsturm auf der Welt seine alte Haut fürs Vaterland zu Markte als dieses unser deutsches letztes Aufgebot.