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Das Jahr der Barmherzigkeit

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Ein konkreter programmatischer Ausdruck dieser Haltung des Papstes ist das „Jahr der Barmherzigkeit“. Dieses Heilige Jahr begann symbolträchtig am 8. Dezember 2015, dem 50. Jahrestag des Abschlusses des Zweiten Vatikanischen Konzils. Es endet am 20. November 2016. Es ist somit eine Einladung, das mit dem Konzil begonnene Werk fortzuführen, und zwar ausdrücklich unter dem Aspekt der Barmherzigkeit.

Dieses „Außerordentliche Jubiläum der Barmherzigkeit“ ist ein Mottojahr, das aus den innersten Beweggründen kommt, die Papst Franziskus in seinem Amt leiten. Barmherzigkeit ist für ihn der Kern der christlichen Botschaft und das Schlüsselwort seines Pontifikates. Er will mit dem Jahr der Barmherzigkeit die Kirche dahin führen, in allen Bereichen der Seelsorge Zeichen und Zeugin dieser Barmherzigkeit zu sein.

Barmherzigkeit ist ein zutiefst biblischer Begriff. Ich erinnere mich gerne an eine Frau, Adriana heißt sie, die ich getraut habe. Ein Jahr nach der Hochzeit habe ich sie getroffen. Sie erzählte mir, sie hätte so gern ein Kind, aber es sei bisher nicht möglich gewesen. Sie war unendlich traurig. Wiederum ein Jahr später habe ich die Frau neuerlich getroffen, und sie war schwanger. Nie mehr vergesse ich das leuchtende Gesicht von Adriana, wie sie mit der Liebe einer jungen Mutter ihre Hände auf ihren bereits sanft gewölbten Schoß legte und mir erklärte, wie sich das Kind rege und bewege.


Genau das will rachamim ausdrücken, das hebräische Wort für Barmherzigkeit. Dessen Wurzel ist rechem, das heißt Mutterschoß. Es ist die Erfahrung einer werdenden Mutter, die ein Kind in ihrem Schoß trägt, die tiefe Verbundenheit, alle damit verbundenen Gefühle selbstloser Liebe, Zärtlichkeit, Sorgfalt, Zuneigung und Güte. Niemand ist einander näher als eine Mutter und das Kind unter ihrem Herzen. Es gibt unter Menschen keine ursprünglichere Erfahrung liebender Verbundenheit als diese zärtliche Einheit. Das Alte Testament schreibt alle diese „Gefühle“ Gott zu. Barmherzigkeit offenbart somit vom Wortstamm her die mütterliche, die weibliche Seite Gottes.

Genau darauf zielt das Jahr der Barmherzigkeit: dass Menschen die unmittelbare und bedingungslose Zuwendung Gottes erfahren, auch und gerade im Handeln der Kirche. So war beispielsweise die Lossprechung in der Beichte für eine Frau, die eine Abtreibung durchgeführt hatte, immer einem Bischof vorbehalten. Franziskus hat diese Vollmacht für das „Jahr der Barmherzigkeit“ allen Priestern erteilt. Es ist ihm damit etwas gelungen, was der katholischen Kirche zumal in Fragen des Lebensschutzes so schwerfällt: dem einzelnen Menschen in seiner persönlichen Situation mit Liebe zu begegnen und ihm gerecht zu werden, ohne damit den Grundsatz aufzugeben, dass das menschliche Leben von der Empfängnis bis zum Tod unantastbar ist.

Franziskus unterläuft jenes kirchliche Schwarz-Weiß-Denken, das entweder nur die strenge Sitte und Moral oder den völligen Relativismus und sittlichen Verfall kennt. Er lebt das Wort, das Jesus angesichts der „Sünderin“ gesagt hat, die man ihm vorgeführt hatte: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.“ Als sich nach und nach alle widerwillig, aber sozusagen alternativlos, aus dem Staub machen, sagt Jesus: „Dann will auch ich dich nicht verurteilen. Gehe hin und sündige nicht mehr“ (Joh 8,1–11). Diesem Vorbild folgend sagt Franziskus, die Priester müssten für betroffene Frauen „Worte der echten Annahme“ finden – verbunden „mit einer Reflexion, die hilft, die begangene Sünde zu begreifen“.


