Читать книгу Das Vermächtnis des Barons - Eugen Adelsmayr - Страница 5

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Rüdiger hatte es läuten gehört, aber absichtlich nicht abgehoben. Er hatte jetzt Wichtigeres zu erledigen und dafür nur sehr wenig Zeit. Er hatte Emilia und Viktor, den beiden treuen Dienstboten des Hauses heute freigegeben und ihnen sogar einen Restaurantbesuch spendiert. Noch vom Fenster seines Lesezimmers hatte er ihnen nachgeschaut, bis sie in den Bus gestiegen und losgefahren waren. Er wollte ganz sicher gehen, dass er die nächsten paar Stunden ungestört war. Jetzt befand er sich in den Räumlichkeiten seines Vaters im ersten Stock. Das Büro war abgesperrt, er wusste aber wo der Schlüssel lag. Lade um Lade, Regal um Regal durchwühlte er Ordner und Stöße von Papier auf fieberhafter Suche nach diesem verfluchten Testament. Obwohl er wusste, dass niemand im Haus war, der ihn hätte stören können, hatte er ständig das Gefühl nicht allein zu sein. Besonders im Schlafzimmer des alten Barons kam er sich beobachtet vor. Er beeilte sich. Das Nachkästchen, die Kleiderschränke und Kommoden waren halbleer und schnell durchsucht.

Sogar unter der Matratze sah er nach. Als er mit seiner Suche bis in den Rauchsalon vorgedrungen war, hörte er wie ein Wagen die Auffahrt durch den Garten heraufgefahren kam. Ein ungeduldiges Hupen, dann ein Klingeln und Pochen an der Tür. Rüdiger sah aus dem Fenster, fluchte und rannte hinunter. Kaum hatte er aufgesperrt, platzte Patrizia herein.

„Warum zum Teufel gehst du denn nicht ans Telefon? Isabel hat dich nicht erreicht.“

Sie war in ihrem Hausanzug und unfrisiert, den Motor ihres Autos hatte sie nicht abgestellt.

„Severin ist überfallen und dabei halb totgeprügelt worden. Isabel hat mich vorhin angerufen, er wird gerade operiert. Komm mit, beeile dich!“

Rüdiger setzte sich hinter das Lenkrad, Patrizia nahm unter Protest am Beifahrersitz Platz. Sie war außer sich und roch nach Likör. Viel mehr, als dass Severin zusammengeschlagen worden war, konnte Rüdiger während der Fahrt nicht von ihr erfahren.

Im Gang vor dem Operationsbereich saß Isabel, eine Kollegin hielt ihr tröstend die Hand. Sie verabschiedete sich, als sie Isabels Geschwister kommen sah und Patrizia übernahm ihren Platz und Isabels Hand. Rüdiger gab ihnen nur einen Augenblick, dann drängte er.

„Jetzt sag doch schon, hat es ihn schlimm erwischt?“

„Er hat einen Schädelbruch“ begann Isabel aufzuzählen, „etliche Prellungen und Blutergüsse im Gehirn und der Oberkiefer ist zertrümmert. Es ist kritisch und auch wenn er es überstehen sollte, kann man nicht sagen wie. Wenigstens hat es auch einen dieser Verbrecher erwischt!“

Patrizia begann haltlos zu schluchzen, Rüdiger stand einfach nur da und ignorierte das Läuten seines Telefons, bis Isabel ihn bat, es entweder auszuschalten oder anzunehmen. Rüdiger hob ab. Einer seiner Parteifreunde war am Apparat.

„Hast du schon von diesem Raubüberfall gehört? Finn ist gerade noch abgehauen und Nummer Zwei hat eine Kugel in den Hals abgekriegt.“

Rüdiger drehte sich weg und hielt eine Hand vor das Telefon, obwohl seine Schwestern ohnehin mit sich selbst beschäftigt waren.

„Ich dachte nur, ich warne dich rechtzeitig vor, damit du dir schon einmal überlegen kannst, wieso du diese beiden eigentlich gar nicht kennst und sie auch überhaupt noch nie gesehen hast. Der Vorstand meint, du solltest auch noch...“

Rüdiger hatte genug gehört und legte auf.

„Wer war das?“, wollte Isabel wissen.

Rüdiger schaltete das Telefon aus und schüttelte nur den Kopf.

