Читать книгу MarChip und die Klammer der Angst - Esther Grünig-Schöni - Страница 3
1. Der Albtraum beginnt
ОглавлениеUnd so hatte alles begonnen …
Chip stand im Baumarkt. Das heißt, es war die Bauabteilung eines großen Kaufhauses. Er wanderte durch die Regalschluchten, suchte, sah sich seine Liste immer wieder an und strich ab, was er bereits in den Wagen gelegt hatte. Manches lag unten auf dem Rolli, weil es zu sperrig war. Die Bretter zum Beispiel, die waren zu lang. Er wollte nichts vergessen. Auch keinen Nagel. Er grinste. Ein Kumpel hatte ihm einen kleinen Lieferwagen geliehen. Abends wollte er diesen wiederhaben. So konnte er alles ohne Probleme transportieren. Ein Mainstream-Titel dudelte aus den Lautsprechern, der bestimmt die Kauflust steigern sollte. Dazwischen gab es Ansagen, Durchsagen, die neusten Angebots-Anpreisungen. Aktionen, die von der Kundschaft unbedingt beachtet werden mussten. Einmalige Sparangebote und Dinge, die jeder unbedingt erwerben sollte. Bis zum Abend musste er auf jeden Fall alles erledigt, ausgeladen und gemanagt haben. Das war ohne Probleme zu schaffen. Schließlich verfügte er über die nötige Energie. Er war zufrieden mit sich.
Einiges von dem Material war für den Umbau des Nebengebäudes bestimmt: die Bretter, Leisten, Laminat, Farbe, Kleinmaterial, Verputz und mehr. Sie waren daran, so etwas wie Pensionszimmer und eine kleine Wohnung zu gestalten. Gîtes. Praktisch, wenn sie Kunden, Freunde oder Hilfesuchende für eine Weile beherbergen wollten. Sie hatten festgestellt, dass es ein Bedürfnis gab und es sehr nützlich sein konnte. Natürlich gab es Zimmer genug in der Villa selbst. Doch etwas Absonderung war manchmal nicht das Schlechteste. Alle, die es mit ihnen zu tun bekamen, wollten sie nicht privat unterbringen und einige von ihnen waren bestimmt selbst lieber etwas für sich. Und wer wusste schon, wozu solche Zimmer und die Wohnung sonst noch gut sein konnten.
Marthe störte sich zwar nicht an den Gästen, aber ihm selbst war es wichtig geworden, dass sie ihre Privatsphäre behielten. Es gab bei ihm Zeiten, in denen er genug hatte, sich zurückziehen, Atem holen oder Dampf ablassen musste. Mit jedem Fall, den sie bearbeiteten, schien sich dieses Bedürfnis zu verstärken. Oh Schreck! Was bedeutete das? Wurde er alt? Er schmunzelte bei dem Gedanken. Wohl eher nicht. Aber jeder Fall hinterließ seine Spuren und manchmal waren die Geschichten ziemlich krass gewesen.
