Читать книгу Die Jeromin-Kinder - Zweiter Band - Ernst Wiechert - Страница 5

II

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»Wie gehen deine Tage, Jons Ehrenreich?« fragte Stilling in einem seiner Briefe, und Jons blickte auf die kleinen, etwas zittrigen Buchstaben, die wie gestochen aussahen, und dann von dem Briefblatt durch das Fenster, vor dem der alte Buchfink saß, auf die graue Mauer, von der der Bewurf nun in großen Stücken abgefallen war. Und hinter der Mauer sah er das Dorf Sowirog mit See und Wald und Feld, und auf dem Moor sah er die grünen Birken wehen und Pionteks Herde hinter dem kleinen Hirtenfeuer, und auf der sandigen Straße sah er die Kinder spielen, und am Meiler sah er die Mutter sitzen, im schwarzen, hochgeschlossenen Kleid, und die berußte Fichtenstange lehnte immer noch an dem erloschenen Hügel.

Wie so eine Welt sich aufbauen konnte hinter einer fleckigen Wand, und so nahe war sie, daß er nur die Hand auszustrecken brauchte, um den grauen Zaun zu berühren, der um das Jeromin-Haus lief ... Das Auge, das war die Retina, und Stäbchen und Zäpfchen, und der nervus opticus und die lens crystallina, und hundert andere Namen und Wunder, und wenn man die Namen und Wunder zusammensetzte, blieb doch immer noch das große Geheimnis, wie alles in einem winzigen Keim zusammengeschlossen war und sich entfaltete und das nackte Bild mit Farben erfüllte, mit Vorstellungen, mit Leiden und Schmerzen, und darüber hinaus mit der Idee der Ewigkeit.

Er seufzte leise und schüttelte den Kopf, indes seine abwesenden Augen sich langsam wieder mit der Wirklichkeit zu erfüllen begannen. Ja, wie gingen seine Tage? Sie begannen in der Frühe, wenn der erste Sonnenstrahl die grüne Spitze des Kirchturms rötete, und sie endeten in der Nacht, wenn das Sternbild des Großen Bären sich über die Mauer neigte. Lange Tage, an dem heiseren Schlag des Perpendikels gemessen, und kurze Tage, an dem Bewußtsein gemessen, das von ihnen erfüllt wurde. Erfüllte Tage, wenn man sie auf die Waagschale der Arbeit legte, und dürftige Tage, wenn man die Frucht maß, die sie trugen. Eine Tasse Tee in der Frühe, auf einem kleinen Spirituskocher bereitet, und ein Stück Schwarzbrot aus dem Jeromin-Haus. Und danach eine von Jumbos kurzen Pfeifen, aus dem Tabakkasten gefüllt, den er zurückgelassen hatte, und ein paar Minuten vor der Bücherwand, die er Jons vermacht hatte. Hier und da ein behutsamer Griff nach einem der abgeschabten Bände und das Umblättern von ein paar Seiten, um die Bleistiftnotizen in der winzigen Schrift des Toten zu lesen. »Laufe nicht«, stand da, »denn du überholst das Schicksal nicht!« Oder: »Wenn der Tod kommt, reiche ihm noch den Schleifstein, damit er sieht, daß du bereit bist.« Oder ähnliche frühe Früchte eines stillen, tapferen und nachdenklichen Lebens.

Jons war es, als seien sie nur für ihn aufgeschrieben und als habe der Tote lange vorher gewußt, daß er hier einmal stehen würde, das »Mönchlein«, ohne Berater und ohne Freund, und sein schweres Tagewerk mit einem solchen Leitwort beginnen. Er hatte soviel gewußt, dieser Gastwirtssohn, der nun unter den Tannen in Rußland schlief, die vermoderte kurze Pfeife in der vermoderten Hand. Ja, von dieser Unsterblichkeit wußte Jons nun, von der des Wortes, das man still und vorsichtig in die Furchen des Herzens streute.

Er stellte den Band langsam in die Reihe zurück, gab dem Buchfink Körner und Wasser und schlug dann ein Buch und seine Kolleghefte auf, den Kopf in beide Hände gestützt, so wie der Vater über der Bibel gesessen hatte.

»Wie gehen deine Tage, Jons?« So wenigstens begannen sie, am Werktag wie am Sonntag, und tausend oder zweitausend Tage würden so beginnen, nur daß die Bücher wechselten und der Stand der Sonne über der noch schlafenden Stadt. Von dem, was das Herz erfüllte, war nicht zu reden, obwohl Stilling wohl mehr daran dachte als an die Kolleghefte. Das Herz war zugetan und verschlossen, für lange Jahre. Das Herz war für die Reichen und Sorglosen, für die Dichter und die Liebenden, aber nicht für jemanden, der von eines alten Mannes Erspartem lebte, wie ein Kranker von gespendetem Blut lebt. Er aber hatte nur im Geist zu leben, in dem, was er früh als das Brüchige, das Unvollkommene erkannt hatte, in dem, worauf die Menschheit des Abendlandes immer schneller zutrieb, wie in einen rasenden Strudel, und niemand wußte noch, was auf dem verborgenen Grunde mahlte. Und es kam nur darauf an, das andere still zu bewahren, das, was der Vater gehabt hatte, der Großvater, was das Dorf besaß: die dumpfe Einfalt des Herzens. Und einmal, wenn er sein Rüstzeug erworben hatte, dieses beides wieder zu vereinen, nicht das eine um des andern zu verlieren, ganz zu bleiben, auch wenn es für Jahre nur um das Handwerk ging, um Namen und Kenntnisse, um Instrumente und Methoden, um die Überlistung dessen, was sie den Tod nannten. Und es war doch nur eine arme Überlistung, ehe man nicht wußte, daß er nur die andere Seite des Lebens war. Erst wer ein Freund des Lebens war, konnte ein Arzt sein, nicht, wer nur ein Feind des Todes war.