„Wie lange sollen wir denn hier noch warten? Kannst du nicht fragen wie es ihm geht?“

„Meine Kollegen tun was sie können, jetzt zu fragen stört sie nur.“

Ungeduldig ging Rüdiger den Gang auf und ab, bis Isabel ihn bat sich endlich zu setzten. Er seufzte, nahm Platz und wippte ständig mit dem Fuß. Isabel sah im eine Weile zu, dann meinte sie, es wäre besser, wenn er nach Hause fuhr. Sie würde mit Patrizia hier die Stellung halten und ihm Bescheid geben, wenn es Neuigkeiten gab. Rüdiger hatte nichts dagegen.

Im Taxi löschte er Finns Nummer aus seinem Telefon und überlegte was außerdem noch an verräterischen Spuren zu beseitigen war. Als er Zuhause ankam, waren Emilia und Viktor schon vom Essen zurück und die weitere Suche nach dem Testament damit vorerst nicht mehr möglich. Rüdiger berichtete ihnen kurz, was Severin zugestoßen war, nahm sich aber keine Zeit für Emilias besorgte Fragen, er hatte jetzt dringendere Dinge im Kopf. Zum Nachdenken zog er sich in die Bibliothek zurück. Als es zaghaft an der Tür klopfte, reagierte er zuerst nicht darauf, auch nicht, als es beim zweiten Mal schon etwas bestimmter klang. Trotzdem ging die Tür einen Spalt auf und Emilia steckte ihren Kopf herein.

„Bitte vielmals um Entschuldigung Herr Baron, Besuch ist da. Der Herr lässt sich nicht abweisen, er sagt es geht um Leben und Tod!“

Sie ging einen Schritt zur Seite und Rüdiger sah eine breite Silhouette mit Kapuzenjacke hinter ihr stehen. Ohne ein Wort, schob Finn sie unwirsch beiseite und kam herein.

„Ihr verdammten Idioten!“ fuhr Rüdiger Finn an, noch bevor Emilia die Tür wieder ganz zugemacht hatte.

„Ihr habt den Falschen erwischt. Ihr habt meinen Bruder fast umgebracht!“

Finn ließ sich in ein Sofa fallen und griff nach einer Flasche vom Beistelltisch.

„Er lebt aber noch, soviel ich weiß. Nummer Zwei hat leider nicht so viel Glück gehabt, dieser Tanner hat ihm eine Kugel verpasst. Das mit deinem Bruder war ein Missgeschick. Wir dachten, dass es Noras Freund, dieser Erik ist. Er ist einfach unglücklich gefallen. Egal, es ist wie es ist! Wir müssen jetzt schauen wie wir diese Angelegenheit unbeschadet überstehen.“

„Wir?“ fragte Rüdiger spöttisch nach.

„Ja, wir! Du hängst da genauso mit drin wie ich Herr Baron. Ich brauche Bares, um unterzutauchen. Und zwar sofort und nicht zu knapp.“

Rüdiger zog seine Brieftasche heraus und gab Finn alle Scheine, auch die kleinen. Finn hielt ihm, ungeduldig fordernd, die Hand hin. Zögernd und sehr ungern trennte sich Rüdiger sich auch noch von seiner Uhr und einigen Goldmünzen aus dem Tresor.

Dann ließ er Finn bei der Terrassentür in den Garten hinaus. Im Zimmer über ihnen standen Viktor und neben ihm Emilia am Fenster und sahen ihm nach, bis er zwischen den Sträuchern verschwunden war.

„Kommst du mit?“ fragte Emilia und drehte sich zum Gehen um. Viktor blieb am Fenster stehen.

„Nein, geh besser allein zu ihm, ich warte hier.“

Emilia warf einen Mantel über und hastet zum nächsten Taxistand. Nichts hätte sie jetzt zurückhalten können, Severin war wie ein Sohn für sie. Im Aufenthaltsraum vor dem Operationstrakt traf sie Isabel, die ihr völlig aufgelöst schilderte, wie es um Severin stand. Die Neurochirurgen hatten ihren Teil an Severins Versorgung schon geleistet, jetzt waren die Kieferchirurgen am Zug. Sie gaben sich Mühe, Severins zertrümmertes Gesicht zu rekonstruieren und würden damit noch stundenlang beschäftigt sein. Das Klingeln ihres Telefons unterbrach Isabel. Rüdiger wollte, ganz besorgter Bruder, von ihr wissen, was es Neues gab. Kühl und knapp informierte Isabel ihn. Er sollte ruhig merken was sie von seinem wenig einfühlsamen Verhalten vor ein paar Stunden hielt. Sie erwähnte auch, dass Emilia bei ihr war, was Rüdiger gar nicht zu gefallen schien.