Für Franziskus steht an erster Stelle, dass Frauen, die abgetrieben haben, die Vergebung Gottes nicht verweigert werden darf. Er übersieht dabei nicht, dass die veränderte Beziehung moderner Gesellschaften zum Leben – ob am Anfang oder am Ende – aus Sicht der Kirche schwerwiegende Fragen aufwirft. „Das Drama der Abtreibung wird von manchen mit einem oberflächlichen Bewusstsein erlebt“, schreibt er. „Viele andere dagegen, die diesen Moment zwar als Niederlage erleben, meinen, keinen anderen Ausweg zu haben.“ Er denke an die Frauen, die eine Abtreibung vornehmen ließen, und wisse um den Druck, der sie zu dieser Entscheidung geführt habe. „Ich weiß, dass es ein existenzielles und moralisches Drama ist“, sagt Franziskus und betont zugleich, er sei vielen Frauen begegnet, „die in ihrem Herzen die Narben dieser leidvollen und schmerzhaften Entscheidung trugen“.

Ich habe als Bischof selbst solche Erfahrungen gemacht, wie junge Frauen buchstäblich zur Abtreibung gezwungen wurden, indem man ihnen angedroht hat, sie mittellos auf die Straße zu setzen, wenn sie den Eingriff nicht vornehmen ließen. Sie kamen dann nachher zu mir und baten weinend um Hilfe und wollten, dass ich sie „um Gottes und seiner heiligsten Mutter willen“ von ihrem tief liegenden Schock und ihrer Schuld befreie. Manchmal sagte mir eine Frau, dass sie in der Nacht schweißgebadet aufwache, weil sie Albträume habe und ihr Kind schreien höre. Ein grausames Schicksal, das Frauen nie mehr wegstecken können. Ich habe jedes Mal mit ihnen gebetet und ihnen gesagt, dass Gott sie ganz sicher nicht verdamme und nie aufhöre, sie zu lieben. „Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt; darum habe ich dich an mich gezogen aus lauter Gnade“, lesen wir beim Propheten Jeremia (Jer 31,3). Ich legte ihnen die Hände auf und sprach die sakramentale Lossprechung.


Ich fragte mich allerdings, in welchem Maße eine solche Frau subjektiv, also in dieser ihrer schaurigen Grenzsituation, tatsächlich Schuld auf sich geladen hat. Es brachte mich jedes Mal in Rage, wenn ich an die wirklich Verantwortlichen für all dieses Leid von Frauen und den Tod ihrer ungeborenen Kinder dachte. Kein Mensch belangt diese gemeinen Typen. Sie selbst tun so, als ob absolut nichts geschehen wäre. Sie sind die eigentlichen Verbrecher! Aber von denen kommt niemand zum Bischof und bittet um Absolution.

Ein ähnliches Signal der Barmherzigkeit setzte der Papst durch den erleichterten Zugang zur Annullierung einer Ehe. In einem Ehenichtigkeitsverfahren geht es um die amtliche Feststellung, ob bei den betreffenden Partnern eine gültige Ehe im katholischen Sinne überhaupt zustande gekommen sei. Mögliche Gründe für eine ungültige Ehe können Formfehler bei der Eheschließung sein, vor allem aber Willensmängel oder Erkenntnismängel. Ein Willensmangel liegt etwa vor, wenn ein Partner von vornherein einen Kinderwunsch ausschließt, ein Erkenntnismangel, wenn etwa einem der Partner nicht bewusst ist, dass eine Ehe nach katholischem Verständnis unauflöslich ist.