Die Materialliste war sorgfältig zusammengestellt. Marie hatte einige Wünsche dazu geschrieben. Er versuchte gerade einer dieser Zeilen zu entziffern und dachte daran, wie sie einander nachgerannt waren, als er ihre Schrift kopfschüttelnd bemängelt hatte. „Marie! Du musst lernen, leserlicher zu schreiben.“ „Oder du das Lesen.“
„Na dann schau mal. Hier. Das ist die reinste Mediziner-Handschrift. Was heißt das denn? Ich entziffere ‚Malusdirsel‘ … So wird das nichts. Das ist schluderig hin gekritzelt Madame.“ „Zeig her. Ich stoße dich gerne mit der Nase darauf. Wo bleibt deine Fantasie?“ „Ja die braucht man dazu. Aber wenn ich dann mit meiner Fantasie etwas Falsches liefere, kriege ich aufs Dach.“ „Angst?“
„Vor dir kleiner Furie bestimmt ja. Was heißt das nun? Das ist echt nicht zu entziffern. Und wenn ich rate, ist es bestimmt falsch. Außerdem schweift meine Fantasie gerade in andere Gebiete.“ „In welche denn?“ Er grinste herausfordernd und ließ seine Augen vergnügt blitzen. „Rate mal.“ „Ratespiele oder Entziffern? Entscheide dich.“
Sie packte ihn im Haar, als sie bei ihm war und zog ihn näher an sich heran. „Motzbruder!“ „Wie? Das heißt Motzbruder? Wo kriege ich das in dem Kaufhaus? Aua! Nicht! … Grobes Weibchen. Lass meinen Hintern in Ruhe.“ „Ich mag den aber.“ „Aber doch nicht hauen.“ „Was denn? Bei dir muss man energisch sein. Was soll ich deiner Meinung nach damit anstellen?“ „Was wohl! Verwöhnen.“
Er grinste breit, als er sich an die Folgen dieses neckischen Disputes erinnerte. Oh ja, er spürte sie, ihre… Nein! Nichts da. Er durfte jetzt hier nicht zu sehr in die Erinnerungen eintauchen. Konzentration! Allerdings machte ihm diese Zeile Mühe. „Oh, deine Schrift kleine Marie … Arg.“ Was hatte sie gesagt, was es hieß? Ach ja, jetzt wusste er es wieder. „Malerpinsel“
Er lachte laut und machte einem, der kopfschüttelnd an ihm vorbei latschte frech eine lange Nase. Wenn der wüsste, warum er gerade so vergnügt war. Er lachte wieder. Der drehte sich um und musterte ihn ärgerlich, überlegte sich bestimmt, ob er etwas gegen ihn unternehmen sollte. Warum? Chip suchte nach einem Schild „Lachen verboten“ und wurde natürlich nicht fündig. Ihn focht das nicht an. Im Gegenteil, er wiederholte die lange Nase. Wenn der meinte, sich über alles und jeden ärgern zu müssen, war das dessen Problem. Er dachte viel lieber wieder an Marie. Sie waren beide schon etwas verrückt. Er konnte sich auf jeden Fall keine andere Frau an seiner Seite vorstellen, die es mit ihm ausgehalten hätte.
„Was soll das werden?“ Der Mann stand auf einmal unvermittelt vor ihm. Er war nicht klein, nein, eher sehr groß, hatte dunkle Stoppelhaare und hochgezogene Augenbrauen. Chip grinste. „Och nichts. Mir war danach.“ „Unverschämt oder?“ „Ja, ein bisschen.“ „Weiter haben Sie dazu nichts zu sagen?“ „Nein.“
Er wandte sich grinsend ab, ging ein paar Schritte und dachte dabei nach. Nicht über den Kerl. Über Marie. Es gingen ihm da so einige Gedanken durch seinen Wirrkopf. War es nicht vielleicht Zeit, sie offiziell zu fragen, ob sie den Rest des Lebens mit ihm verbringen wollte? Seit wann war er so einer? Seltsame Überlegungen … Er wurde angestoßen. „Aber ich habe noch etwas dazu zu sagen. Ihnen sollte jemand Manieren beibringen.“ „Also, mein Herr, ich habe anderes zu tun, als Ihnen zu lauschen oder Ihre Ansichten mit Ihnen zu erörtern. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Nehmen Sie solche Dinge lockerer, dann geht es Ihnen besser.“
Er schob seinen Rolli um die nächste Regalecke. Er musste jetzt über das nachdenken, was ihm in den Kopf geraten war. Das war wichtiger als ein Gerede über fehlende oder notwendige Manieren. Dass er die nur hatte, wenn er es wollte, wusste er schon lange. Und ändern daran würde er gar nichts. Dass er manchmal zu frech war auch. Manchmal fing er sich dadurch eine ein. Na und? Es gab Wesentlicheres. Er blieb wie er war. Wem das nicht passte, sollte Bogen um ihn machen. Zu akzeptieren hatten es andere auf jeden Fall. Er passte sich nicht an. Und wenn sie motzten, er solle erwachsen werden, zuckte er die Schultern. Sollten die machen, was sie Lust hatten. Das war sowieso wieder eines dieser Allerweltsworte.