Im Operationsaal hatte die Nachtschicht den Tagdienst abgelöst und im Hinausgehen meinte die OP-Schwester zu Isabel, dass noch nicht einmal die Hälfte des Eingriffs vorüber war. Zuhause warteten die Kinder und Jakob und hier konnte Isabel nichts weiter tun, als einfach nur in Severins Nähe zu sein. Sie wollte später wiederkommen, wenn Severin dann hoffentlich schon auf der Intensivstation war.

Als sie heimkam lagen die Kinder schon im Bett und das von Jakob zubereitete Abendessen stand auf dem Herd. Eine kurze Gutenachtgeschichte für die Kleinen, dann setzte sie sich mit Jakob an den Tisch und erzählte ihm während ein paar lustlos gekauter Happen, von ihrem traurigen Tag. Nach dem Essen und einem Glas Wein nahm Isabel an, dass Severin jetzt nicht mehr im OP Saal, sondern schon auf der Intensivstation lag. Jakob bot an, sie ins Krankenhaus zu begleiten, aber Isabel meinte es wäre ihr lieber, wenn er bei den Kindern blieb. Sie machte sich zu Fuß auf den Weg.

Severin lag in künstlichem Tiefschlaf und von einer Maschine beatmet auf der Intensivstation. Dicke, dort und da schon durchgeblutete Verbände bedeckten sein Gesicht und ein Beatmungstubus ragte aus einem Luftröhrenschnitt tief unten im Hals. Was Isabel als professionelle Ärztin kaum berührte, setzte ihr als liebende Schwester doch sehr zu und erfolglos versuchte sie die Vorstellung zu verdrängen wie Severin unter dem Verband wohl aussah. Sein feines, ebenmäßiges Gesicht mit diesen verträumten Augen, das viele Mädchenherzen höherschlagen ließ, obwohl Severin die Zuneigung hübscher Knaben immer schon viel lieber als die der Mädchen war.

So tragisch seine Situation und die Aussichten jetzt auch schienen, tröstete Isabel sich damit, dass er sich momentan nicht in unmittelbarer Lebensgefahr befand. Sie saß an seinem Bett, bis sie um Mitternacht die große Müdigkeit überkam und sie sich auf den Heimweg machte. Die Straßen waren schlecht beleuchtet und außer einer Gruppe angeheiterter Nachtschwärmer und zwei alten Damen, die ihre Hunde noch Gassi führten, menschenleer.

Isabel hing im Gehen ihren Gedanken nach. Und sosehr ihr das Schicksal ihres kleinen Bruders auch zusetzte, je weiter sie das Krankenhaus hinter sich ließ, desto mehr beschäftigen sie wieder, wie schlecht es um ihre geschäftliche Lage stand. Sie befürchtete, dass es in Wirklichkeit schlimmer um aussah, als Jakob angedeutet hatte, gewiss hatte er nur vermeiden wollen, dass sie sich Sorgen machte. Sie war neugierig geworden und es war noch nicht allzu spät. Der Schlüssel zum Geschäft hing an ihrem Schlüsselbund und die Aussicht auf Gewissheit war ihr diesen kleinen Umweg wert. Beim Geschäft angekommen ging sie am Haupteingang vorbei, weiter in den stockfinsteren Innenhof, fummelte den Schlüssel ins Schlüsselloch und entspannte sich erst, als sie im Büro in Sicherheit war.

Sie war schon länger nicht mehr hier gewesen und überhaupt noch nie, ohne dass Jakob auch hier war. Zuerst einmal verschaffte sie sich im schwachen Licht der Schreibtischlampe einen Überblick. Alles sah so wie immer aus. Sie nahm Jakobs Platz hinter seinem Schreibtisch ein und fühlte sich wie in ihn hineinversetzt. Sie entspannte sich, dachte an nichts Bestimmtes und nahm für eine Weile die Welt mit seinen Augen wahr.