Bei uns in Lateinamerika kommt als Ehehindernis auch ganz besonders der äußere oder innere Zwang dazu. Schwarz auf weiß heißt es im Kirchenrecht: „Ungültig ist eine Ehe, die geschlossen wurde aufgrund von Zwang oder infolge von außen, wenn auch ohne Absicht, eingeflößter Furcht, die jemandem, um sich davon zu befreien, die Wahl der Ehe aufzwingt“ (CIC Canon 1103). Wie oft passiert es in Lateinamerika, dass ein Mädchen zur Heirat gezwungen wird, weil sie schwanger ist. Der Traupriester erfährt nichts davon und beim Traugespräch wird so getan, als ob alles eitel Wonne wäre. Aus Angst wird einfach gelogen. Die Frage, ob sie (oder seltener auch er) aus freiem Willen die Ehe eingehen möchte, wird mit Ja beantwortet. Die Wahrheit kommt erst viel später ans Licht.

Ich kenne zur Genüge Fälle von Drohungen väterlicheroder sogar mütterlicherseits wie „Wenn du den Burschen nicht heiratest, werfe ich dich hinaus. Ich sehe dich nicht mehr als meine Tochter an! Ich will keine Hure in meinem Haus!“ Es ist jedes Mal ein eklatanter Fall von Ehenichtigkeit. Aber es ist meist sehr schwierig, Zeugen einzuvernehmen. Ich weiß oft als Bischof aus dem forum internum von den näheren Umständen, die zur Heirat geführt haben, aber der Weg über die Instanzen des kirchlichen Ehegerichts war immer langwierig. Es kam oft aus diesem und jenem Grund zu keinem Urteilsspruch – auch wenn ich völlig überzeugt war, dass die Ehe ungültig ist. Da stieg bei mir jedes Mal die Frage auf: Warum ist mir als Ortsbischof nicht das letzte Urteil anheimgestellt, wenn ich doch die Umstände aus allernächster Nähe kenne?!


Zu Beginn des Heiligen Jahres kam die erlösende, von mir längst erwartete Entscheidung aus Rom. Seither gilt für die Nichtigkeitserklärung einer kirchlich geschlossenen Ehe bereits das Urteil der ersten Instanz. Es muss nicht mehr, wie zuvor, jedes Urteil in einem kirchlichen Eheprozess in zweiter Instanz bestätigt werden. Zudem darf die Maximaldauer eines Ehenichtigkeitsprozesses nur mehr ein Jahr betragen. Außerdem verfügte der Papst, dass der Ortsbischof selbst dieses Amt auszuüben hat, er darf es nicht vollständig delegieren. Das ist die eine Seite. Die andere ist, dass der Ortsbischof dadurch auch gegenüber der römischen Kurie aufgewertet wird. Die ehegerichtliche Entscheidung fällt jetzt auf diözesaner Ebene – ein kleiner, aber in der Tendenz beachtenswerter Schritt weg vom Zentralismus.

Nur im Falle einer Anfechtung des Ersturteils geht das Verfahren in zweiter Instanz an den Erzbischof der jeweiligen Kirchenprovinz – in Österreich an den Erzbischof von Salzburg oder den Erzbischof von Wien. Erst wenn das Diözesangericht und das übergeordnete Metropolitangericht zu unterschiedlichen Urteilen kommen, entscheidet in dritter und letzter Instanz die Rota Romana, der Berufungsgerichtshof im Vatikan.

Der Einwand von Kritikern, dass die Nichtigkeitserklärung einer Ehe von den betroffenen Partnern immer auch eine gewisse Selbstverleugnung verlange, ist teilweise richtig. Sie müssen ja tatsächlich mehr oder weniger erklären, dass sie sich in ihrer Beziehung schwerwiegend getäuscht hätten, dass sie unter Zwang gestanden seien oder dass ihr Ja-Wort gleichsam nie den ernsthaften Charakter gehabt habe, den der kirchlich definierte Wille zur Ehe verlange.


Wichtig scheint mir trotzdem, dass die Richtung stimmt. Zum einen durch die Dezentralisierung und zum anderen durch das neue Verständnis, wie die Kluft zwischen dem Sakrament, dem kirchlichen Recht und der vom Evangelium gebotenen Barmherzigkeit kleiner werden könnte. Zur statistischen Einordnung: 2013 wurden weltweit rund 47.150 Ehen für nichtig erklärt – bei insgesamt 71.800 abgeschlossenen Verfahren. Davon entfielen mit 24.600 mehr als die Hälfte der annullierten Ehen auf die USA.