Wie kam er auf solche Gedanken wie eben? Sie mussten nicht heiraten, um zusammen zu gehören. Das war bei ihnen noch nie ein Thema gewesen. Und wenn sie es sich wünschte? Sie hatte nie etwas in der Richtung angedeutet. Mit Andeutungen konnten Männer generell nicht viel anfangen. Bei ihm war es besser, gerade heraus zu sagen, was Sache war. Sie hatte nicht – er erinnerte sich an nichts derart – und sie wusste schließlich mit ihm um zu gehen. Er verstand seine merkwürdigen Gedankengänge nicht. Was war mit ihm los? Wünschte er es sich? Er schüttelte den Kopf. „Ich will dich nie verlieren Marie!“
'Nie mehr' waren kräftige Worte. Es gab keine Garantien. Die Gedanken in ihm waren wohl wieder aus Unsicherheiten in ihm entstanden – geboren. Er wunderte sich. Was hatten sie nicht schon alles erlebt, seit sie sich begegnet waren. Wenn er einer Frau vertraute, dann Marie. Wenn er es sich mit jemandem vorstellen konnte, dann mit ihr. Seit er in der Detektei arbeitete, begegnete ihm mehr als zuvor: Schicksale, Gefahren, Geheimnisse, Bedrohungen. Auch wenn er unternehmungslustig war und es für ihn ideal war, so zu arbeiten; auch wenn er wild war, viel wagte, Tote um sich herum mochte er nach wie vor nicht. Es war sehr seltsam, wohin seine Gedanken schweiften. Sie waren gerade an nichts Gefährlichem dran. Zu viele Grübeleien. Eindeutig. "Konzentriere dich auf deinen Einkauf Chip", sagte er sich selbst.
Chip sah auf, um sich erneut zu orientieren, wo er das nächste auf seiner Liste finden konnte. Gut sichtbare Schilder wiesen ihm den Weg durch das Labyrinth der Waren, die immer mal wieder umgeräumt wurden. Wozu? Die Frage konnte er sich gleich selbst beantworten. Es ging darum, dass die Kunden, auf ihrer Suche nach dem, was sie haben wollten, auf anderes stießen, das sie neugierig werden ließen. Das war Strategie.
***
War da nicht etwas? Ein Laut. Ein Gefühl. Beklemmung. Enge. Er wachte langsam auf. Das Atmen fiel ihm schwer, so als läge etwas auf ihm. Sein Schädel brummte. Hatte er zu gründlich gefeiert? Er war sich zwar keiner Feier bewusst, aber vielleicht war es etwas Spontanes gewesen. Irgendwie war alles im Nebel, unklar, mehr noch, wie ausgelöscht. Er besoff sich nicht bis zur Ohnmacht. Und das letzte Mal, dass er zu viel hatte, lag weit zurück.
Je wacher er wurde, je mehr Bewusstsein in ihn zurück drängte, desto mehr Schmerzen tauchten auf. Nicht nur sein Kopf schmerzte. Nicht sehr ermutigend unter diesen Umständen aufzuwachen. Er nahm seinen Körper wahr und je deutlicher dies geschah, je weniger gefiel es ihm. Was hatte er angestellt? Es fühlte sich an, als habe ihn jemand verprügelt. Er erinnerte sich jedoch an keinen Streit. Noch erinnerte er sich an gar nichts. Er musste eines nach dem anderen sortieren. Noch kriegte er nicht einmal die Augen auseinander. Sie schienen verklebt wie bei einer Entzündung oder so, als habe ihm jemand etwas hinein gesprüht. War es das? Nein, da war nichts.