Das Kassabuch hatte er immer in der abgesperrten mittleren Schublade seines Schreibtisches aufbewahrt und den dazu passenden Schlüssel gewöhnlich in einem geschnitzten Holzkästchen, das neben der Leselampe stand. Isabel fand alles wie gewohnt vor. Jakob änderte seine Gewohnheiten kaum. Sie nahm das Buch heraus und blätterte es gespannt Seite für Seite, Monat für Monat durch. Wie befürchtet, war die Lage ernster als von Jakob dargestellt. Wenn sich nicht bald etwas änderte, war ein unschönes Ende abzusehen. Niedergeschlagen klappte Isabel das Buch wieder zu und wollte es zurück in die Lade legen, da fiel ihr darin ein Zettel mit dem Namen ihres Bruders auf. Sie nahm ihn heraus und las ihn im schwachen Licht der Lampe durch . Es war ein Einzahlungsschein und die Höhe des Betrags ließ Isabel fast das Atmen vergessen. Eingezahlt vom Ministerium an Herrn Rüdiger Kranach-Walde, unter Zahlungszweck stand „Förderung - Denkmalschutz“. Isabel drehte sich um, sie hatte plötzlich das Gefühl beobachtet zu werden. Sie hinterließ alles so, wie es gewesen war, dann eilte sie auf schnellstem Wege nach Hause zurück.

Sie sah nach den Kindern, die friedlich und glückselig in ihren Betten schlummerten, dann erst ging sie ins Schlafzimmer und begann, ohne das Licht einzuschalten, sich auszuziehen. Sie bemühte erst gar nicht besonders leise zu sein und Jakob dreht sich verschlafen um. Er tappte nach dem Wecker auf dem Nachttisch, erwischte dabei aber nur seine Brille, die dabei zu Boden fiel.

„Isabel machst du bitte Licht? Wie spät ist es eigentlich?

„Halb Zwei vorbei!“

Isabel hatte sich ausgezogen und ging ins Bad. Jakobs Schläfrigkeit war verflogen. Er setzte sich im Bett auf und sah ihr nach. Ihr Tonfall verriet, dass etwas nicht in Ordnung war. Es erschien ihm unverfänglicher sich zuerst nach Severin zu erkundigen.

„Er ist stabil. Mehr kann man momentan nicht sagen“ antwortete sie und putzte ihre Zähne fertig.

„Übrigens, ich war jetzt noch bei dir im Büro.“

„Ja? Wieso…? Und?“

„Was hat es mit dieser Zahlung an Rüdiger auf sich?“

„Ach die!“

„Nicht ´Ach die!´ Jakob! Nicht bei dieser Summe! Wofür bekommt er das?“

Jakob stand auf und schlüpfte in eine Jacke, mit dem Schlafen war es vorerst vorbei. Isabel würde nicht mehr lockerlassen und vielleicht war es auch wirklich an der Zeit sie einzuweihen.

„Ich hole mir ein Glas Roten. Für dich auch?“ fragte er im Hinausgehen.

Isabel antwortete nicht, trotzdem kam er mit zwei Gläsern zurück. Sie saß mit dem Rücken gegen die Wand im Bett, beide Arme um die angezogenen Beine geschlungen. Jakob hielt ihr ein Glas hin, sie nahm es ihm ab, trank aber nicht.

„Wir haben einen V-Mann im Ministerium, der hat mir diesen Beleg zugespielt.“

„Wir? V-Mann? Was alles weiß ich denn da nicht?“

Jakob nutzte einen langen Schluck zum Nachdenken, um den richtigen Anfang zu finden, dann begann er zu erzählen, nicht Alles und nicht vorbehaltlos, nur soweit es ihm unvermeidlich und unbedingt notwendig erschien. Er schilderte, wie Rüdiger unter dem Deckmantel des ehrbaren Saubermanns die Schmutzarbeit für seine Partei erledigte und dafür die ´Förderungen´, die sie gesehen hatte, erhielt.

„Und wer ist ´wir´?“, wollte Isabel weiterwissen.

„Verwandtschaft, Freunde, Gleichgesinnte, einige die eine gesunde Abneigung gegen Naziumtriebe eint.“

Mehr wollte Jakob nicht verraten und Isabel beließ es dabei. Sie unterhielten sich danach noch über Severin, über das Geschäft, Patrizia und über die Kinder, bis Jakob nicht mehr antwortete, weil er eingeschlafen war. Isabel aber lag noch lange wach, sie quälten ungestellte Fragen und vor allem der Gedanke, ob sie vielleicht nur eine nützliche Figur in Jakobs heimlichen Aktivitäten war.

