Читать книгу MarChip und die Klammer der Angst - Esther Grünig-Schöni - Страница 4
2. Emily
ОглавлениеDa stand er in dem Baumarkt und sah sie über die Liste hinweg - eine junge Frau mit dunklen Haaren, die sich lockig bis über die Hälfte ihres Rückens kringelten.
Daran war nichts Außergewöhnliches und wäre ihm nicht weiter aufgefallen, wenn er nicht bemerkt hätte, wie sie da stand. Angespannt von Kopf bis zu den Füssen, wie gelähmt, unbeweglich und doch zitternd. Sie schien voller Angst. Auch ihre weit aufgerissenen starren Augen zeigten es. Sie stand da zwischen den Regalen, und er versuchte heraus zu sehen, was sie so verschreckte. Er fand nichts. Sie wurde wie von einer unsichtbaren Macht festgehalten. Es musste vor allem in ihrem Inneren stattfinden. Sie war schneeweiß im Gesicht und konnte sich offensichtlich nicht von der Stelle rühren. Es war mehr als Angst. Sie war in Panik. Der Grund war für ihn nicht ersichtlich. Aber die Angst schien real. Er fragte sich, ob er etwas unternehmen sollte oder nicht. Er betrachtete sie. Manche begannen zu schreien, toben, andere mussten sich übergeben oder alles zusammen. Sie war wie gelähmt. Sie stand da, stumm, gefangen in ihrer Angst. Oft wurde so etwas mit Hysterie abgetan und mit mehr oder weniger gescheiten Sprüchen kommentiert, die nichts verbesserten.
Er konnte die junge Frau nicht einfach ihrem Schicksal überlassen und so tun, als wäre nichts weiter. Er musste versuchen, den Bann zu brechen. Vielleicht nach draußen helfen? Sie schien allein zu sein. Nein, er konnte sie nicht übersehen.
Leute huschten an ihr vorbei, einige schauten kurz hin und grinsten nur, andere schüttelten den Kopf, machten Bemerkungen, lachten. Einer motzte etwas von im Weg herum stehen. Er musste es vorsichtig angehen. Wenn er sie erschreckte, indem er sie aus der Starre befreite, konnte die Reaktion unangenehm ausfallen.
Schließlich war er ein völlig Fremder und ein Kerl dazu. Das konnte Grund genug sein, heftig zu werden. Er wollte nichts verschlimmern. Je mehr er sie beobachtete, desto mehr spürte auch er ihre Anspannung. Es war ein Flitzebogen-Effekt, den er selbst nur zu gut kannte. Nicht wegen Panik, aber wegen Anspannung.
Chip verstaute seine Liste, auf der nur noch zwei Gegenstände abzuhaken waren, schob seinen Wagen mit etwas Mühe aus dem Weg. Er war im Verlauf des Parcours schwer und vor allem linkslastig geworden. Er ging zu ihr hin. Am besten fing er es mit einer harmlosen Frage an. „Kann ich Ihnen helfen?“
Gut. Das war ein profaner Satz, aber ein vorsichtiger Anfang. Fantasie war jetzt nicht unbedingt gefragt. Sie starrte weiter auf etwas und doch nirgends hin. Er wiederholte die Frage, sah sie an und drang durch, denn sie schüttelte den Kopf, aber schien weiter festgehalten. Was nun? Aufdringlich wollte er nicht erscheinen und so redete er ruhig mit ihr.
„Ich sehe, dass Sie Angst haben, dass Sie gegen die Panik ankämpfen. Oft hilft es, nach draußen zu gehen, hilft frische Luft. Ich helfe Ihnen. Dort beruhigen Sie sich, können Atem holen, dann wird es wieder gehen.“ „Ich … kann nicht.“ Er war durchgedrungen. Die Starre bestand zwar weiter, aber sie redete. „Es wird gehen.“ „Ich … sie … ich sehe sie nicht mehr, finde sie nicht. Und die Leute da sind … zu viele Leute. Meine Moni …“ Er wusste sofort, um was es ging. „Ein Kind?“ Sie nickte.