Langsam begann das Haus zu erwachen, die leisen Geräusche hinter dem Vorhang, wo die Schwestern Holstein immer noch schliefen, der erste rauhe Kampfschrei der ländlichen Pensionäre, die erste Schlagermelodie aus einer heiseren jungen Kehle. Aber es kam nur wie hinter dicken Mauern zu ihm her, aus einer fernen, ihm nicht zugehörigen Welt. Es war nicht, wie ein Feld erwacht, ein Wald, ein Dorf. Nur der Mensch erwachte, der Gefangene, der vom großen Dasein Abgetrennte, und so mochte das Erwachen in einem Gefängnis sein, das leise Klirren der Ketten, der Riegel, der Laut von vielen Füßen, und darüber ein wildes, aber ganz und gar vergebliches Lied.

Und dann kam die älteste der Schwestern, die ihm zugetan war mit ihrem freudlosen Leben, so wenig sie die jungfräuliche Angst vor ihm ganz überwunden hatte, vor den dunklen und blutigen Schicksalen seines Hauses, vor dem tödlichen Ernst seines Weges. Sie brachte ihm die kleine Kanne mit Kornkaffee und zwei Brötchen, wenn die Bäcker nicht gerade im Streik standen. Sie setzte alles leise auf die Tischdecke, nachdem sie sich ängstlich vergewissert hatte, ob in den Büchern nicht gerade eine der schrecklichen Abbildungen aufgeschlagen war, in denen der Mensch, das Ebenbild Gottes, wie ein geschlachtetes und ausgeweidetes Tier in grellen Farben vor ihr lag. Und dann setzte sie sich auf den Rand des alten Sofas mit den weißen Porzellanknöpfen, legte die blutlosen Hände im schwarzen Schoß zusammen und sah Jons an. Die Witwe Holstein war nun gestorben, an den Entbehrungen des Krieges, dem Hunger, der Kälte und der grauen Zwecklosigkeit ihres Lebens, und die »drei Parzen«, wie der ländliche Witz die Schwestern immer noch nannte, fochten nun allein den bitteren Kampf gegen die Unbotmäßigkeit ihrer Pensionäre, gegen Lebensmittelkarten und Steuern, gegen Streiks und Revolutionen, gegen das unendliche und grauenvolle Einerlei des Lebens und gegen den stillen, fressenden Haß, den sie immer noch gegeneinander trugen.

Für diese aber, die wenigstens einer sanften Traurigkeit noch geöffnet sein konnte, war diese Viertelstunde in der Sofaecke wie eine Frühmesse für den verlassenen Gläubigen. Hier war nicht einer, der Widerstand leisten oder quälen wollte, nicht einer, der verachtete oder an rohen Scherzen Gefallen hatte. Hier war einer, der aus einem schweren Leben kam und in ein schwereres ging. Der die Erde des Dorfes noch unter seinen sauberen Schuhen trug und die Frömmigkeit seines Vaters noch in seinen Händen bewahrte. Der nicht mit Zucker, Kaffee und Zigaretten handelte wie die anderen. Den sie in den Krieg hatte ziehen sehen und aus ihm zurückkommen, nicht lärmend, nicht prahlend, nicht verbittert und nicht aufrührerisch, sondern mit seinem stillen, früh gezeichneten Gesicht, und um den sie gebangt hatte wie um ein Kind, das sie selbst unter dem Herzen hätte tragen können. Der andere war gegangen, der wie ein lächelnder Mönch hier gelebt hatte, und sein Lächeln war ihr unheimlich gewesen, unheimlich wie sein Tod, von dem Jons ihr erzählt hatte, und wie sein Vater, der ein Trinker war und mit der zitternden Hand seinen Zylinder geglättet hatte.

Aber dieser war geblieben, und er war nun fast ein Stück ihres armen Herzens geworden, von dem Augenblick an, als er mit dem alten, komischen Lehrer zum ersten Male auf ihrer Schwelle gestanden hatte, das Bauer mit dem Vogel in der Hand und die ernsten Augen klar und ohne Falsch zu ihr aufgeschlagen, bis zu diesen Morgenstunden, in denen sie ein Weilchen bei ihm saß und zusah, wie er mit abwesenden Gedanken aß und trank, ein früher Arbeiter, dessen Augen schon beim nächsten Werk waren und von dessen Hoffnungen und Leiden sie so wenig wußte wie von denen eines Bergmannes oder eines Königs.