Als sie in der Früh aufwachte war das Bett neben ihr leer und Jakob schon im Büro. Nach dem Aufstehen entschied Isabel ganz regulär zur Arbeit zu gehen. So konnte sie immer in Severins Nähe sein und war zugleich durch die Routine doch etwas abgelenkt. Ihr erster Weg führte sie zu ihm auf die Intensivstation. Sein Zustand war im Wesentlichen unverändert, keine unmittelbare Lebensgefahr, aber noch lange nicht über dem Berg. Als Isabel am späteren Vormittag wieder nach ihm schauen ging, stand ein großer, ihr unbekannter Mann an seinem Bett. Er kam ihr entgegen, als er sie kommen sah, begrüßte sie mit ihrem Namen und stellte sich als derjenige vor, der beim Überfall auf Severin dazugekommen war.

„Herr Tanner, der ehemalige Kommissar, der Severin gerettet hat?“ fragte Isabel nach.

„Ja, nur war ich leider ein bisschen zu spät.“

„Trotzdem vielen Dank Herr Tanner und vor Allem gute Besserung! Es tut mir leid, aber ich muss mich schon beeilen, ich habe noch zu tun.“

Auch Tanner sagte, er hätte noch zu tun und auch er verriet nicht was. Er hatte darauf bestanden, heute schon entlassen zu werden und war nur noch als Besucher hier. Die weitere Behandlung seiner Wunde konnte genauso gut auch ambulant durchgeführt werden. Wegen der Schlinge um seinen verletzten Arm, brachte Tanner den Mantel nicht ganz zu. Er befand kurzerhand, dass sie nicht mehr nötig war und entsorgte sie in einem Abfallkorb im Foyer.

Draußen vor dem Krankenhaus war es windig und kalt, Tanner zog seien Schal fest um den Hals, steckte die Fäuste in die Taschen und marschierte los. Mehrmals blieb er vor Auslagen stehen, um sich nach links und rechts zu vergewissern, ob er nicht vielleicht Verfolger hatte und er wechselte auch zweimal die Straßenbahn. Finn könnte Rache nehmen wollen und auch seinen ehemaligen Kripo Kollegen war er sicher irgendwie suspekt. Er hatte sie bei ihrer kurzen Befragung am Tatort nicht wirklich belogen, aber auch nicht die ganze Wahrheit gesagt, vor Allem nicht, warum er in unmittelbarer Nähe des Überfalls war.

Bei Nora angelangt, behielt Tanner die Umgebung eine Weile vom Park aus im Auge, bevor er das Haus betrat. Nora war allein. Erik hielt sich, wie von Tanner angeraten, bis auf Weiteres versteckt und fühlte sich in einem Hotel sicherer als hier im Haus. Er getraute sich nicht einmal mehr auf die Straße zu gehen. Nora war mutiger. Es machte ihr nichts aus, allein zu sein, im Gegenteil, Erik hatte sie nur nervös gemacht. Sie hatte andere Bedenken, die weniger Rüdigers Schlägern, als den zu erwartenden polizeilichen Ermittlungen galten. Vom Überfall auf Severin zu Rüdiger und dem toten Baron bis zu ihr war kein allzu großer Sprung. Eile tat Not, die Zeit lief gegen sie. Nora machte Tanner ein Angebot.

„Ich möchte vorschlagen, ihr Engagement den neuen Umständen entsprechend anzupassen. Sie sollen nicht nur dafür sorgen, dass mir Nichts passiert, sondern auch herausfinden, wo das Original zu Severins Kopie verblieben ist. Tun sie was sie können und verlieren sie keine Zeit. Die Kosten sind Nebensache, ich kann sehr großzügig sein. Einverstanden?“

Tanner war einverstanden und von diesem Angebot nicht besonders überrascht.

Er war Nachmittag und er war zu einer Einvernahme durch Kommissarin Haim vorgeladen. Er kannte sie noch von früher, als sie neu in der Truppe und er einer ihrer Ausbildner war. Sie war ihm als ehrgeizig und kompetent in Erinnerung geblieben. Mittlerweile hatte sie es zu einem eigenen Team gebracht und sich in kurzer Zeit den Respekt ihrer Kollegen und den Ruf einer exzellenten Ermittlerin erarbeitet. Sie würde nicht lockerlassen solange es noch offene Fragen gab. Am Weg zum Kommissariat nahm er denselben Weg, wie am Tag des Überfalls, von der Courbet-Gasse kommend durch den Park. Die Umgebung des Tatorts hatte er etwas anders in Erinnerung gehabt, vor allem war die Entfernung, aus der er geschossen hatte, größer, als gedacht. Es war fast dieselbe Zeit mit vergleichbarem Tageslicht. Tanner konnte noch deutlich bis zu Noras Wohnzimmerfenster in der einen Richtung und dem Maroni Stand in der anderen sehen. Der Maronibrater hob grüßend die Hand und winkte, wahrscheinlich hatte er damit die jungen Leute, die hinter Tanner gingen, gemeint. Als Tanner im Kommissariat eintraf, war Haim noch in einem Gespräch, sie schickte aber ihre Kollegin gleich weg und bat ihn herein.

