Читать книгу RELIGION - Friedens- oder Brandstifter? - Erwin Roth - Страница 8

Оглавление

2 Die Sache mit dem Lieben Gott

In der „Fachsprache” würde man hier wahrscheinlich von „Theodizee” sprechen. Im Duden lautet die Definition des Begriffs Theodizee wie folgt:

„Rechtfertigung Gottes hinsichtlich des von ihm in der Welt zugelassenen Übels und Bösen, das mit dem Glauben an seine Allmacht, Weisheit und Güte in Einklang zu bringen gesucht wird.”

Nach all dem oben Gesagten fragen wir uns: Gibt es vielleicht gar keinen Gott? Ist die Welt mit ihrem ganzen Zubehör auf irgendeine, vielleicht zufällige Weise entstanden? Sind wir an den Zuständen auf der Welt selber schuld? Ja, das könnte so sein; ich könnte das Gegenteil nicht beweisen. Auf der Suche nach Antworten müssen wir vielleicht etwas ausholen.

Der Biochemiker Prof. Dr. Gottfried Schatz legt in einem bemerkenswerten Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung vom 20. Dezember 2014 dar, wie das Leben im Rahmen der kosmischen Entwicklungen entstanden sein könnte. Was die Situation vor dem Urknall angeht, schreibt er:

„Vor dem Urknall steht ein Fragezeichen, das sich der Wissenschaft entzieht. Wer in diesem Fragezeichen einen göttlichen Schöpfer sieht, hat das Fragezeichen für sich beantwortet. Mir jedoch genügt das Fragezeichen.“

Das ist die Antwort eines Wissenschaftlers, aus welcher Bescheidenheit und Demut vor der Grösse der Natur, des Weltalls und allem damit Zusammenhängenden spricht – und zugleich Respekt vor anderen Ansichten.

Wenn ich in einer klaren Nacht zum Sternenhimmel hinaufschaue und versuche, mir die ungeheuren Dimensionen des Weltalls vorzustellen, sein Werden und sein Vergehen, wenn ich dann an den Mikrokosmos denke bis zu den Teilen eines Atoms hinab, dann will mir die Vorstellung der zufälligen Entstehung des Universums nicht mehr recht einleuchten. Da steckt zu viel „System“ dahinter. Die Entstehung des Kosmos, seine Funktionsweise und seine Weiterentwicklung, die „unglaubliche“ Formen- und Farbenvielfalt der Lebewesen, ihre Lebensvielfalt, all das sind Dinge, die ich mir nicht als Zufallsprodukte vorstellen kann, denn jedes einzelne dieser Wesen ist ein vollkommen sinnreich konstruiertes, fehlerfreies System, das wiederum in einem Gesamtsystem von höchster Vollkommenheit seinen Platz hat. Zufall funktioniert anders, chaotisch. Deshalb ziehe ich auch die Theorie von Prof. Schatz über das zufällige Entstehen des Lebens in Zweifel, denn dieser Zufall wäre ein ausserordentlich unwahrscheinlicher, weil das Ergebnis ein ausserordentlich komplexes und zugleich perfektes ist. Mit jeder Zunahme der Unwahrscheinlichkeit dieser Zufälligkeit automatisch verbunden ist die Zunahme der Wahrscheinlichkeit, dass es anders, nicht zufällig geschehen sein könnte.

Was für ein ausgeklügeltes System unsere Natur ist, zeigt sich immer dann am deutlichsten, wenn menschliche Eingriffe ein Ungleichgewicht verursachen. Ich komme daher nicht um die Vorstellung einer ungeheuren, unvorstellbaren Macht herum, denn wie könnte es ohne eine solche alles das geben, was es gibt? Ich gebe zu, die „Vorstellung von etwas Unvorstellbarem“ ist ein Widerspruch, aber es fällt mir kein passenderer Begriff ein. Solche Widersprüche sind charakteristisch für die Frage, vor der wir stehen.