Die Stimme, die er nun von irgendwo her vernahm, gefiel ihm am allerwenigsten. Er versuchte ruhig Atem zu holen, während die unangenehme Stimme in seinem Kopf zu dröhnen schien. Sie war nicht laut, aber sie drang tief ein. Vor allem mochte er sie nicht. „Bist du endlich wach?“
Bekannt war sie ihm nicht. Ob er wach war, wusste er nicht mit Sicherheit. Er fühlte sich zu seltsam – unwirklich. Etwas stimmte hier ganz und gar nicht. Albtraum? He, wenn ja, dann bitte richtig wach werden lassen! Nein, das war wohl leider kein Traum. Er wusste keine Antwort und schwieg. Außerdem war er nicht sicher, ob er reden konnte. Sein Mund fühlte sich taub an, und da war ein pelziger Geschmack. Ihm fiel etwas ein. Hatte ihm jemand nicht eine Spritze in den Körper gerammt? Ihm war so. Die Stimme redete zufrieden. Richtig vergnügt klang sie. „Und? Wie gefällt dir das?“
Was denn bloß? Er sah doch nichts, zum Donnerwetter! Die Augen waren zu. Als hätte jemand Leim darüber gegossen. Mehr als ein Lichtschimmer drang nicht durch die Lider, durch die Wimpern. Das reichte nicht zur Beurteilung der Umgebung und der Situation.
„Du wirst Angst kennen lernen. Große Angst. Und Demut lernen wirst du.“
Wie bitte? Was für Ankündigungen! Erfassen konnte er das Gesagte nicht, geschweige denn verstehen. Und diese Worte passten nicht in sein persönliches Vokabular, nicht zu seiner Persönlichkeit. „Ich werde dich brechen. Sanft oder hart, je nach deinem Verhalten und der Notwendigkeit.“
Das Plappermaul musste verrückt sein. Was für einen Schwachsinn gab der da von sich.
„Ich werde deinen Willen unter meine Kontrolle bekommen. Es hängt von dir ab, wie lange das dauert und wie schmerzhaft es wird. Aber ich bestimme die Gangart, die Art und Weise. Alles. Es liegt in meiner Macht. Ich breche dich, bis du eine Marionette geworden bist und das tust, was ich von dir verlange.“
Der Blödsinn war ja zum Mäuse melken. „Darauf kannst du lange warten“, dachte er und versuchte, sich zu erinnern, was das hier zu bedeuten hatte. Alles wirkte verschwommen. Sein Gesicht brannte. Da musste er aber eine Menge eingesteckt haben. Etwas war hier ober faul. Und dann noch die Stimme, die so einen hohlen Mist von sich gab. „Du kommst nicht mehr frei, bis du mein gehorsames Produkt geworden bist.“ Damit war schon einmal klar. Er musste ein Gefangener sein. Merde! „Bis du dich selbst aufgegeben hast.“
Das wurde immer krasser. Konnte der sein Maul nicht endlich halten. War da ein Knopf, mit dem der Dreck abzuschalten war? Mieses Programm das alles. Aber nein, das Programm lief munter weiter. „Bis jede Sicherheit in dir verloren ist, nur noch die Angst dich beherrscht. Keiner wird dich finden. Vergiss gleich, dass Hilfe kommt und deine Lage beendet. Das wird nicht geschehen. Füge dich in dein Schicksal und es wird leichter für dich.“ Donnerwetter nochmal! Er fügte sich keinem Schicksal und schon gar keinem Doof. Wer war er denn!
„Wenn du dich wehrst, leidest du. Mir macht es Spaß, wenn du diese Option wählst. Ich nenne dir nur deine Möglichkeiten. Was du daraus machst, hängt von dir ab.“ Könnte der nicht einmal normal reden?
„Dich zu töten, ist mir zu langweilig. Du bist groß, stark und bestimmt widerstandsfähig. Es macht mir mehr Freude, dich auf diese Weise zu verändern, wie ich es dir beschrieben habe. Davon habe ich etwas. Das andere geht zu schnell. Dein Tod hätte mir nicht gereicht. Ein zu kurzes Vergnügen für mich.“
Das durfte alles nicht wahr sein. Was sollte das? Wie war es dazu gekommen? Der Kerl lachte irre. Eine unangenehme Gänsehaut überzog Chips Körper. Es fror ihn. Und wieder ein solches Lachen. „Ja! Wie schön! Du spürst es. Ich sehe es. Was für ein Genuss. Du reagierst darauf. Oh ja. Du wirst leidend mein Geschöpf. Es ist gut, dass ich dich nicht wie die anderen ausgelöscht habe. Schau, sieh es positiv. Du wirst ein großes, für dich ungewohntes Erlebnis haben. Angst in ihrer ergreifendsten Form, in einer Kunstform. Ja, ein Kunstwerk.“ Er steigerte sich richtig in seine Begeisterung hinein – in seinen Eifer.