»Die Mark fällt, Herr Jons«, sagte sie mit ihrer leisen, bekümmerten Stimme und blickte die Bücherreihen entlang, wo die vergebliche Weisheit gesammelt stand, die Weisheit, die nicht verhindern konnte, daß es Hunger und Kriege und Inflation gab. »Was soll werden, Herr Jons?«

Jons kehrte von den Geheimnissen der Sehnerven, der Zäpfchen und Stäbchen zurück und sah sie an. Das gütige, karge Lächeln seines Vaters war um seine Lippen, als er begütigend sagte: »Was immer war, Fräulein Holstein, und was schon im Alten Testament geschrieben steht: ›Samen und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht‹, davon haben die Leute in Sowirog gelebt, hundert oder tausend Jahre, und davon werden auch wir leben. Solange die Mark fällt, ist nichts verloren. Erst wenn die Erde fällt, wird es schlimm. Aber sie fällt noch nicht, und Sie sollen eines tun: Sie sollten Ihre jungen Leute nur gegen Lebensmittel aufnehmen und sich Ihre Arbeit mit Roggen oder Weizen bezahlen lassen. Herr von Balk hat mir das geschrieben, und er weiß mehr als alle Nationalökonomen.«

Fräulein Holstein nickte vor sich hin und sah ihn dann mit ihrem scheuen Lächeln an. Es war nur wie der Rest eines Lächelns, das, was aus fünfzig Jahren übriggeblieben war, aber es verschönte ihr blasses, langes Gesicht. »Immer gibt es einen Trost bei Ihnen, Herr Jons«, sagte sie, »wenn es überall nur Haß und Tränen gibt. Und sicherlich werden Sie ein großer Arzt werden.«

»Werde ich?« fragte Jons und sah aus dem Fenster auf die graue Wand. »Ich will mir Mühe geben, Fräulein Holstein.«

Dann stand sie leise auf, weil seine Augen schon wieder weit fort waren, nahm das Geschirr lautlos von der Tischecke und ging zur Tür. Aber dort drehte sie sich noch einmal um und umfing mit ihren traurigen Augen das Bild des Raumes und des über die Bücher Gebeugten, und es war ihr, als werde sie sterben müssen, wenn diese Gestalt dort nicht mehr sitzen werde, dieser stille Abendschein ihres freudlosen Lebens, dieser lautlose Brunnen in der grauen Wüste ihres Lebens.

Jons aber sah nach der alten, wurmstichigen Wanduhr, packte seufzend seine Hefte zusammen, sprach ein paar leise Worte mit dem Buchfinken und ging dann die stillen Straßen zum Botanischen Institut hinunter, wo sein Tagewerk begann. Die Hüfte schmerzte immer noch, und an Regentagen nahm er einen Stock zu Hilfe.

Er ging langsam, und seine Augen nahmen alles auf, was der Weg ihm bot. So wie alles geordnet und bedacht war in seinem jungen Leben, so hatte er gleich zu Beginn des Semesters beschlossen, auf diesen Wegen von Institut zu Institut seine Bücher zu vergessen und dieses steinerne Leben so aufmerksam zu durchwandern, wie er als Kind einen Wald durchwandert hatte. Er wußte, daß Bücher wie Mauern sein konnten, die die Welt verschlossen, und da er mit einer frühen Erkenntnis über den Gefahren seiner Anlage wachte, fiel es ihm nicht schwer, nach einem »Plan« zu leben, wie er es nannte, auch wenn er sich mit einem spöttischen Lächeln nicht verhehlte, daß eben auch dieser Plan eine Gefahr war. Sein Vater und Großvater hatten nicht nach einem »Plan« gelebt, sie hatten nur versucht, den Plan zu erfüllen, den Gott mit ihnen gehabt hatte; aber unter seinen Geschwistern hatte es Warnungen für ihn gegeben, die er nicht vergaß.

So gingen seine stillen Augen über Häuser und Menschen dahin, immer noch unbestechliche Augen, und ihnen entging nicht, daß mancher Putz von beiden abgefallen war, ja daß die neue Freiheit mehr daran getan hatte als die harte Hand des Krieges. Er kannte nun nach zehn Jahren das Gesicht der kleinen Läden wie die großen, prahlerischen Schaufenster, den Mann, der das ausgefahrene Pflaster fegte, wie die alten Rentner, die mit ihren letzten Schmucksachen heimlich zum Trödler schlichen, um das nackte Leben zu fristen. Das Lehrmädchen, das in der Munitionsfabrik Geld gewonnen und Besseres verloren hatte, und den Sohn der Waschfrau, der mit einer zu bunten Krawatte vor dem schwarzen Schild stand, auf dem mit Kreide der Dollarkurs angeschrieben war. Es war ihm, als blicke das Schicksal aus allen den vielen Fenstern, ein hartes Schicksal, ungerührt von Zeitungsaufsätzen, von Umzügen und Versammlungen, das Schicksal, das über die Entwurzelten gesetzt war, und als lebten die Leute von Sowirog ein sichereres Leben trotz ihrer Armut, weil die Kartoffeln am Moorrand für sie wuchsen, der kümmerliche Roggen auf den sandigen Feldern, die kleinen, sauren Birnen an den Ackerrainen. Die Revolutionen reichten nicht bis in die Erde, und die einzigen Umzüge, die sie kannten, gingen mit dem Taufkind zur Kirche, oder mit einem Fichtensarg zum Friedhof, oder Piontek zog mit der Herde zum Walde und am Abend wieder heim. Der Kaiser war nicht mehr da, sondern ein Reichspräsident, aber sie hatten keinen von ihnen je gesehen. Sie sahen nur Korsanke und den alten oder neuen Lehrer und sehr selten den Landrat. Sie hörten, daß der Arbeiter nun dicht an Gottes Thron stehe, aber sie merkten nichts davon. Es galt wohl nicht für den Eulenwinkel.