Nur ein kleiner Nebengedanke: Die Meeresfauna – da gibt es eine dermassen unglaubliche Vielfalt an Formen und Farben, dass ich mich manchmal frage, ob da nicht jemand Freude gehabt haben könnte, eine so vielgestaltige, phantasievolle Welt zu erschaffen? Und dann gibt es einen Fixstern Namens Beteigeuze im Sternbild Orion. Dieser hat einen Durchmesser von etwa einer Milliarde Kilometern, was etwa der 3000fachen Distanz Erde - Mond entspricht oder einem Volumen unseres Sonnensysems von der Sonne bis und mit Jupiter. Als Gegensatz dazu stellen wir uns das Wunder der Schneeflocken vor, von denen jede einzelne ihre eigene Form besitzt. Oder jene lästigen, winzigen Mücken, die im Sommer und Herbst unsere Küchen als unerwünschte Gäste heimsuchen. Obwohl wenig grösser als einen Millimeter, sind sie ein komplexes und vor allem perfektes System, das alle jene Organe enthält, die ihr Mückenleben ermöglichen. Sie können offenbar sehen, nehmen Luftdruck wahr, essen, verdauen, vermehren sich und – können fliegen! Ihr Schöpfer war unsern Wissenschaftlern in Sachen Nanotechnologie schon vor Millionen Jahren weit voraus. Zudem ist es der Natur immer gelungen, die Anforderungen der Funktion in eine perfekte Form zu bringen, ein Anliegen, um das unsere Architekten oft erfolglos ringen. Die lange Zeit, über die hinweg sich dieses Universum entwickelt haben soll, reicht mir nicht als Erklärung. Uns bleibt nur das Staunen.

Aber wie ist diese Perfektion mit den Feststellungen in Kapitel 1 auf einen Nenner zu bringen?

Ich habe nie aufgehört, die Existenz einer göttlichen Allmacht, der alles sein Werden und Vergehen zu verdanken oder – neutraler ausgedrückt - zuzuschreiben hat, für sehr wahrscheinlich zu halten. Ob man sie nun Gott, Manitou, Huitzilipochtli, Jehova oder Allah nennt, erscheint mir nebensächlich. Im frühen Christentum stellte man sich Gott als weisen, älteren Herrn mit weissem Bart vor und hielt diese Vorstellung in vielen Gemälden fest. Und so wie man sein Äusseres vermenschlichte, hat man menschliche Vorstellungen in seine Handlungsweise, seine „Denkweise“ hineinprojiziert. Man tut es noch heute; vermutlich können wir nicht anders. Er muss barmherzig sein, muss uns helfen, wenn wir in Not sind, sonst erfüllt er seine - ihm von uns zugedachten - Pflichten nicht (Thürkauf: „Gottes Treue ist bedingungslos…”). Und er muss unsere Massstäbe hinsichtlich Gerechtigkeit anwenden, sonst ist er kein gerechter Gott. Die offensichtliche Diskrepanz zwischen der Idealvorstellung dieses gerechten, liebenden Gottes und der Wirklichkeit hat in den christlichen Religionen vermutlich zu Einrichtungen wie Himmel und Hölle, Teufel, Fegefeuer und jüngstes Gericht geführt, denn irgendwie muss das Ganze ja einleuchten, und irgendwann einmal muss Gerechtigkeit geschaffen werden. Das ist eine simple Logik. Doch sie geht nicht auf.

Die Menschen des Altertums haben dieser Tatsache mit der Einrichtung eines von mehreren Göttern mit verschiedenen Zweckbestimmungen bewohnten Himmels Rechnung getragen. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass alle diese Gewalten und Systeme in der Hand einer einzigen Gottheit liegen könnten, und teilten sie in Bereiche auf, die sie verschiedenen Göttern zuordneten. So ganz unsinnig war das eigentlich nicht. Die Hindus mit ihren zahlreichen Gottheiten sehen es ähnlich. Ein wenig davon ist auch im Christentum verblieben mit der Institution der Heiligen Dreifaltigkeit, mit der Mutter Maria, Jesus als Sohn Gottes und den vielen Heiligen. Jeder dieser himmlischen Persönlichkeiten werden besondere Eigenschaften und Fähigkeiten zugeschrieben. So zieht man es in gewissen Situationen vor, sich an die liebevolle, milde Mutter Maria statt direkt an den gestrengen Herrn und Richter Gottvater zu wenden.