„Ihr Kind? Vielleicht hat sie etwas gesehen, das ihr gefiel und nicht darauf geachtet, dass Sie weitergingen.“ Wieder ein Nicken. „Ein kleines Mädchen. Sie ist erst Fünf. Ich kann sie nicht finden. Moni …“ „Ich finde sie. Atmen Sie ruhig durch. Ich finde sie. Wie sieht sie aus? Was hat sie an?“ „Dunkle Locken wie meine. Blaue Latzhosen, pinker Pullover.“ „Das hilft. Ich finde sie, versprochen. Kommen Sie, setzen Sie sich draußen hin und beruhigen Sie sich. Der Lärm, die Leute, die Lichter .. und Ihre Angst um die Kleine. Das ist zu viel. Sie müssen hier raus. Alles wird gut.“ Seine Stimme war sehr sanft. Sie nickte. „Zu viele Menschen.“
Er ahnte, dass ihr noch viel mehr zu schaffen machte als die Angst um das Kind. Das verstärkte jedoch alles. „Ja. Komm. Ich bringe sie dir. Versuche zu vertrauen. Ich tu‘ nichts Böses.“ Er versuchte, Nähe zu schaffen, doch er machte den Fehler, sie am Arm zu berühren, weil er sie führen wollte. Es war ein Reflex. Sie zuckte zusammen und wich zurück. Ihre Augen weiteten sich erneut und er nahm seine Hand sofort zurück. Sie ertrug Berührungen nicht. „Entschuldige. Komm, mach einen Schritt nach dem anderen, komm mit mir.“
Sie schien jünger als er zu sein. Das Gesicht hatte etwas Kindliches an sich. Durch das Du wollte er ein Gefühl der Vertrautheit erzeugen. „Sieh mich an. Schau mir in die Augen. Ich bin nicht gefährlich und ich will dich nicht bedrängen. Schau, ich mache für dich meine Fenster ins Innere meiner Seele - meine Augen - weit auf, damit du hineinsehen kannst. Ich bin Chip.“
Nun richtete sie ihre Augen langsam auf ihn. Er sah sie nur an, lächelte, und sie schien sich eine Spur zu entspannen. Ein Glück, dass er nicht zu erschreckend wirkte. Schließlich bewegte sie sich, ging noch unsicher mit ihm. Doch durch die Bewegung wuchs ihr Drang vor allen Menschen und Gefahren davon zu rennen. Sie wurde noch weißer und er war froh, als sie draußen ankamen.
Einen Moment würgte es sie, doch sie konnte es unterdrücken, setzte sich auf die Bank, die er ihr zeigte und versuchte ruhig und tief zu atmen, ohne sich dabei übergeben zu müssen. Sie wünschte sich in ihre vier Wände, in die Sicherheit ihres Zuhauses, aber sie musste auf Moni warten. Sie konnte Moni nicht hier lassen. Sie schloss einen Augenblick die Augen, war nicht weit von einem Zusammenbruch entfernt. Das aber hätte Rückschritt bedeutet. Es durfte nicht geschehen. Es kostete sie all ihre Kraft, der Panik nicht Raum zu geben. Sie dachte an die Übungen für solche Fälle. Er sah, dass es zu helfen schien. Schließlich bekam er das Gefühl, sie alleine lassen zu können.
„Ich gehe Moni suchen. Warte bitte hier auf uns. Okay?“ Sie schämte sich für ihre Panik, für all das, was ihr das Leben schwer machte. Es gab ihr das Gefühl, zu versagen, nichts wert zu sein. Dass es nicht so war, musste sie sich immer und immer wieder selbst einreden, damit sie Boden gewann. Sie nickte und er ging ins Kaufhaus.