Jons ertappte sich dabei, daß er wieder träume, und er lächelte sich gutmütig zu. Er merkte, daß die Straßenbahn nicht fuhr, und mußte an einer Hauptstraße eine Weile warten, weil ein langer Zug von Männern, Frauen und auch Kindern vorüberkam. Sie trugen rote Plakate mit vielen Aufschriften, und ein kleines Mädchen mit zwei festgeflochtenen, abstehenden Zöpfen blickte andächtig zu dem Schild auf, das ihre Hände trugen. »Nieder mit der Reaktion!« stand dort mit ungeschickt gemalten Buchstaben zu lesen, und während das Kind an Jons vorüberkam, strich er ihm lächelnd einmal über das sauber gescheitelte Haar. Aber es wich ihm aus und blickte zornig über die Schulter zurück, als habe er nicht begriffen, daß es sich um große Dinge handle, und daß diese großen Dinge gefährdet seien, wenn die dünne Stange in den schwachen Händen nicht sorgsam und senkrecht getragen werde.

Jons wartete, bis der lange Zug der Gesichter zu Ende ging, trotzige und eitle, bittere und leuchtende Gesichter, aber alle verhungert und entkräftet, seine Gedanken gingen mit einer unvermittelten schweren Traurigkeit zu dem Mädchen Margreta, dem er am Herzen gelegen hatte, bevor der Krieg ihn genommen hatte, und deren junger und zärtlicher Leib von Sprengstoffen zerrissen worden war, ehe er hatte blühen können zu seiner gottgewollten Bestimmung.

»Nun, Jeromin, ist der Dollar zu hoch gestiegen?« fragte sein Nachbar im Hörsaal, ein Lehrerssohn, der noch auf Krücken ging.

Aber Jons sah ihn an wie einen Fremden, und es war zu merken, daß er gar nicht wußte, wer neben ihm saß. Erst nach einer Weile kehrten seine Augen zurück, und er versuchte zu lächeln. »Nein«, erwiderte er und öffnete sein Kollegheft, »ich habe nur an das Lied gedacht: ›Dann gehet leise, auf seine Weise, der liebe Herrgott durch den Wald ...‹«

Der andere sah ihn vorsichtig von der Seite an. »Ein komischer Kauz sind Sie doch, Jeromin«, sagte er.

Dann kam der Professor, und sie nahmen ihre Bleistifte zur Hand.

Für Jons gab es schon im ersten Semester nicht viel mitzuschreiben. Davor bewahrte ihn die Erinnerung an Jumbos Weisheiten, und er wußte, daß alles, was der Professor sagte, viel klarer und faßlicher in den schweren Bänden aufgezeichnet war, die Jumbo ihm hinterlassen hatte. Er notierte nicht viel mehr als den »Gang der Handlung«, aber er zeichnete gern, was die zitternde Hand des Vortragenden mit merkwürdiger Sicherheit auf der Wandtafel erscheinen ließ. Man sagte, daß der Professor ein Morphinist sei, und um dieses Gerücht ließ Jons seine Gedanken wandern. Um die grauen und wie zerklüfteten Züge des abweisenden Gesichtes, um die schmalen, zitternden Hände, um das Leben dieses Fremden, wie es aus Sicherheit und Wissen in das Dumpfe des Rausches gelangt sein mochte, und wie der Geist wohl doch nicht ausreichte, um die Rätsel des Daseins zu bestehen.

Und von da ließ er seine Gedanken weitergehen, zu den vielen Gesichtern, die sich über die Hefte beugten, müde und erleuchtete Gesichter, rohe und demütige, und er versuchte zu erkennen, wie sie nun fünf oder sieben Jahre später sich über einen Sterbenden beugen würden, über das Mädchen etwa, das mit dem Plakat gegen die Reaktion so tapfer die Straßen entlanggegangen war, über den alten Lehrer Stilling etwa, oder gar über den furchtlosen Herrn von Balk. Und dann kehrte er wieder zu dem Mann an der Tafel zurück, der heimlich nach seiner Armbanduhr sah, und manchmal war ihm, als sei dies alles nicht ganz richtig, was hier betrieben wurde, als fehle etwas, was sich mit Worten nicht sagen ließ, aber er wußte nicht, was es war. Nur, daß er ab und zu an den jungen Studenten Tobias denken mußte, wie er nachts auf dem Grabenrand gestanden hatte, den Stahlhelm in den schmutzigen Händen, um die Seligpreisungen über die verbrannte Erde zu sprechen. Als liege da eine Lösung verborgen, aber als werde man lange Zeit brauchen, um sie zu finden.

Dann nickte er seinem Nachbarn mit den Krücken zu und ging langsam durch die stillen, grauen Straßen, zum Chemischen Institut, oder zur Anatomie, oder wohin sein Stundenplan ihn nun gehen hieß.