Angesichts des Sternenhimmels, dieser wohl gewaltigsten Demonstration schöpferischer Allmacht, will es mir scheinen, dass hier andere Kräfte und Dimensionen am Werk waren und noch sind, als ein freundlicher, älterer Herr mit weissem Bart und anderen menschlichen Eigenschaften. Und es fällt mir schwer, zu glauben, dass wir Menschen, einjeder mit seinen ganz besonderen Sorgen und Kümmernissen, im Zentrum dieses unendlichen Universums stehen und darin eine sehr bedeutungsvolle Rolle spielen könnten. Wir können uns nicht vorstellen, wo da ein Zentrum liegt, weder wo dieses Universum anfängt noch wo es aufhört. Ein bisschen verloren kommen wir uns da schon vor. Einstein soll einmal gesagt haben, „der Raum krümmt sich in sich selbst zurück“. Also eine Art Schneckenhaus? Für mich ist das wenig hilfreich; das Weltall ist für mein Begriffsvermögen einfach zu gross, viel zu gross. Genau wie der, welcher es geschaffen hat.

Die im Weltall herrschenden kosmischen Gesetze bringen mich auf den Gedanken, dass „Gott“ Gesetze und Regeln festgelegt haben könnte, nach denen all das abläuft, was läuft. Wir nennen das „Naturgesetze“. Könnte es denn vielleicht sein, dass er nicht nur das festgelegt hat, was wir als Naturgesetze bezeichnen, sondern dass diese weiter reichen, als wir allgemein denken? Dass er Spielregeln für alles festgelegt hat, vom Kosmos bis zum Atomteilchen, aber nicht nur für Physik und Chemie, sondern – vielleicht über dieselben - auch für die Prozesse der Evolution, des Lebens, der Triebe, der Psychologie, schlicht für alles, bis hin zum Tod? Erstaunt stellen wir fest, dass auch im Mikrokosmos, also am andern Ende der Skala, alles nach strengen Gesetzmässigkeiten abläuft. Da gibt es beispielsweise die Hormone, die unsere Vitalität steuern. Und die Gene, die unsern Charakter, unsere Eigenschaften bestimmen. Die Wissenschaft pflegt jeweils zu jubeln, wenn es ihr gelingt, wieder eine dieser Spielregeln aufzudecken und wirtschaftlich nutzbar zu machen. Warum sollen diese Gesetzmässigkeiten und Spielregeln nicht auch für den Teil des Kosmos gelten, in dem wir Menschen uns befinden und aus dem wir bestehen? Das tönt fatalistisch. Aber eigentlich würde die Darwin’sche Evolutionstheorie gar nicht schlecht in diese Vorstellung hineinpassen. Sie umfasst einfach nur einen begrenzten Zeitabschnitt der ganzen Entwicklung. Aus dieser Sicht erhielte sie sozusagen Religionskompatibilität und zugleich einen grösseren Rahmen. Aber Darwin hat diesen Rahmen schon vorausgedacht. Am Schluss seines Werkes schreibt er: „Es ist doch eine erhabene Idee, dass der Schöpfer den Keim alles Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder gar nur einer Form eingehaucht hat, und dass aus einem so schlichten Anfang eine unendliche Zahl der schönsten und wunderbarsten Formen entstand und noch weiter entsteht.” Schöner könnte man es wohl kaum ausdrücken. Wobei ich einzig das „eingehaucht hat” durch „…haben könnte” ersetzen würde. Es ist übrigens interessant, dass zur vielseitigen Ausbildung dieses Charles Darwin, der der Kirche so viel Kummer und Kopfzerbrechen bereitete, auch Theologie gehörte….

Am 22. Oktober 1996 richtete Papst Johannes Paul II eine längere Botschaft an die Päpstliche Akademie der Wissenschaften, in welcher er zu den jüngsten Erkenntnissen der Wissenschaft in Bezug auf die Evolutionstheorie Stellung nahm. Es ist eine gewundene Epistel mit dem unverkennbaren Ziel, die unantastbare Richtigkeit des Bibeltextes und damit die Autorität der Kurie letztendlich doch über die Erkenntnisse der Wissenschaft zu stellen. Schliesslich scheiterte der Papst an der Schwierigkeit, den Brückenschlag zwischen Religion und Wissenschaft auf überzeugende Weise zu vollziehen.

Im Oktober 2014 äusserte sich Papst Franziskus zu diesem Thema. Für ihn stehen die katholische Lehre und die wissenschaftliche Evolutionstheorie nicht in Konflikt miteinander. Evolution in der Natur sei kein Gegensatz zur Überzeugung von einer göttlichen Schöpfung. Der Urknall werde heute als Ursprung der Welt angesehen, und er widerspricht der kreativen Intervention Gottes nicht, sondern setzt sie im Gegenteil voraus. (Spiegel 29.10.2014). Das ist ein kluger Annäherungsversuch, aber er lässt viele Fragen offen.