„Wie geht es ihnen? Bereitet ihnen die Schusswunde noch Beschwerden?“

Bei allem kollegialen Respekt ihm gegenüber, machten ihre Haltung und Stimme deutlich, dass sie nicht mehr die zu ihm aufblickende Schülerin war. Mit gezücktem Schreibstift bat sie ihn um seine persönliche Schilderung der Minuten vor dem Überfall, woher er gekommen war und wohin zu gehen er vorgehabt hatte, was ihm sonst noch aufgefallen war und ob noch andere Zeugen in der Nähe waren. Sie unterbrach ihn nur selten, hörte konzentriert zu und machte sich viele Notizen. Als Tanner sagte er wäre nur auf einem Spaziergang zum Luftschnappen gewesen, setzte sie zu einer Frage an, die sie sich dann aber doch verbiss. Als sie ihn fragte, ob er den flüchtigen Täter habe erkennen können, kam ihm sein ´Nein leider´ selbst nur wenig überzeugend vor. Wenn ihn sein Gefühl nicht täuschte, wusste oder ahnte Haim schon, wer der Geflohene war und er war erleichtert, dass sie ihn nicht wirklich in die Mangel nahm. Nach einer halben Stunde waren sie fertig. Haim bedankte sich für seine Zeit und Tanner versicherte ihr seine jederzeitige Bereitschaft zur Mitarbeit. Als er dann vom Kommissariat hinaus auf die Straße trat, spürte er, ohne sich nach ihrem Fenster umzudrehen, ihren ihm folgenden Blick.

Haim brachte noch ihre Notizen in eine lesbare Form, dann rief sie ihr Team zu sich. Wieder und wieder gingen sie alle bisher bekannten Fakten durch. So wie es bis jetzt aussah, machte alles noch wenig Sinn. Severin war ein völlig unbeschriebenes Blatt, und außer, dass er aus einer prominenten Familie stammt, war nichts über ihn bekannt. Der von Tanner erschossene Täter hingegen hatte gut die Hälfte seines jungen Lebens hinter Gittern verbracht. Drogendelikte, Autodiebstahl, Körperverletzung, Hehlerei, nur in letzter Zeit war es ruhiger um ihn geworden. Er hatte sich einer Bande angeschlossen, die gutorgansiert agierte. Drogen, Prostitution, Schutzgelderpressung, die Kollegen von der Abteilung ´Organisierte Kriminalität´ wussten mehr darüber.

Ein simpler Raubüberfall auf einen Passanten passte ganz und gar nicht ins Bild. Der zweite geflüchtete Täter war noch nicht identifiziert. Tanner hatte ihn vage als groß und kräftig beschrieben, was Haim nur wenig weiterhalf. Aufschlussreicher war da schon der Hinweis der damit beschäftigten Kollegen, dass der Getötete die rechte Hand des Bandenchefs und auch meistens mit ihm unterwegs gewesen war. Von diesem Anführer wusste man den Namen und hatte reichlich Fotomaterial. Er hieß Finn-Sören Ladenthaner und wurde allgemein ´´´Der Schwede´´´ genannt, Mutter aus Schweden, Vater von irgendwo aus der Provinz, mehr Vorstrafen wegen Gewaltdelikten als Buchstaben in seinem Namen. Nach ihm hielt Haims Team jetzt Ausschau. Haim las Tanners Aussage noch einmal Wort für Wort durch und überlegte hin und her, irgendetwas daran passte ihr nicht. Sie wusste, dass Tanner diesen Finn kannte und Tanner war in Schussdistanz gestanden, nah genug, um zu sehen wer er war. Sie nahm sich vor, ihn später noch einmal zu befragen, heute aber wollte sie mit Isabel reden.