Was ihm am meisten Sorge machte, war nicht die Vielfalt der Arbeit, sondern ihr zäher und langsamer Gang. Daß der vorausfliegende Geist immer wieder zurückkehren mußte zu den Elementen und daß der Hand noch immer nichts zu tun blieb, als zu schreiben oder zu zeichnen, indes sie doch ein Messer halten wollte, um mit einem ganz behutsamen Schnitt in das Innere einer Schöpfung zu dringen, das Kranke vom Gesunden zu trennen und die Wurzeln des Lebens wieder freizulegen für Wachstum und Atem. Und unterdessen fiel die Mark, wie Fräulein Holstein sagte, wurden die Umzüge häufiger und länger, der Haß der Zeitungen bitterer, der Beifall der Studenten immer lauter, wenn einer der Professoren mit billigem Spott sich an die neuen Männer heranmachte, die nun das Schicksal des Reiches aus der Zerstörung herauszuführen versuchten.

Ja, auch der Krieg war ihnen ein Beruf gewesen, dachte Jons, wenn er die Gesichter in den Hörsälen betrachtete, ein Beruf wie dieses Studium, und es galt ihnen ganz gleich, ob sie den Tod gaben oder vor ihm retteten. Sie waren nicht neu geworden im Feuer der Schlachten, wie sein Vater neu geworden war, oder Jumbo; sie waren nur zurückgekommen und hatten einen anderen Rock angezogen. Einen Alltagsrock, aber an besonderen Gedenktagen hefteten sie ihre Orden an diesen Rock und verglichen heimlich, ob sie zahlreicher oder bedeutender waren als die Orden anderer.

In der Mittagszeit saß Jons für anderthalb Stunden auf dem alten Sofa mit den Porzellanknöpfen, aß schnell, was Fräulein Holstein ihm brachte, und nahm dann eines der Bücher aus den langen ernsten Reihen. Es war die einzige Zeit des Tages oder der Nacht, in der er nicht an sein Studium dachte. In der er Verse las oder die Lebensweisheit der Alten oder was andere Völker über den Weg der Menschheit gedacht hatten und dachten. Es war die »zwecklose« Stunde, wie er sie nannte, oder die »verbotene«, aber aus ihr gewann sich für ihn der tiefste Trost des Tages und der Nacht, die Ablösung von den Zwecken, die Erkenntnis der Macht des wahren Geistes, die immer zugleich eine Macht des Herzens war, und das leise Erschauern vor dem Zauber der Schönheit, die nicht an eine Menschenform gebunden war, nicht einmal an die Sprache allein, weil die Sprache nur eines der Mittel war, der vielen, mit denen das Tor der Wunder sich öffnen ließ.

Und am seltsamsten war ihm die Erfahrung, daß auf dem Grunde dieser Stunden, ja eigentlich hinter ihrem Grunde das Bild seines Dorfes mit einem ganz stillen Leuchten stand, als hätten die Alten wie die Neuen von ihm gewußt. Von den sanften Linien der Wälder und Hügel bis zu den ärmlichen Gespannen, die über die Äcker gingen, und von dort zu den stillen Gesichtern, die sich über den Pflug oder den Spinnrocken beugten. Als sei auch dort und gerade dort diese geheimnisvolle Schönheit zu Hause, die aus Tagewerk und Ehrfurcht sich zusammenwob, und die nur dort gedeihen konnte, wo Mensch und Menschenwerk sich nicht entfernt hatten von dem alten Urgrund, weder durch die Empörung noch durch den Geist.

Ging er dann wieder am frühen Nachmittag zur nächsten Vorlesung, so trug er die Erinnerung an diese Stunde wie einen stillen Talisman mit sich, ähnlich der feinen silbernen Kette, die er um seinen Hals fühlte und die das Mädchen Margreta ihm umgehängt hatte, als er in den Krieg gegangen war.

Brannte dann am Abend die kleine Petroleumlampe auf seinem Tisch, war der Buchfink zugedeckt und das Fenster hinter dem Vorhang verschwunden, so wischte er mit einer Bewegung seiner Hand die Zeit von seinem Tisch, Vergangenheit wie Gegenwart und Zukunft, und auf seinem Gesicht erschien der harte und gespannte Zug, den sein Vater gehabt hatte, wenn der Meiler zu glühen begann, der Zug eines Mannes, der sich zu verantworten beginnt, nicht vor einem Menschengericht, aber vor seinen Vorfahren oder seinen Kindern, und in diesen Stunden bis zur Mitternacht lernte er, was Arbeit ist, schwere, an die Menschen gewendete Arbeit, ohne Lohn, ohne Ruhm, aber von dem tödlichen Ernst erfüllt, der die Hand des Mannes zum Segen oder zum Fluch wenden kann.

In diesen Stunden formte sich ohne sein Wissen das Gesicht, auf das die Studenten mit Mißtrauen oder Spott, die Professoren mit einer überraschten Aufmerksamkeit und Fräulein Holstein mit Sorge zu blicken begannen, als ein paar Semester vorübergegangen waren.

»Wie gehen deine Tage, Jons Ehrenreich?« fragte Stilling in seinen Briefen, aber darauf war nicht viel zu antworten. Sie reihten sich wie Perlen an eine Schnur, aber wenn man die einzelne in der Hand hielt, war sie grau und unscheinbar, und man wußte nicht, ob das Ganze einmal leuchten würde. Man wußte wenig von Frühling und Herbst, von Hunger und Kälte. Sie waren nur Hülsen, in denen das Korn wuchs, und es wuchs unendlich langsam.