Natürlich wirft die Möglichkeit festgelegter Gesetzmässigkeiten die Frage nach dem freien Willen und der Verantwortung für unsere Willensakte auf. Wo haben diese in diesem System Platz? Haben wir denn wirklich einen freien Willen, wenn alles durch diese Gesetzmässigkeiten festgelegt ist? Entsprechen unsere freien Entscheide dem Willen Gottes oder folgen sie dem unsrigen oder beiden zusammen, indem auch unser freier Wille die Folge des universellen Systems ist?

Jetzt wird es schwierig. Angenommen, der freie Wille sei gar kein solcher, sondern - im Sinne des dargestellten Prinzips von zwingenden Spielregeln - eine Folge festgelegter Gesetzmässigkeiten resp. der durch diese ausgelösten komplexen Vorgänge. Der Sachverhalt, über den wir entscheiden, wurde zwar durch andere Umstände, Entscheide und Spielregeln herbeigeführt, alles im Sinne der Spielregeln. Und jetzt, wo die Fakten vor uns liegen, denken wir, wir seien frei im Entscheiden. Aber schliesslich sind unsere Entscheide die Konsequenz aus allen unseren individuellen Veranlagungen – die durch die Spielregeln Gottes festgelegt wurden - und deren inhärentem Entscheidungssystem. Und deshalb kommt es immer wieder vor, dass verschiedene Menschen bei objektiv identischem Sachverhalt anders entscheiden, weil sie verschiedene Veranlagungen haben, anders „programmiert” sind und die Lage deshalb subjektiv anders beurteilen. Und darum gibt es nicht nur Meinungsverschiedenheiten, sondern auch Kriege und Kriminalität, denn Gott hat uns auch den Selbsterhaltungstrieb (Egoismus, Geltungstrieb, Machtgier, Misstrauen), den Fortpflanzungs (Sexual)trieb und andere Eigenschaften im Sinne von Spielregeln in sehr unterschiedlichen Dosierungen mit auf den Weg gegeben. Diese Eigenschaften sind zwar grundsätzlich lebensnotwendig, doch wenn im Übermass vorhanden, können sie als mitentscheidende Faktoren zu den erwähnten Auswüchsen führen. Wenn der Löwe die Antilope frisst oder die Katze den Vogel, dann sind das auch Auswirkungen der Naturgesetze und Spielregeln, obwohl das für die Antilope und den Vogel unerfreulich ist, weil es ihrem Selbsterhaltungstrieb widerspricht.

Was aber würden solche vorgegebenen Gesetzmässigkeiten und Spielregeln in Bezug auf unsere Verantwortung für unsere Handlungen bedeuten, für unser Verschulden und unsere Verdienste? Der Neurowissenschafter David Eagleman nimmt in einem Interview zu dieser Frage wie folgt Stellung:

”Alle Nervenzellen sind miteinander verbunden, sie werden von anderen Neuronen angesteuert, und die steuern wiederum andere Nervenzellen. Das Netzwerk ist unvorstellbar komplex, aber es ist ein Netzwerk, also mechanisch – und um einen davon freien Willen zu haben, müsste es etwas Übergeordnetes geben. Es gibt keinen Hinweis, dass es so eine Instanz geben könnte.” (Magazin Tages-Anzeiger 29. April 2017).

Zu beachten: Er sagt nicht, „Es gibt keine solche Instanz”, sondern „Es gibt keinen Hinweis, dass…” Von der Seite der Neurowissenschaften herkommend steht Eagleman vor genau derselben Frage wie wir und kommt zu ähnlichen Antworten.

Das ist vielleicht eine gefährliche Gedankenspielerei, weil sie zum Schluss führen könnte, dass wir keine Verantwortung tragen, weil ja alles seinen gesetzmässigen Lauf nimmt. Eagleman meint denn dazu auch:

„Die Frage, ob jemand Schuld hat oder nicht, ist aber sinnlos. Es sollte vor Gericht nur darum gehen, wie gross die Wiederholungsgefahr ist. Die

wichtige Frage lautet: Ist die Person gefährlich?…. Wir sollten ein vorwärtsgerichtetes Gerichtssystem entwickeln. Wenn einer eine Straftat begangen hat, kommt er dafür x Jahre ins Gefängnis. Vorwärtsgerichtet würde heissen: Warum bist du straffällig geworden, was ist mit deinem Gehirn los? …. Es wäre besser, wenn Urteile vor Gericht individuell gesprochen würden. Der eine hat Schizophrenie, der andere ist ein Psychopath, wieder ein anderer ist drogenabhängig – und für jeden gäbe es eine andere Rehabilitationsstrategie. Es gibt intelligentere Lösungen, als Menschen einzusperren.”