Franziskus will eine Kirche, die in zweifacher Hinsicht näher bei den Menschen ist. Was vor Ort entschieden werden kann, soll auch dort entschieden werden. Erst wenn dezentral keine Einigung erzielt werden kann, entscheidet in allerletzter Instanz Rom. Das Zweite ist: Weil menschliches Leben brüchig und unvollendet ist, muss die Barmherzigkeit gegenüber dem Recht wieder mehr Gewicht bekommen.

Ein Detail am Rande: Über den juristischen Schatten ist Franziskus auch gegenüber der traditionalistischen Piusbruderschaft gesprungen. Überraschend ordnete er an, dass im Heiligen Jahr alle Katholiken das Sakrament der Versöhnung, die Beichte, auch bei Priestern der Bruderschaft Sankt Pius X. gültig und erlaubt empfangen können. „Ich vertraue darauf, dass in naher Zukunft Lösungen gefunden werden können, um die volle Einheit mit den Priestern und Oberen der Bruderschaft wiederzugewinnen“, schrieb Franziskus.


Bislang ist die Spendung von Sakramenten durch die Priester der von Rom getrennten Bruderschaft nach katholischem Kirchenrecht gültig, aber nicht erlaubt. Für die Beichte macht Franziskus im „Heiligen Jahr der Barmherzigkeit“ eine Ausnahme. Vielleicht darf man auch darin eine grundsätzliche Haltung dieses Papstes sehen: dass mehr Ausnahmen die Regel bestätigen, weil nicht alles Leben über einen einzigen kirchenrechtlichen Leisten geschlagen werden kann.

Was uns die Heilige Schrift sagt:
Drei Lebensregeln aus der Bibel

Mein Joch drückt nicht und meine Bürde ist leicht (Mt 11,30)

Das Evangelium ist eine Botschaft, die nicht unterjocht, sondern aufrichtet. Ich muss mich nicht erdrücken lassen, weder von den Bürden des Alltags noch von dem Joch, das andere – welche Autoritäten auch immer – mir auferlegen wollen. Ich bin dazu berufen, Jesus nachzufolgen, und ich darf den aufrechten Gang gehen.

Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet (Mt 7,1)

Es ist eine klare Forderung der Nächstenliebe, dass ich auf andere Menschen in aller Offenheit zugehe und ihnen ohne Urteil, vor allem ohne Vorurteil begegne. Papst Franziskus hat diese christliche Grundhaltung des „Richtet nicht” schon in seiner ersten Pressekonferenz auf dem Flug zum Weltjugendtag in Rio de Janeiro unterstrichen. Auf die Frage, wie die Kirche zu homosexuellen Menschen stehe, sagte er: „Wenn ein Mensch homosexuell ist und Gott sucht und guten Willens ist, wer bin ich, über ihn zu richten?“


Seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist (Lk 6,36)

Barmherzigkeit fängt immer damit an, dass ich nicht wegschaue, sondern hinschaue. Und dass ich versuche, die Situation des anderen zu sehen und danach zu handeln. Die Bibel ist voller Beispiele, in denen uns vor Augen geführt wird, was Barmherzigkeit meint: der barmherzige Samariter, der nicht an dem Mann vorbeigegangen ist, der unter die Räuber gefallen war (Lk 10,25–37); der barmherzige Vater, der für seinen verlorenen Sohn ein Fest ausrichten lässt (Lk 15, 11–32).

Eine wunderbare Stelle aus dem Alten Testament steht dazu beim Propheten Jesaja, Kapitel 49, Vers 15: „Kann denn eine Frau das Kind, das sie stillt, vergessen? Und selbst wenn sie es vergessen würde, ich vergesse dich nicht. Ich habe dich in meine Hand geschrieben.” Genau darum geht es: Der barmherzige Samariter kann nicht vorbeigehen und der Vater hat seinen Sohn nie vergessen. Eindrucksvoll hat Rembrandt das in seiner „Heimkehr des verlorenen Sohnes“ (St. Petersburg 1669) dargestellt.

Habt Mut!

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