Manchmal, am Sonntagabend, saß er bei Charlemagne, sprach über Menschen und Zeiten oder hörte lieber zu, und manchmal bat er die Frau seines alten Lehrers, wieder ein Lied zu singen. »Es bellen die Hunde, es rasseln die Ketten, es schlafen die Menschen in ihren Betten ...«, oder »Tödlich graute mir der Morgen ...« Und schwang die Stimme sich dann auf mit den strahlenden Akkorden, zu dem »Bis der Sieg gewonnen hieß!«, dann fühlte er die gleiche wunderbare Reinigung seines Daseins wie bei den Klängen der Orgel oder wie damals, als das Wunderkind vor den schwarzen und weißen Tasten gesessen hatte. Auch so also konnte man zu den Quellen kommen, aber es bedurfte der Gnade, nicht des Schweißes, der Gnade, die Friedrich gehabt hatte und um die er erschlagen worden war.

»Sie arbeiten zuviel, Jons«, sagte die Frau, wenn er wieder gehen wollte. »Und Sie gönnen sich keine Freude.«

Aber er schüttelte den Kopf. »Die Meinigen kennen das nicht, ›zuviel Arbeit‹«, erwiderte er. »Wenigstens die nicht, nach denen ich mich zu richten habe. Und Freude hat mein Vater wohl nur am Meiler gehabt.«

Manchmal auch saß er am Sonntagabend bei dem alten Schuster, von dem er damals den Kinderwagen zu entleihen pflegte, wenn er nach Kohlen fuhr, blickte in das gedämpfte Licht der Glaskugel und hörte zu, wie der alte Mann vom Staat der Zukunft sprach, von der Herrschaft des Volkes und der Arbeiterbataillone, und seine Arme, die sich beschwörend und prophetisch hoben, warfen wilde, verzerrte Schatten auf die weißgetünchte Wand. »Das Kapital ist der Fluch der Menschheit«, sagte er mit seiner heiseren, beschwörenden Stimme. »Der Fluch, der uns das Mark aus den Knochen saugt.«

Und Jons hörte zu, mit der gespannten Miene, die er an alles wendete, das den Weg der Menschheit betraf. Er wußte längst, daß es nicht das Kapital allein war, daß die Wurzeln in einen Boden reichten, der schon seit Jahrtausenden in der Verwitterung begriffen war, in einer unabänderlichen und tödlichen Verwitterung, aber er hörte zu, geduldig, aufmerksam, achtungsvoll, und wenn er wieder auf die Straße trat und zu den matten Sternen aufblickte, war er nicht klüger geworden, aber williger. Noch williger, das Salz der Erde zu »dämpfen«, und er dachte mit einem bitteren Lächeln an die unzähligen Kreuze, die in aller Welt verwittert standen und unter denen die Hände und die Herzen derer vermoderten, die gleich ihm willens gewesen waren, an dieses schwere Werk zu gehen. Nur daß der Staat es für nötiger gehalten hatte, sie in den Tod zu schicken statt in das Leben. Und es war ganz gleichgültig, ob der Absolutismus oder die Demokratie sie geschickt hatte. In diesen Dingen waren sie einer Meinung gewesen.

Manchmal auch, aber sehr selten, ging er am Sonntagabend zum Strom hinunter, wo er mit Margreta Kohlen gefahren hatte. Er ging nicht, bevor die Dämmerung gefallen war, und nur wenn Regengewölk über dem Horizont aufzog und jenes gedämpfte, etwas traurige Licht über der Erde war, das ganz anders war als das Sternenlicht. Er nannte es das Licht der Toten, weil es die Erinnerung heraufrief, die Sonnenlicht und Sterne scheute, und er meinte, wenn er ein Dichter wäre, dann würden ihm unter solchem Licht die Verse zufallen. Im Westen, wo das ferne Haff sich dehnte, lag noch ein rötlicher Schein über der Erde, aber alles andere war ohne Farbe, nur grau und dunkel, und die belaubten Wipfel standen wie verlassene Kuppeln über dem fahlen Glanz des Stromes, der lautlos wie ein Totenfluß dahinglitt.

Hier saß er dann über dem Ufer, die Hände um die Knie gefaltet, den Kopf an die warme Rinde einer Weide gelehnt, und blickte über Schilf und Wasser in die dunkle Ferne. Er dachte nichts, er glaubte nichts, er erinnerte sich nicht einmal. Er sah nur Bilder aufsteigen und versinken, ohne daß er sie verknüpfte, die Bilder seines jungen Lebens und ungelebte dazu, und am meisten das Margretas, dieses früh wissende, von Entsagung und Zärtlichkeit beglänzte Gesicht, wie es sich über ihn neigte, mütterlich und mädchenhaft, und die tiefe Traurigkeit ihrer Liebe doch wie einen goldenen Strom über ihn fließen ließ, in dem die grauen Dinge der Zukunft wie unter einem Regenbogen erschienen, mit farbigen Rändern, die sich auf die Erde stützten.