„Und ich werde eines haben, das ich mir nur wünschen kann. Ich liebe es, ich brauche es. Die Macht mit dir tun zu können, was immer ich will und wann ich es will. Ich bestimme alles. Du nichts mehr.“
War der völlig am Abheben? Schrecklich. Was sollte das alles? Seine Einbildung war enorm. Sollte er seine Spielchen spielen mit wem er wollte, am besten in seiner Fantasie, aber doch nicht mit ihm. Vor allem konnte der allmählich sein Gelaber einstellen und aufhören, sich auf seine Kosten zu amüsieren.
Irgendwie konnte er sich nicht richtig bewegen, abgesehen vom eingeschränkten Sehen. Aber er war aufrecht. Wie stand er denn? Das musste die Wirkung der Injektion sein. Noch sah er weder klar, noch verstand er etwas. Es ging ihm nur alles auf den Senkel. Er wollte nach Hause und nicht hier seine Zeit vertrödeln. „Du kannst mich mal“, dachte er bei sich. Er war sich nicht sicher, ob er das nicht eben laut gesagt hatte, denn die Stimme veränderte sich, verlor das Freundliche und Amüsierte, das Verträumte. Sie wurde bedrohlich.
Wieder schauderte es ihn. Chip begann in seinen umnebelten Gedanken zu ahnen, mit wem er es zu tun hatte. Das war nicht beruhigend. Diesmal lachte der Kerl nicht. Er schien sich in seine Wut hinein zu steigern. „Du bist schuld. Darum bist du hier! Du hast mir Emily entfremdet, sie mir genommen. Du hast unterbrochen, was auf gutem Wege war.“
Die Ahnung wurde gewisser. „Du hast sie wieder stark werden lassen. Du hast damit angefangen. Sag nicht, sie war das alleine. Nein! Du warst es. Du hast ihr ihren Willen zurückgegeben und sie meiner Kontrolle entzogen. Sie ist für mich verloren. Dafür nehme ich dir alles. Du wirst es büßen. Ich bestrafe dich und du wirst es bedauern, dich eingemischt zu haben.“
Daher wehte der Sturm. Das also war dieser Unbekannte. Das war der, der Leute verschwinden ließ. Es wurde ihm klar. Es war der, der tötete und jemanden fürchterlich zurichtete, der … Nun zischte er es. „Leiden! Schmerzen! Angst vor jedem kleinen Geräusch, vor jeder Minute, vor jeder Stunde, vor jedem neuen Tag und den Überraschungen der Nächte! Angst vor jedem kleinen Flüstern, vor jedem Wort, vor der Stille, vor jedem Lichtschimmer, der in den Raum fällt, wirst du haben! Angst für dich! Befriedigung für mich!“
„Aus welchem Irrenhaus bist du denn entwichen? Was für ein perverser Spinner bist du?“ krächzte er endlich aus seinem trockenen Mund, aus der kratzenden Kehle. Ein scharfer Schlag auf seinen Rücken ließ ihn sogleich nach Luft schnappen. Ketten klirrten.
Ketten? Himmel nochmal! Schwere Ketten. Sie mussten an ihm sein. Er riss die Augen endlich gewaltsam auf und stöhnte vor Schmerz, weil das Licht wie ein Messer direkt in seinen Kopf einzudringen schienen. Aber er musste sehen, was hier los war. Er musste sich endlich orientieren. Und eigentlich hatte er überall Schmerzen. Nun war er ganz wach, spürte alles, roch alles und sah. Was er sah, war unschön. In diesem Moment wünschte er sich den Dämmerzustand zurück. Doch sein Überlebenswillen und der Bewegungsdrang gewannen die Oberhand. Er war keiner, der sich in ein Schicksal ergab. Oh nein! Das hier gab es doch einfach nicht. Es musste ein Albtraum sein.