Haim hatte es Isabel überlassen, den Treffpunkt auszusuchen. Bei ihr zu Hause und auch im Krankenhaus wollte Isabel nicht, sie zog es vor, ins Kommissariat zu kommen. Aus Rücksichtnahme auf Isabels Situation mit ihrem Bruder im Koma, war Haim um eine möglichst entspannte Atmosphäre bemüht. Sie ließ Kaffee servieren und begann mit unverfänglichen Themen, Kinder, Wetter, Verkehr in der Stadt und tastete sich so an die ersten Fragen über Severin heran. Zuerst erkundigte sie sich nach seinem Befinden, dann nach seinen Freunden, auffälligen Gewohnheiten, möglichen Feinden und Neidern. Für Isabel war es undenkbar, jemand Severin Böses wollte, er war der liebenswerteste sanfteste Mann, den man sich nur vorstellen konnte und bei allen die ihn kannten geschätzt und beliebt. Haim bohrte vorsichtig weiter, wo und mit wem Severin seine Zeit verbrachte, wem er vielleicht ein Geheimnis anvertraut haben könnte und wer ihn wohl am besten kannte. Haim achtete aufmerksam auf jeden noch so diskreten Hinweis in Isabels Körpersprache und fragte geschickt und einfühlsam weiter. Nach Isabels zweiter Tasse Kaffee wusste sie schon mehr. Severin war schwul und verbrachte viel Zeit in einschlägigen Lokalen und Kreisen. Ob er deswegen vielleicht erpressbar war, konnte Isabel ihr nicht sagen, sein Vater hatte ihn deswegen verachtet, nicht mehr mit ihm gesprochen und ihn sogar enterbt. Haim hätte gerne noch mehr über das Familiengefüge derer von Kranach-Walde erfragt, aber Isabel schaute schon dauernd auf ihre Uhr, sie hatte genug und wollte nicht mehr. Haim bedankte sich für ihre Mitarbeit und begleitete sie hinaus. Isabels Befragung hatte nicht so lang gedauert, wie von Haim eingeplant. Die gewonnene Zeit wollte sie für einen Lokalaugenschein nützen. Sie gab im Büro Bescheid, dass sie sich den Tatort noch einmal anschauen würde und machte sich auf den Weg.

Nichts erinnerte im Park mehr daran, dass hier vor kurzem ein Mann fast totgeprügelt und ein anderer erschossen worden war. Die Spuren waren durch den anhaltenden Schneefall alle zugeschneit, aber Haim hatte die Details des Tatorts noch gut im Kopf. Sie versuchte Severins Route zu rekonstruieren und fing damit an der Stelle des Überfalls an. Woher aber war er gekommen und wohin hatte er vorgehabt zu gehen? Tanner hatte zu Protokoll gegeben, dass er selbst von der Courbet-Gasse kommend den Park betreten hatte und auf Severin erst durch den Tumult des Überfalls aufmerksam geworden war. Er hatte ihr nicht sagen können, ob die beiden Täter Severin aufgelauert hatten, oder ihm bis dorthin gefolgt waren. Haim sah sich um. Die Stelle war von allen Seiten, auch von weitem, ziemlich ungehindert einsehbar, nur wenige jetzt blattlose Bäume verstellten die Sicht. Die Täter mussten Severin gefolgt sein, weil hier weitum keine gute Deckung zum Auflauern war. Haim fragte sich, warum Tanner sie nicht vorher schon bemerkt hatte. Sie ging bis zu der Stelle, von der aus Tanner den tödlichen Schuss abgefeuert hatte. Auch bei einer durch Schneefall eingeschränkten Sicht, hätte er die Gesichter von hier aus eigentlich sehen und wesentlich mehr Details erkennen müssen, als er später dann zu Protokoll gab. Haim überquerte die Wiese in Richtung Courbet-Gasse, von wo Tanner angeben hatte, gekommen zu sein. Dort waren keine Geschäfte, keine Cafés oder Lokale, keine Straße, in der man einfach nur so herumspaziert, oder wie Tanner behauptet hatte, ´ frische Luft schnappen´ geht. Die Straße war ruhig, kaum Fußgänger, wenig Verkehr und nur einige am Rand geparkte Autos. Ein weißer Kleinwagen zog Haims Aufmerksamkeit auf sich. Der dicken Schneeschicht nach zu schließen, parkte er schon länger hier, aber das Fenster auf der Fahrerseite stand eine Handbreit weit offen. Haim warf einen Blick hinein. Zusammengeknüllte Bierdosen, Kaffeebecher, der Aschenbecher übervoll, jemand hatte sich hier drinnen viel Zeit vertrieben. Die Tür war nicht abgesperrt, der Schlüssel steckte. Haim rief ihre Kollegen an und bat sie das Kennzeichen zu überprüfen. Die Abfrage ergab als Zulassungsinhaber den von Tanner getöteten Angreifer. Haim wartete beim Auto, bis ihre Kollegen von der Spurensicherung eingetroffen waren und bat sie noch, sie so bald wie möglich über die Ergebnisse zu informieren. Dann ging sie durch den Park zurück ins Kommissariat.