Und wie stünde es um unsere hart erarbeiteten Erfolge, unsere guten Taten, unsere Verdienste, für die wir Anerkennung und Lob erwarten, wenn diese nicht durch unseren Willen, unseren Fleiss und unsere Intelligenz, sondern durch eben diese vorgegebene Gesetzmässigkeiten und Dispositionen des Netzwerks der Neuronen herbeigesteuert wurden?

Eine dieser Spielregeln ist anscheinend das zwingende Prinzip „Werden – Sein – Vergehen“. „Alles, was entsteht, vergeht“. Das ist eine ebenso sehr banale wie unumstössliche Tatsache. Auch Kulturen, Staaten, Ideologien, Religionen, ja sogar ganze Himmelskörper vergehen. Auf welche Weise sie vergehen, ist dem Spielleiter offenbar weniger wichtig. Gott „regelt“ nicht den Einzelfall, sondern bestimmt die Spielregeln. Der, welcher die Spielregeln festgelegt hat, spielt selbst vermutlich nicht mit, abgesehen von gewissen, von den Spielregeln abweichenden „Wundern“, die wir uns nicht erklären können. Dass es dabei zu (für uns) schmerzhaften Kollisionen zwischen einzelnen Spielregeln kommen kann, liegt auf der Hand. Jene des Selbsterhaltungstriebes, des Wunsches nach einem intakten sozialen Umfeld prallt oftmals brutal mit der des Vergehens zusammen, und es obsiegt am Ende unausweichlich – wiederum Spielregel – der Grundsatz des Vergehens, hinter dem in unserem Fall der Tod steht. Wir müssen also wohl annehmen, dass Gott Kriege, Kriminalität usw. in Kauf nahm. Das Alte Testament bestätigt diese Annahme. Vielleicht wollte er, dass wir uns eines Tages selbst ausrotten. Auch das ist eine Art des „Vergehens“. Es deutet einiges darauf hin, dass auch die Menschheit diesem Prozess unterworfen ist, siehe unsere erwähnte Ohnmacht gegenüber der drohenden Klimakatastrophe, der Bevölkerungsexplosion, der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich usw.

Es könnte aber auch ganz anders sein. Der schöpferischen Allmacht, die wir Gott benennen, könnte es auch eingefallen sein, gerade hier von ihren selbst festgelegten, zwingenden Spielregeln abzuweichen und mit uns den einmaligen Versuch eines vernunftbegabten Wesens zu wagen, das in der Lage ist, die Geschehnisse kraft des eigenen Verstandes zu beeinflussen. Untrennbar mit der Vernunft verbunden sind das Gewissen und die Lernfähigkeit. Leider hat er uns all die andern, oben aufgeführten Triebe gelassen, sodass in der Vorbereitung der menschlichen Handlungen der Verstand vielfach diesen andern Trieben unterliegt. Vielleicht dachte er sich, dass wir aus den immer schrecklicher werdenden Kriegen irgendwann unsere Lehren ziehen werden, doch könnte es sein, dass er uns da ein wenig überschätzt hat.… Was er wirklich will, weiss nur er. Aber so liesse sich wenigstens halbwegs erklären, weshalb sich auf der Erde immer wieder solche Gräuel ereignet haben und wohl weiterhin ereignen werden, ohne dass Gott eingreift. Man muss deswegen nicht an seiner Existenz zweifeln. Man muss nur damit aufhören, ihm menschliche Massstäbe zuzuordnen und von ihm bestimmte Handlungsweisen zu erwarten.

Eine andere Frage ist es, ob diese Allmacht, die das Ganze in Bewegung gesetzt hat, überhaupt noch existiert, oder ob sie mit der Schöpfung des Systems in diesem aufgegangen ist und dieses nun nach vorgegebenen Mechanismen abläuft, oder ob Gott doch ab und zu persönlich eingreift. Wir wissen es nicht.

Diese „Spielregeltheorie“ weiter gedacht würde bedeuten, dass jede Bewegung, die wir machen, jeder Flügelschlag einer Stubenfliege, das Produkt vorgegebener körperlicher, geistiger und seelischer Dispositionen ist, die wiederum aufgrund einer oder mehrerer Spielregeln aus früheren Dispositionen – vielleicht unserer Eltern – entstanden, also auf lange Sicht geplant sind. Somit würde immer feststehen, was wann passieren wird. Das würde auf eine Art Fatalismus hinauslaufen.