Dann erst fühlte er mit einem brennenden Gram, was er verloren hatte, unwiederbringlich verloren, die andere Seite des Lebens, das Angeknüpftsein an die Ewigkeit, das Geborgensein im Plan der Schöpfung, die Hand, die tröstend wie eine Engelshand in seine schreckliche Einsamkeit griff.

Hier, über dem fahlen Licht des Stromes und unter der grenzenlosen Verlassenheit des zerklüfteten Himmels, konnte es sein, daß er weinte. Aber er wußte es nicht. Die Tränen fielen aus seinen offenen Augen, und erst wenn er die Hand hob, um eine der Haffmücken zu verscheuchen, fühlte er, daß seine Wangen naß waren.

Dann erschrak er und stand schnell auf. Es war so dunkel, daß er den Umriß des Baumes kaum erkannte, unter dem er gesessen hatte, aber er sah sich scheu um, als hätte ihm jemand zugesehen.

Er ging am Ufer entlang zurück, dort, wo er bei seiner Heimkehr aus dem Kriege den grauen Kahn mit den Kindern gesehen hatte, die mit einem zerrissenen Netz nach Fischen gesucht hatten. Aber er ging nicht die Straße entlang, in der Margretas Haus lag. Bei dem ersten dieser Gänge hatte er von ferne gesehen, daß der Laden mit den Wachspuppen wieder erleuchtet war wie damals, denn die Zeiten waren nicht sicherer geworden, und er hatte sich umgedreht, als hätte jemand zum Schlage gegen ihn ausgeholt. Es gab Dinge, denen er noch nicht begegnen konnte.

Sprach ihn in den dunklen Hafengassen ein Mädchen an, so erschrak er wie vor einem Gespenst, und erst wenn die Lampe in Jumbos Zimmer brannte, war es ihm, als sei er zu den Lebenden zurückgekehrt. Aber seine Hände zitterten noch, und das Herz schlug ihm wie nach einer schweren Flucht.

Ja, Jons Ehrenreich, »wie gehen deine Tage?« Die Tage des Mannes, der ausziehen wollte, um das Salz der Erde zu dämpfen, aber noch war das eigene Salz nicht gedämpft, sondern fraß in den Augenwinkeln und in dem schwer schlagenden Herzen. Schwer war der Schritt vom Selbst zum andern, schwerer als Stilling wußte, denn ihm war es als eine Gnade zugefallen. Aber Jons war nicht in der Gnade. Er war in der Anfechtung, und seine Knie zitterten wie nach dem Ringen mit einem Engel.

Er hatte keine Freunde. Für die Studenten war er ein Sonderling oder ein Streber, und wenn seine Augen durch sie hindurch in eine ihnen unbekannte Ferne blickten, sahen sie zur Seite, als hätte Jons sie bei einem Unrecht ertappt. Und doch gewann er einen frühen Ruhm, sowenig er ihn gewollt hatte.

Es studierten nämlich damals schon eine Reihe von jungen Mädchen, und der verlorene Krieg mit Hunger und Verstümmelung zog sie mehr als früher in die medizinischen Hörsäle. Sie waren still, ernst und fleißig, und Professoren wie Studenten blickten mit einer Art von Mißbilligung auf sie. Es gefiel ihnen nicht, daß sie nicht mehr unter sich waren, in einem rauhen und oft rohen Männerhandwerk, daß sie Rücksichten zu nehmen hatten, die die Erziehung vorschrieb, aber die sie ungern übten, und daß die ernsten Augen dieser Mädchen mit einer bedrückenden Klarheit auf ihre Gespräche, ihre Verbindungsbänder, ihre Orden blicken konnten.

Es gab Gelegenheit genug für die Professoren, auf eine schamlose Weise Dinge vorzutragen und zu demonstrieren, die sie anders hätten vortragen können, und der betonte Beifall der männlichen Hörer war ein billiger Lohn für die Gewagtheit ihrer zynischen Scherze. Es gab viele, die sich gänzlich fern davon hielten und die sich damit begnügten, ihre weiblichen Zuhörer zu übersehen. Aber einige von ihnen versäumten keine Gelegenheit der Quälerei an Wehrlosen, und bei dem rohen Gelächter der Beifallspendenden pflegten sie mit einer Miene des Erstaunens aufzublicken, als sei dies ganz gegen ihren Willen mißverstanden worden. Besonders der Gynäkologe, ein schwerer Mann mit einem von Narben durchpflügten Gesicht, war ein Meister solcher eiskalten Spaße, als wollte er sich am ganzen weiblichen Geschlecht für die Mühe schadlos halten, die es ihm in seiner Klinik bereitete.

Jons hatte zuerst gar nicht verstanden, worum es bei solchen Anlässen ging. Er hatte von seiner Zeichnung aufgesehen, als sei ihm etwas entgangen, woran die anderen Freude hatten, und erst als er einmal sah, wie ein junges, stilles Mädchen neben ihm die Hände unter der Bank zusammenkrampfte, indes Tränen aus den gequälten Augen schossen, begriff er, was vorgegangen war und sah mit bösen Augen zu dem Professor auf. Er trug dies ein paar Tage mit sich herum, nicht mehr als den dumpfen Groll eines Menschen, dem man Schmutz in sein sauberes Haus wirft, und er war dabei, es als eine Erscheinung der gedankenlosen Roheit zu den übrigen Erscheinungen zu legen.