Er ging zu der Stelle, wo er sie gesehen hatte, überlegte sich, was ein kleines Mädchen interessieren mochte und sah nicht sehr weit entfernt das Schild zu den Spielwaren. Das konnte es sein. Er ging zu den Regalen. Und in einer der Schluchten fand er ein Kind, das zu der Beschreibung passt und alleine zu sein schien. Er näherte sich vorsichtig, ging vor ihr in die Hocke, so dass er auf Augenhöhe mit ihr war und fragte sie freundlich. „Bist du Moni? Heißt du so?“
Sie sah ihn kurz an, schwieg, wandte sich wieder dem Regal zu. Es war das mit den Puppen unterschiedlicher Größe und Arten und eine ganze Reihe von Barbies. „Die gefallen dir was? Welche davon denn am meisten?“
Die Kleine streckte den Finger aus und zeigte auf eine Prinzessin-Barbie. Sie hörte ihn also, sie reagierte sogar. „Du willst nicht mit mir reden?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich sehe es. Aber Zeichen geben magst du. Dann habe ich eine Idee. Wir machen das so. Ich frage dich etwas und du nickst oder schüttelst den Kopf. Geht das so in Ordnung?“
Sie nickte. Er schmunzelte und die Kleine runzelte die Stirne. „Nein, ich lache dich nicht aus. Ganz bestimmt nicht. Bist du Moni?“ Nicken. „Weißt du, wo deine Mama ist?“ Sie sah sich um, hierhin und da hin und schüttelte dann den Kopf. Sie bekam traurige Augen, sah sich wieder um, wieder ihn an. Ihre Augen bekamen einen feuchten Glanz. Er setzte sich einfach vor ihr auf den Boden. „Ganz ruhig Moni. Alles gut. Hör zu. Deine Mama sucht dich. Bist du schnell zu den Puppen gelaufen, weil du sie magst?“ Sie nickte, schaute sich wieder um, und eine Träne rann über ihr Gesicht.
„Nein, nein, nicht weinen. Sie macht sich Sorgen, ist nicht böse auf dich. Ich bringe dich zu ihr hin, dann ist alles wieder gut.“ Sie schüttelte den Kopf und begann nun richtig zu weinen. Oh je, was nun? „Du willst nicht?“ Wieder ein Kopfschütteln. „Was können wir da tun?“ Er streckte seine Hand aus, aber sie wich einen Schritt zurück. „Ich glaube, wir haben ein Problem. Ich weiß wo sie ist. Komm …“ Kopfschütteln. „Sie kann nicht zu dir kommen. Die vielen Leute machen ihr zu sehr Angst. Es geht ihr nicht gut.“ Sie nickte. Er musste sich etwas einfallen lassen. Er konnte und wollte sie nicht einfach unter den Arm klemmen. Erstens war das bei einem Kind nicht seine Art und zweitens wurde er am Ende wegen Entführung verhaftet. „Was tun wir?“
Moni zuckte die Schultern. Er lächelte. „Sehe ich für dich böse aus?“ Sie musterte ihn und schüttelte den Kopf. „Na immerhin. Aber du magst weder mit mir reden noch mit mir gehen.“ Er kratzte sich ratlos am Kopf. „Mama sagt, ich soll nicht.“ Sofort schlug sie sich mit ihrer kleinen Hand vor den Mund und schaute ihn erschrocken an. Chip schmunzelte. „Keine Angst, ich verrate dich nicht. Aber ich bringe dich zu ihr.“ Das wollte sie nicht.
„Aber sie möchte dich gerne bei sich haben. Und du willst doch bestimmt auch zu ihr. Kennst du dich hier aus? Nein.“ „Ich soll ohne Mama nicht mit Fremden reden und mit keinem mitgehen. „Das ist auch gut so. Da fällt mir eine Lösung ein. Ich gehe auf meinen Händen vor dir und du kommst hinter mir her.“ „Auf den Händen? „Ja. So gehst du nicht mit mir mit und ich geh ja auch nicht richtig. So finden wir zu deiner Mama und alles wird wieder gut. Was meinst du?“ Sie lachte. Das ging bei Kindern schnell in die eine oder andere Richtung. Es schien ihr zu gefallen. Sie nickte eifrig. „Gut. Aber bleib schön hinter mir und verlier mich nicht.“
Sie schaute ihm erstaunt zu. Er kontrollierte erst, ob niemand hinter ihm im Wege stand oder getroffen werden konnte, machte einen halben Überschlag. Mit diesem kam er auf seine Hände zu stehen, balancierte kurz mit den Beinen aus und los ging es auf diese unkonventionelle Weise.