Unsinn, wird man einwenden, das ist gar nicht möglich, dass es solche Spielregeln gibt, die jeden Einzelfall steuern. Das ist gar nicht vorstellbar. Zumindest übersteigt es unser Vorstellungsvermögen. Aber ein Gott, der immer zugegen ist, im Weltall und auf der ganzen Welt, bei jedem einzelnen von über sieben Milliarden Menschen, und der dazu auch noch die unzählbaren Tiere betreut, der die Dinge laufend und überall im Griff hat, „ad hoc“ regelt oder zulässt, der über die Verdienste und Missetaten jedes Einzelnen Buch führt und abschliessend über dessen Endlagerstätte in der Ewigkeit entscheidet, ist denn das real besser vorstellbar? Und wie ist denn das mit dem Weltall? Auch dieses übersteigt unser Vorstellungsvermögen; dennoch existiert es. Wenn einer ein Weltall mit all seinen gewaltigen Gesetzmässigkeiten schaffen konnte, warum sollte er dann nicht in der Lage sein, auch die Spielregeln für den Ablauf auf der Erde festzulegen? Die Begrenztheit liegt nur in unserem Vorstellungsvermögen.

Gewiss, es ist ja auch denkbar, dass alle drei Systeme bestehen und zusammenwirken, das der Spielregeln, das des ad-hoc - steuernden Gottes und das des freien, verstandesgesteuerten Willens. Wiederum: Wir wissen es nicht. Daher sind das auch keine Behauptungen; für solche mangelte es ja an jeder Art von Beweisen, sondern nur Betrachtungen, Überlegungen. Noch weniger ist es ein Glaube, denn ich halte nicht im Sinne eines Glaubens daran fest; es sind einfach Gedanken, die mir die Möglichkeit eröffnen, die Existenz eines allmächtigen Gottes mit dem täglichen Geschehen auf der Erde einigermassen in Einklang zu bringen. Ich sage nur, es könnte so sein, genau wie es auch so sein könnte, wie es die Kirchen darstellen und wie es in der Bibel steht. Letzteres wünsche ich mir ganz besonders stark nach dem Tode eines lieben Menschen, den ich wiedersehen möchte. Ich wünsche es mir – aber ich weiss es nicht.

Burkhard Ellegast, Abt em. des Stifts Melk und Verfasser des Buches „Der Weg des Raben“, schrieb mir einmal: „Gott ist vielleicht so ganz anders, als wir ihn uns denken können.“

Und der deutsche Theologe Dietrich Bonhoeffer, den die Nazis am letzten Kriegstag im Konzentrationslager ermordeten, sagte:

„Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht. Gott – oder wie man diese Allmacht nennen will – ist viel zu gross, als dass sie sich durch uns erfassen liesse.“

Das sind die Erkenntnisse grosser Theologen. Und in den Zehn Geboten heisst es schliesslich:

„Du sollst dir kein Gottesbild machen…“ (Ex. 20, 4).

Das Buch des Theologen Hans Küng mit dem Titel „Was ich glaube“ habe ich gelesen, weil ich wissen wollte, wie ein religiöser und so intelligenter Mensch mit diesen Widersprüchen zurechtkommt. Das Buch schliesst mit der Aussage „Ich hoffe, dass es auch für mich selbst eine Auflösung aller Widersprüche… geben wird.“ Die Widersprüche sind auch bei ihm geblieben. Er hofft. Er weiss es nicht.

Natürlich sind diese Gedanken nicht neu, sie bestanden beispielsweise bereits in der Zeit der Aufklärung unter dem Begriff „Deismus“. Vielleicht kam der römische Dichter Ovid (43 v.Chr. – 17 n.Chr.) in seinen Metamorphosen der Sache schon viel früher näher mit dem Satz: „Deus sive natura”, sei es Gott oder die Natur - es ist einerlei. Demgegenüber sind viele christliche Theologen davon überzeugt, über dieses Wissen zu verfügen, und sie geben es eifrig weiter. Sie schöpfen es aus der Bibel. Was liegt daher näher, als ebenfalls dieses Buch zur Hand zu nehmen und sich mit ihm auseinander zu setzen?

RELIGION - Friedens- oder Brandstifter?

Подняться наверх