Aber als nach ein paar Tagen bei der Behandlung des weiblichen Beckens von den lächelnden Lippen des Professors ein Wortspiel von außergewöhnlicher Schamlosigkeit fiel, ein wohlvorbereitetes, wie man leicht merken konnte, und das Mädchen neben Jons mit einer unwillkürlichen Bewegung die Hände vor das Gesicht legte, wie um sich vor einem Steinwurf zu schützen, überkam ihn das jähe Erbteil seiner Mutter, so daß er in dem Lärm von Gelächter und Hohn aufsprang, sein Hefte zusammenraffte und aus der Bank heraustrat, in der man ihm bestürzt Platz machte. In dem jähen und lautlosen Schweigen des Raumes sah er den Vortragenden an, der vor seinen finsteren Augen erblaßte, und sagte laut und bis in den letzten Winkel wahrnehmbar: »Gehorche deinem Vater, der dich gezeugt hat, und verachte deine Mutter nicht, wenn sie alt wird!« Und er wußte nicht, wie dieser Vers aus den Sprüchen Salomonis ihm auf die Lippen gekommen war. Er wußte nachher nur, daß er ihn vor langen Jahren am Meiler gehört hatte, und sein Vater ihn gesprochen, als Gotthold in die Stadt gezogen war.

Danach verließ er, ohne sich umzusehen, den Hörsaal.

Es bedrückte ihn. Nicht daß er gegen die Ordnung gehandelt hatte, sondern daß er im Jähzorn gehandelt hatte, nicht viel anders als seine Mutter, wenn sie zugeschlagen hatte, und er war zu bescheiden, um zu erkennen, daß es nicht dasselbe war.

Er wurde schon am nächsten Tag vor den Universitätsrichter gerufen. Er war als ein ernster, strenger Mann bekannt, und man wußte, daß er beide Söhne im Krieg verloren hatte. Er ließ Jons mit einer Handbewegung Platz nehmen und sah ihn schweigend an. Hinter einer bläulich gefärbten Brille waren seine Augen nicht zu erkennen, und Jons wußte nicht, was für ein Blick auf ihn gerichtet war. Aber er fühlte, daß nichts Böses in diesen schmalen Lippen war, nur ein Gram, der das Gesicht wie erfroren scheinen ließ. Die blutlosen Hände spielten mit einem Bleistift.

Dann schob der Richter ein paar Akten zur Seite und beugte sich vor. »Wo steht das geschrieben?« fragte er leise. »Das von Vater und Mutter?«

»In den Sprüchen Salomonis, Herr Geheimrat«, antwortete Jons.

Der Richter nickte ein paar Male und sah aus dem großen Fenster, wo die Äste einer alten Birke im Winde wehten.

»Und woher wußten Sie das?« fragte er weiter.

»Mein Vater hat es gesagt, vor vielen Jahren, als mein Bruder in die Stadt gegangen war.«

»Und wer war Ihr Vater?«

»Mein Vater war ein Köhler und besorgte den Meiler für den Herrn von Balk.«

»Ein Köhler ...« wiederholte der Richter, und nun war er doch ein wenig überrascht.

»Er las in der Bibel?«

»Ja, Herr Geheimrat.«

»Und was tut er jetzt?«

»Er liegt in Rußland.«

Nur ein leises Zucken um die schmalen Lippen, als hätte jemand mit einer Nadel heimlich in den regungslosen Körper gestochen. Dann nahm er die Brille ab, und ein paar sanfte Augen sahen Jons an, die wie ertrunken in ihrer verborgenen Trauer waren. »Ich muß Ihnen einen Verweis erteilen«, sagte er leise, »nicht weil Sie es gesagt haben, sondern weil Sie die Vorlesung gestört haben ... aber ich wünschte, daß Sie mein Sohn wären.«

Eine stille Handbewegung, und Jons ging hinaus. Die Kehle war ihm zugeschnürt, und er konnte kein Wort sprechen.

Er schrieb es an Stilling, und dieser antwortete, daß er sich an die Geschichte mit dem Schalksknecht erinnern möge. Wer im Rechten angetreten sei, gehe auch im Rechten weiter, nur daß die Majestätsbeleidigungen langsam schwerer würden. Aber wer sich an Wehrlosen vergreife, müsse gezüchtigt werden. Das unterscheide den Edelmann vom Knecht, und so solle er es weiter halten.

In den Vorlesungen geschah nichts mehr desgleichen, und das Mädchen gab ihm vor aller Augen die Hand. Der Professor sah nicht nach seiner Ecke hin, und die Studenten ließen es bei einer Art von achtungsvollem Grinsen bewenden. Es sahen ihm nun viele nach, wenn er in den Pausen den Korridor entlangging.

Aus seiner anfänglichen Bedrücktheit kam er langsam in eine stille und beglückende Fröhlichkeit hinein. Nicht durch das, was er gesagt hatte, sondern durch das, was der Universitätsrichter gesagt hatte. Sein Herz war ihm leicht und gleichsam der Zukunft gewiß. Er bestand seine Semesterprüfungen mit einer ungewöhnlichen Auszeichnung, aber er wußte, daß er eine schwerere Prüfung bestanden hatte.

Und so fuhr er fröhlich in seine ersten Ferien.

Die Jeromin-Kinder - Zweiter Band

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