So kamen sie bei der jungen Frau an, die ihr Kind erleichtert in die Arme schloss und sein Tun erstaunt musterte. Er stellte sich mit einem Schwung wieder ordentlich hin und blinzelte der Kleinen verschwörerisch zu. Einige, die beobachtend da gestanden hatten, applaudierten sogar. Schließlich setzte er sich zu den beiden auf die Bank. Die junge Frau sah ihn mit ihren hellblauen Augen an. „Danke." „Gerne geschehen. Sie hat sich übrigens daran gehalten. Sie ist nicht mit einem Fremden gegangen. Der latschte, wie du sehen konntest, auf den Händen und sie ist vorsichtig hinter her.“ Er lachte.
Nun lächelte sie und in ihren Augen erschienen kleine Sterne. „Ich bin Emily. Danke für deine Hilfe. Ein wenig verrückt bist du schon oder?“ „Nein. Nicht ein wenig.“ Er lachte wieder. „Sehr verrückt bin ich. Ist die Angst etwas abgeklungen? Sie war groß.“ „Ja.“ Sie verschloss sich gleich wieder. Doch die Kleine verhinderte, dass es ganz geschah. Sie fragte mit einem Seitenblick zu Chip. „Mama, ist er noch ein Fremder?“ Diesmal wurde er von ihnen beiden ausgiebig betrachtet. Emily schüttelte nach einer Weile den Kopf. „Nein Moni. Ich denke, Chip ist in Ordnung. Du darfst mit ihm reden.“
Er deutete eine elegante Verbeugung an und grinste. Doch Moni war nun sehr ernsthaft. Chip hatte sich gerade selbst gefragt, ob er das war, was Emily gesagt hatte. Moni erklärte ihm: „Weißt du, Mama hat manchmal ganz große Angst. Wenn ich kann, helfe ich ihr, dass es nicht zu schlimm ist. Wir haben uns lieb. Bitte schimpf nicht mit ihr. Sie ist nicht … Sie muss deswegen nicht von mir weggebracht werden. Manche sagen solche Dinge, aber das ist nicht wahr. Und ich will bei Mama bleiben. Ich will nicht zu anderen Leuten. Mama ist lieb zu mir.“
Chip war durch diese paar Sätze, die über ihre Ängste, den Alltag und die Leute um sie her viel aussagten, betroffen. Er sah die Verlegenheit von Emily, aber ging auf das Kind ein. „Da gibt es nichts zu schimpfen. Ich denke so wie du darüber.“ „Viele schimpfen und sagen gemeine Dinge. Dann muss Mami weinen. Das will ich nicht und ich bin böse auf diese Leute.“ „Ach Moni, wer das tut, weiß nicht viel und versteht nichts vom Leben.“ Sie nickte. Er redete nicht so dumm mit ihr wie manche meinten, es mit einem Kind tun zu müssen. Er sah Emily an, die auf ihre Schuhe starrte, ihn nicht mehr ansehen konnte. Es machte sie verlegen, aber sie ließ das Gespräch zu.
„Mich müsste man viel eher wegsperren als deine Mama.“ Er lächelte, weil sie ihn erschrocken ansah und wandte sich an Emily. „Du erträgst zu viele Menschen um dich her nicht?“ „Ja, und mehr“, kam es nur leise „Und damit zeigst du doch viel Mut und Kraft. Du gehst in einen Laden, trotz deiner Ängste.“ „Du hast ja gesehen wie mein Versuch endete.“ Ihre Stimme klang wie die eines im Netz gefangenen Vogels.