Schmutz war das erste, das offensichtlich war; kahle Stein- und Betonwände, Gitterstäbe, Eisen, in der Höhe, sehr weit oben ein kleines vergittertes Licht. Es sah nach Keller aus und doch nicht. Ein Lagerraum, der etwas tiefer lag. Wo war er gelandet? Es stank. Er wollte sein Gesicht berühren, aber er kriegte seine Hände nicht da hin. Sie wurden gehalten. Von Ketten? Ja, er war auf eine perfide Art angekettet. Er hatte Eisen an den Handgelenken, und er spürte sie auch an den Fußgelenken. Auf diese Weise hing er an straffen Ketten in der Mitte eines … Käfigs. Wut packte ihn. Einer wagte, so etwas mit ihm zu machen? Darum war er aufrecht weggedämmert.
Über ihm und unter ihm, soweit er das sehen konnte, waren Eisenringe in die Decke und in den Boden eingearbeitet. Er war in Ketten hilflos allem ausgeliefert. Himmel nochmal, so etwas konnte man mit ihm nicht machen! Die Wut darüber überdeckte alle Schmerzen. Er versuchte, an sich herunter zu sehen. Das ging aber nur eingeschränkt. Er hatte außer seinem Slip nichts mehr an. Auf seiner Haut verteilt sah er jede Menge an Striemen. Keine Wunden, aber sonst eindrückliche Blutergüsse. Kein Wunder, dass ihm alles wehtat. Er versuchte, seine Erinnerung in Gang zu bekommen. Noch gelang es nicht richtig. Zum Donnerwetter! Er regte sich auf. Er zerrte an diesen verflixten Ketten, wütend, kräftig, versuchte es immerhin und kriegte nochmal eins ab. Der war immer noch da. Wieder lachte er – boshaft vergnügt. „Genau. Nun hast du es erfasst. Das ist deine Lage, deine Situation, in der du dich befindest, Fabien Voizinet!“
Die Erinnerung daran, wie er überwältigt worden war, kam zurück. Aus Tropfen wurde ein Strom. Das hier lief eindeutig falsch. Vorerst war er mehr als dumm dran. Erst einmal abwarten, seine Kräfte und das volle Bewusstsein wiederfinden und mit diesem dann Fluchtmöglichkeiten erkunden. In Ruhe, nicht hektisch unüberlegt, was meist zu keinem Ergebnis führte. Erst wenn er wieder dazu fähig war. Für alle Ewigkeit konnte der ihn nicht so hängen lassen. Oder doch? All seine tollen Pläne konnte sich der Kerl sonst wo hin stecken oder schmieren. Mit ihm nicht auf so eine Weise. „Also Junge, erst mal ruhig bleiben, nachdenken, Lage genauer peilen, beobachten. Handeln, sobald es erfolgreich geht“, sagte er zu sich selbst. Er war kein harmloses Lamm.
Er tat so, als ergebe er sich vorerst. Weitere Optionen hatte er nun ja nicht, so wie er es einschätzte und um in dem Ton zu bleiben, wie sich der Irre ausdrückte. Ein Studierter? Ach, das konnte ihm doch egal sein, selbst wenn der einen Hochschulabschluss hatte. Mann oh Mann. Nein, das stimmte nicht. Er musste auf alles achten. Und so hörte er auch, dass der sich entfernte, hörte seine Schritte, während er die kahlen Wände ansah. Es schloss sich jedoch keine Türe. Ganz los war er ihn vermutlich nicht. Auf einmal spürte er, dass die oberen Ketten gelöst wurden. „Ein Mechanismus außer Reichweite also.“
Seine Situation war echt beschissen. Er konnte sich nicht auf den Beinen halten. Wie er merkte, hatte er kaum Kraft in sich. Er fiel dem Boden entgegen. Auch das war schmerzhaft. Und so konnte er ein Aufstöhnen nicht verhindern. Er blieb zusammengekrümmt auf einer Seite liegen. Es war ihm speiübel und er bekämpfte als erstes den Würgedrang. Er wollte dem Kerl nicht den Gefallen tun zu kotzen. Vermutlich machte der Kreislauf schlapp. Es gab an ihm keine einzige Stelle, die nicht schmerzte. Er versuchte ruhig und tief durchzuatmen. Auch die Ketten an den Füssen hatten sich gelockert. Er bewegte einen Fuß nach dem anderen, die Arme. Es schien nichts gebrochen zu sein. Diesmal bellte die Stimme einen Befehl. „Bleib genauso! Wage es nicht, dich umzuschauen!“
Chip reagierte automatisch mit dem Gegenteil. Er war noch nie williger Befehlsempfänger gewesen. Diesmal hätte er es wohl doch besser beachten sollen. Ein paar kräftige Hiebe hintereinander trafen ihn. Tränen traten ihm in die Augen. Wut über diese Behandlung, über die Hilflosigkeit und der Schmerz selbst lösten das aus. Allmählich war es genug. Wieder dieses böse Lachen.