Tanner stand am Fenster in Noras Wohnzimmer und hatte Haim die ganze Zeit über beobachtet. Er hatte sich mit Nora unterhalten, war aber durch das, was er unten sah abgelenkt.

„Vielleicht“, wiederholte er, war aber nicht sicher, was eigentlich ihre Frage gewesen war.

Erst nachdem das Auto abgeschleppt und das Team der Spurensicherung abgerückt war, ging Tanner wieder vom Fenster weg. Er hatte versprochen, Erik vom Hotel abzuholen und fuhr mit Noras Wagen los. Beim Wegfahren und auch als er später dann mit Erik zurückkam, drehte er eine Extrarunde um den Block, es fiel ihm aber nichts Ungewöhnliches auf. Haim hatte offenbar niemanden dazu eingeteilt, die Gegend hier weiter im Auge zu behalten.

Mit Erik in der Wohnung hatte Tanner keine Lust noch länger zu bleiben und er verabschiedete sich von den beiden. Am Weg zur Straßenbahn Haltestelle kam er bei einem Maronibrater vorbei, der, seine Hände mit fingerlosen Handschuhen gegen die Kälte geschützt, Kastanien auf seinem Ofen wendete.

„Eine Portion heiße Maroni Herr Kommissar?“

Überrascht blieb Tanner stehen. Der Mann füllte ein Säckchen an und packte noch zwei Kastanien obenauf.

„Und zwei extra Große, als Gruß an Frau Nora.“

„Kennen wir uns?“

„Ja, zumindest ich sie, aus der Zeitung und Frau Nora, weil ich mir schon seit vielen Jahren jeden Winter hier die Beine in den Bauch stehe. Aus der Zeitung weiß ich auch, dass sie Polizist gewesen sind. Habe mir schon so etwas Ähnliches gedacht, so wie sie diesen Schläger umgenietet haben.“

Tanner schälte die erste, brennheiße Maroni ab..

„Sie haben den Überfall also beobachtet?“

„Sicher, das war ja auch nicht zu übersehen, ebenso wenig, wie dass die Bullen heute endlich das Auto dieser Ganoven gefunden haben.“

Der Maroni Mann zwinkerte Tanner verschwörerisch zu.

„Den einen, der sich aus dem Staub gemacht hat, den ´Schweden´, den kenne ich auch.“

„Haben sie das der Polizei gesagt?“ fragte Tanner und hätte sich dabei fast den Mund mit einer Maroni verbrannt.

„Die haben mich ja nie gefragt!“

Tanner fingerte die nächste Kastanie aus ihrer Schale.

„Die schmecken übrigens besonders gut.“

Dann verabschiedete er sich. Der Maroni Mann wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Mit seinem kurzen scharfen Messer schnitt er eine Kastanie nach der anderen vor dem Braten auf, im Augenwinkel behielt er dabei aber immer die Umgebung im Blick. Eine große schwarze Limousine mit zwei Männern kam langsam die Courbet-Gasse heruntergerollt, hinter dem Steuer saß unverkennbar Finn. Bei der leeren Parklücke, wo bis vor Kurzen noch das zurückgelassenes Auto gestanden hatte, hielten sie fast an und sahen sich suchend um. Der Maronibrater drehte sich weg. Tanner wäre noch in Rufweite gewesen, er wollte aber nichts riskieren und ließ ihn gehen. Er würde ihn sicher sehr bald wiedersehen. Finn ärgerte sich, dass er nicht schon früher daran gedacht hatte, das Auto wegzubringen. Nun hatten sie es entdeckt und nachdem es mit seinen Fingerabdrücken übersät war, wussten sie jetzt, nach wem sie fahnden mussten. Zornig schlug er gegen das Lenkrad und trat voll auf das Gas. Tanner hörte die Reifen quietschen und erwartete mit eingezogenem Kopf einen Zusammenprall. Er drehte sich um, sah aber nur einen schwarzen Wagen davonrasen. Nur ein Irrer, zum Glück war Nichts passiert. Er beeilte sich, um nicht zu spät zu seinem Kontrolltermin im Krankenhaus zu kommen.

Das Vermächtnis des Barons

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