„Eine Ausnahmesituation, weil die Kleine auf einmal weg war. Das hat dich einen Moment überfordert. Das würde doch jeder Mama so gehen.“ Sie sah auf den Boden. „Ja … Ich … muss doch. Für Moni. Für sie tu ich alles, selbst wenn es manchmal sehr schwer fällt oder kaum geht. Sie ist alles, was ich habe. Sie muss Kind sein können.“
In dieser Antwort war so viel Liebe und Verzweiflung enthalten, dass es ihn berührte. Da sie einander nicht kannten, ging er jedoch nicht weiter auf ihre Probleme ein. Er wollte nicht aufdringlich erscheinen. Er mochte so etwas auch nicht. Aber er sah, wie müde sie war. Es hatte sie sehr angestrengt. „Soll ich euch nach Hause begleiten?“ Sie zögerte nur kurz. „Das würdest du tun?“ „Ja. Wenn du mir genug vertraust und du es noch einen Moment hier aushalten kannst. Ich beende schnell meine Einkäufe, lade sie in meinen Wagen und gehe dann mit euch.“ „Wir warten.“
Chip eilte hinein. Er suchte seinen Wagen, schnappte sich die Leisten und die Rolle Tapeten, die noch gefehlt hatten, ging rüber zu den Spielwaren und packte die Prinzessen-Barbie mit in den Wagen. Die hatte Moni so gefallen. Er ließ sie an der Kasse in Geschenkpapier einpacken. Er hatte nicht wiederstehen können und hoffte sehr, dass es nicht falsch aufgefasst wurde. Er gab Emily das Päckchen und flüsterte ihr zu: „Eine kleine Freude für die Kleine. Ganz spontan und ohne Hintergedanken.“
Er hatte soweit alles erledigt. Sein Fahrzeug konnte da noch einen Moment stehen bleiben. Er wurde aufmerksam und mit Staunen im Blick betrachtet. „Danke. Du bist schwer einzuschätzen Chip.“ Noch einmal betrachtete sie den Mann von oben bis unten und schien tatsächlich nicht so recht zu wissen, was sie da für einen vor sich hatte. Als sie losgingen, beschäftigte ihn das Gesagte weiter. „Warum? Warum siehst du das so?“
„Du bist ein schöner Mann. Die meisten, die wie du aussehen, die so selbstbewusst sind, haben eher wenig Einfühlungsvermögen und keine Geduld mit anstrengenden Menschen.“ Er blieb stehen. „Du gibst etwas auf Klischees?“ „Tun wir das nicht alle mehr oder weniger?“ „Ich eher weniger. Und ich hasse es eingeordnet zu werden.“ „Du wirst es trotzdem.“
Sie wurde auf einmal rot und senkte den Blick. „Chip, ich wollte dir nicht zu nahe treten.“
„Ist schon ok. Und … ich bin selbst anstrengend und froh, wenn jemand nicht gleich schreiend die Flucht ergreift.“ Dazu grinste er schelmisch. „Und wie ich aussehe … ja, das weiß ich.“ Er lachte.
Durch dieses Lachen entspannte sie sich. Es war nicht weit bis zu ihr hin, aber selbst diese kurze Strecke kostete sie ihre letzte Kraft. Die Ängste beeinträchtigten ihr Leben sehr. Wodurch wurde das ausgelöst oder was hatte es bei ihr ausgelöst? Er wollte sich schlau machen. Er wusste, dass er sie nicht fragen durfte. Es ging ihn nichts an.