Beinahe gleichzeitig legte der Kerl sage und schreibe eine Decke über ihn und entfernte sich wieder. „Ruh dich aus. Ich will, dass du bei Kräften bleibst. Wenn du schon jetzt schlapp machst, habe ich nichts davon.“
Wie gnädig. Nein, es war nicht gnädig. „Ich will mich nicht mit einem Halbtoten beschäftigen. Das macht mir keinen Spaß. Ich will noch lange meinen Spaß. Du hast in dem Käfig hier alles was du brauchst. Alles außer deiner Freiheit!“ Gackerndes Lachen.
„Solange du so störrisch bist wie dich alle kennen – und ich liebe es, wenn du das bist und bleibst – solange du so schön ungezogen bist, bleiben die Ketten dran. Bei dir gehe ich kein Risiko ein. Ich weiß wie stark du bist. Nicht nur körperlich. Doch ich verspreche dir, ich finde deine Schwachstellen, egal wie lange das dauert. Hier in deinem Bereich kannst du dich trotz der Ketten frei bewegen. Lerne und es wird für dich einfacher. Bleib stur und es wird schwerer. Deine Entscheidung. Obwohl – sicher sein kannst du dir nicht. Nie. Wenn ich es mir anders überlege, töte ich dich. Vielleicht ja, vielleicht nein. Und wenn: schön langsam.“ Er lachte wie über einen gelungenen Witz. Chip hatte keine Lust mitzulachen.
„Ich genieße es doppelt, wenn du nicht lernst.“ Endlich verschwand er und diese hirnverbrannten Reden hatten ein Ende.“
Nach einer Weile versuchte sich Chip etwas zu drehen und sich aufzurichten. Der Boden war kalt und rau. Die Schmerzen verhinderten vorerst Weiteres. Sein Kreislauf normalisierte sich nur sehr langsam. Bei der geringsten Bewegung schnappte er nach Luft. Da war er in eine mehr als dumme Lage geraten. Das musste dieser Unbekannte sein, von dem Emily geredet hatte. Es war mit Sicherheit der Irre, der für das Verschwinden einiger verantwortlich war und für die schlimmen Verletzungen von Roberto, für all die perversen Grausamkeiten. Und er war nun ausgerechnet dem hilflos ausgeliefert. Keine schöne Aussicht.
Leider hatte ihr lange niemand geglaubt, es als Hirngespinst und Verfolgungswahn abgetan. Mit der Zeit hatte ja Emily selbst geglaubt, es könnte ihren Ängsten entsprungen sein. Sie zweifelte schnell an sich. Doch das hier war sehr real. Es lief gründlich schief. Er hatte der jungen Frau geglaubt, sie ernst genommen, sie dadurch etwas stärken können. Das warf der Kerl ihm vor, denn das war nicht in dessen Sinne. Er hatte seine Pläne durchkreuzt.
Irgendwie musste Chip da wieder rauskommen und zwar lebendig. Was auch immer ihm bisher begegnet war, in welche Situationen er geraten war, er hatte immer Auswege gefunden. Einfach hinnehmen kam für ihn sowieso nicht in Frage. Aber wie fing er es an? Wenn er seine Lage analysierte, fand er darauf noch keine Antwort. Welche Möglichkeiten gab es und welche Strategien versprachen Erfolg? Zuerst musste er wieder einigermaßen auf den Beinen sein, bevor er auch nur fähig war, Pläne zu schmieden.