„Alleine hätte ich es heute nicht geschafft.“ Sie wandte sich etwas ab, damit er die Tränen in ihren Augen nicht sah. Doch er wusste es und wagte nun doch eine heikle Frage. „Hast du professionelle Hilfe?“ „Ich bin nicht verrückt“, kam es sogleich heftig von ihr. „Nein, das sagte ich nicht und das denke ich nicht. Ich dachte, ich hatte das zuvor schon klar ausgesagt.“
Sie atmete schnell, doch sie versuchte sich zu beruhigen. Das nahm etwas Zeit in Anspruch. „Entschuldige Chip, ich wollte dich nicht angreifen. Es ist nur … automatische Reaktion. Ich muss mir zu oft anhören – wie Moni es schon andeutete – dass ich nicht richtig im Kopf bin, dass ich in die Klapse gehöre, dass jemand wie ich nicht auch noch ein Kind haben sollte und überhaupt völlig überflüssig auf der Welt sei.“ „Wer redet solchen Scheiß?“ Er regte sich auf. „Liebe Mitmenschen und Familienmitglieder.“
„Ignoranten! Viele verstehen nichts und wollen sich gar nicht damit auseinander setzen. Sie blöken Parolen vor sich hin oder Sätze, die sie irgendwo aufschnappen. Gelaber! An denen musst du dich nicht messen. Zugegeben, ich weiß wenig darüber. Aber ich werde mich auf meinen Hintern setzen und es studieren, weil ich dem begegnet bin, weil ich dir begegnet bin. Wer nur ein bisschen nachdenkt, wer seine Gehirnzellen nicht verkümmern lässt, sagt nicht solchen Schund ins Blaue hinaus. Das Leben ist nicht schwarz oder weiß, es ist nuanciert. Menschen haben enorm viele Seiten und Vorgänge. Das kann nicht auf so einfache Nenner reduziert werden.“
Sie staunte und wandte ein. „Vielleicht Angst vor Unbekanntem und dann Rundumschlag?“ „Das auch ja. Aber die meisten interessieren sich leider für nichts Wesentliches. Gräm dich nicht. Eigentlich wollte ich nur das mit meinem Vortrag ausdrücken.“ „Ich sehe ein paar deiner Seiten.“
Er lächelte. „Oh da sind Viele. Aber … wir kennen uns noch kaum. Ich weiß. Trotzdem … deine Kleine zum Beispiel. Sie ist aufgeweckt, schlau, dein Kind, lacht, weint, sieht die Welt aufmerksam. Sie zeigt viel wie du bist. An ihr sehe ich am deutlichsten, was für ein Blödsinn solche Aussagen sind.“ „Vielleicht bist du da der einzige.“
„Das kann nicht sein. Ich sehe an dir nichts Verrücktes, an mir eine Menge. Ich sehe nur Unsicherheit und Angst. Das wird seine Gründe haben. Und … professionelle Hilfe ist Betreuung und Unterstützung bei Dingen, die man alleine noch nicht ganz meistern kann. Das kenne ich. Und das ist nichts Beschämendes. Es ist Stärke, Hilfe anzunehmen, wenn es nötig ist.“ „Ja ich habe eine solche Hilfe. Aber ich möchte mich nicht zu sehr anlehnen, mich nicht zu sehr aufstützen.“ Er lächelte wieder. „Das ist auch richtig so.“
Chip sah ihre Unsicherheiten, aber er sah auch ihre Stärke; den Willen das Leben trotzdem anzupacken. Vermutlich allerdings vor allem für das Kind und nicht in erster Linie für sich selbst. Nun gut, eine solche Beurteilung stand ihm nicht zu und möglicherweise lag er falsch. Schließlich war er kein Seelenklempner, auch wenn ihm diese Dinge nicht unbekannt waren. Er war in der Lage, so etwas einzuschätzen.
Er gestand anderen durchaus zu, dass sie es nicht konnten. Das nahm er niemandem übel. Nur, wer es nicht konnte, blieb eher still im Hintergrund und maßte sich nicht an, die Weisheit für sich gepachtet zu haben. Wer es hingegen nicht wollte und sich als Nabel der Welt ansah, redete solchen verletzenden Unsinn. Für diese junge Frau war das Leben alles andere als einfach. Sie konnte daran zerbrechen oder besonders stark werden und es hing nicht nur von ihr alleine ab, wenn auch zum größten Teil. Es half oder schadete jedoch wie die Umwelt reagierte und wie sie von ihren Bekannten und den Behörden eingestuft wurde.
In den Behörden saßen Menschen. Die einen waren engagiert und kompetent, andere waren laute Ignoranten. Je nachdem auf wen man stieß, je nachdem wie die Chemie stimmte, sah oft das Resultat der Zusammenarbeit aus. Echte Hilfe und Unterstützung oder Steine im Weg, Felsbrocken vor der Nase oder Schikanen. Das reinste Roulette bei allen Bemühungen, die richtigen Leute für diese Aufgabe zu rekrutieren. Menschen eben - mit Vorurteilen oder Offenheit, mit Sturheit oder mit Verständnis.
Da nun konnte er nicht behilflich sein und schon gar nicht ohne Auftrag. Sie schien mit der Kleinen allein zu sein. Und über das Umfeld wusste er ja nichts weiter. Er hoffte für beide, dass sie es schafften, ob er sie nun gut kannte oder nicht.
„Emily, du kennst mich nicht und ich dich auch nicht. Trotzdem biete ich dir folgendes an: Wenn etwas ist, wenn du jemanden als Begleitung brauchst oder nur zum Reden, melde dich bitte. Manchmal sind gerade dafür Außenstehende ideal. Ich gebe dir meine Karte.“ Sie schaute sogleich misstrauisch. „Ist das deine Masche, irgendwelche Kunden zu ködern? Karte?“
„Himmel nochmal!“ Es traf ihn, aber er befahl sich selbst, cool zu bleiben. „Nein, keine Masche.“ „Warum tust du es? Ich könnte dir auch etwas vormachen.“ Er grub noch in seiner Tasche nach der Karte. „Ach was!“ Er schüttelte den Kopf. „So gut kennst du die Menschen?" „Ja, ein wenig.“ „Warum? Du bist nicht alt und weise.“
Er zuckte etwas resigniert die Schultern. All diese Fragen. „Weil ich bin wie ich bin. Ich will nichts von dir. Ich bin weder gut noch böse, habe kein Helfersyndrom und keine dunklen Absichten. Sagen wir mal: Ich schau nicht weg, wenn etwas ist. Meine Partnerin ist so, mein Vater, meine Oma. Da ist nirgends etwas Außergewöhnliches oder gar Verdächtiges. Vielleicht mein Beruf? Ich habe den gewählt, weil ich bin wie ich bin. So schließt sich der Argumente-Kreis wieder. Ist das Warum so wichtig? Nimm sie und mach damit, was du willst.“
Sie sah sich die Karte an. „Detektiv?“ „Unter anderem ja. Es gibt mehrere Betätigungsfelder wie du sehen kannst.“ Wieder musterte sie ihn forschend. „War unsere Begegnung ein Zufall oder inszeniert? Hat dich jemand auf mich angesetzt? Sei ehrlich.“
Sie wirkte wieder sehr misstrauisch und eigentlich fühlte er sich gerade angesäuert durch diesen Verdacht. Er sah ihr in die Augen. „Es ist Zufall.“ „Ehrlich?“ „Ja. Gäbe es denn Gründe, jemanden auf dich anzusetzen?“
„Um mir … das Kind zu nehmen. Um mich für unzurechnungsfähig, für verrückt zu erklären. Gründe finden sich für manche Menschen immer.“ Sie verschloss sich. Ihr Gesicht, ihre Haltung drückten es aus. „Ich würde mich für solche Gründe nicht einspannen lassen.“ „Vielleicht. Detektive machen alles.“ Das waren Ansichten. Ja doch, möglich, wenn man an die Serien dachte.
Es war Zeit. Marie fragte sich bestimmt schon, wo er abgeblieben war. „Ich werde nun gehen. Mein Angebot gilt. Was du damit anfängst, ist dir überlassen.“ „Sei mir nicht böse.“ Darauf wusste er nichts zu sagen. Ihr Misstrauen traf ihn und er fand es gleichzeitig albern für einen Profi wie ihn. „Danke noch einmal für alles.“ Er nickte nur und ging nachdenklich. Die junge Frau und das Kind hatten ihn berührt.
Marie wartete auf ihn wie er es gedacht hatte. Ihre Augen blitzten ärgerlich. „Das hat aber gedauert Chip.“ Als er ihr den Grund erzählte, veränderte sich ihr Ausdruck. Ihre Gesten wurden zärtlich. Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände und gab ihm einen Kuss. „Nanu?“ murmelte er „Womit habe ich das verdient?“
„Mit deinem mitfühlenden Wesen. Deine Art. Du eben. Ich staune immer wieder neu. Mit dir ist mir ein wahrer Edelstein in die Hände gefallen. Außerdem birgst du immer wieder Überraschungen. Eine Wundertüte.“