Sein Denkvermögen war in seinem jetzigen Zustand zu eingeschränkt. Er war zu erschöpft, um Lösungen seines Dilemmas zu finden. Seine Kraft brauchte er, um die Schmerzen zu ertragen. Und dabei hatte alles so harmlos begonnen.
Die Fortsetzung der Geschichte mutierte allerdings zur Hölle. Voraussehen hatte er das nicht können. Er erinnerte sich wieder an den Unfall – eher ein Überfall – der ihn in diesen Käfig gebracht hatte. Er hatte keine Chance gehabt. Er war nicht unvorsichtig gewesen, wie es manchmal vorkam. Voraussehen war in dem Fall nicht möglich gewesen - auch nicht während des Geschehens etwas Gescheites dagegen zu unternehmen.
Mit seinem Motorrad war er unterwegs nach Hause gewesen. Nichts Außergewöhnliches vorgefallen. Wie aus dem Nichts, aus einem unscheinbaren Feldweg heraus, war ein Kastenwagen geschossen gekommen. Auch wenn Chips Reflexe gut waren und das allerschlimmste verhindert hatten, auch wenn er verstand zu fallen, hatte es ihn erwischt. Er erinnerte sich an das Aufheulen eines Motors, an keine Bremsgeräusche. Nun wusste er ja, dass es Absicht gewesen war. Auch wenn er etwas ausgewichen war, hatte ihn ein Stoß erwischt und er war hin geschliddert. Einer stieg aus. In dem kleinen Moment, in dem er noch belämmert war und geglaubt hatte, dass der nach ihm sehen wollte, um ihm zu helfen und er selbst sich seelisch vorbereitete, dem Kerl die Meinung zu seiner Fahrweise zu sagen und er die Maskierung wahrnahm, schwante ihm zwar Unheil, aber es war zu spät. Er kriegte eins über den Schädel. Womit sah er nicht und tauchte weg.
Als er in dem Kastenwagen zu sich kam, gefiel ihm das alles gar nicht mehr und er versuchte sogleich, da hinaus zu kommen. Doch ehe er richtig da war und im Vollbesitz seiner Kräfte, hielt der Blödmann schon an. Er fesselte ihn trotz Gegenwehr. Alles ging zu schnell oder er war zu langsam in seinen Reaktionen. Der Kerl trug eine Vollmaske und dunkle Kleidung – diesen schwarzen Overall, den er noch immer trug – war sehr groß und schien kräftig zu sein. Chip sah nur seine Augen glitzern. Seine Karten waren schlecht. Der sprach da noch kein Wort im Gegensatz zu später, wo er mit seinen Reden kaum noch aufhören konnte.
Als erstes wurde er, irgendwo angekommen, in eine Halle gesperrt. Es schien eine alte verlassene Fabrikhalle zu sein, in der allerlei Unrat und Überreste lagen. Stapel alter Fässer und Kisten, schiefe Regale mit deutlichen Rostspuren an den Metallen. Metallteile die herumlagen oder auf einen Haufen geworfen worden waren. Zerschlagene Fenster, zum Teil mit Pappe ersetzt. Eisenarmierungen, die aus eingebrochenen Mauerstücken ragten. Es war kein gemütlicher Ort. Der lag schon eine Weile brach.
Da wurde er festgebunden und der Kerl schlug immer wieder auf ihn ein, bis er das Bewusstsein verlor. Als er erneut daraus erwachte, rammte der ihm eine Spritze in den Körper. Chip tauchte vollständig ab.
Das Endresultat von alldem war seine momentane Lage. Er hatte diese Gefahren nicht kommen gesehen, obwohl er es sich nach allem was geschehen war, hätte denken können. So ein Mist aber auch! Ließ er nach? Mit all diesen Gedanken schlief er auf dem kahlen Boden erschöpft ein.