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2. Alte und Neue Theologie

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H: Herr Kollege Biser, wir sprechen über Ihre Neue Theologie. Schon allein die Aussage „Neue Theologie“ wirft die Frage auf: Wie steht es mit der alten Theologie? Das Christentum ist etwa 2000 Jahre alt, und von Anfang an wurde Theologie betrieben im Sinne der Reflexion auf die Ereignisse um Jesus Christus. Es gibt große Theologen – ich denke an Augustinus, Thomas von Aquin, Bonaventura, Martin Luther und viele andere bis in unsere Gegenwart hinein –, und man muss fragen: Was soll jetzt noch Neues kommen? Die Kirche hat ihre Glaubenssätze in den Dogmen fest und klar definiert. Gibt es in dem Sinn eine Neue Theologie, dass sie eine Alternative zu der alten Theologie wäre oder soll es eine Fortführung der alten Theologie sein oder soll es ein Neuansatz sein, wie er, gleich aus welchen Gründen, in diesen 2000 Jahren noch nicht oder doch nicht deutlich genug herausgestellt wurde?

B: Das ist eine Frage, die ich mir selbst schon oft gestellt habe. Sind denn im Grunde nicht schon alle theologischen Fragen längstens diskutiert worden? Hat die alte Theologie nicht alle Probleme, vor die sie sich gestellt sah, längst schon gelöst? Ist nicht das theologische Geschäft längstens unter Dach und Fach gebracht? Aber die letzte, von Ihnen angesprochene Möglichkeit hat mich auf die Spur gebracht. Eine Neue Theologie ist nach meiner Überzeugung unumgänglich, weil die alte, ungeachtet ihrer großartigen Leistungen, an drei Defiziten krankt. Sie hat, um Ihren Gedanken aufzunehmen, die Botschaft Jesu in ein lehrhaftes System gebracht. Jesus aber ist mit zwei suggestiven Antworten aufgetreten: „Feuer auf die Erde zu werfen, bin ich gekommen, und was will ich anderes, als dass es brenne.“ Und dann die Warnung: „Neuen Wein darf man nicht in alte Schläuche gießen; sonst zerreißt der Wein die Schläuche und beide, Wein und Schläuche, sind verloren.“ Doch genau das hat die alte Theologie getan. Das ist kein Vorwurf, sondern ein geistesgeschichtliches Faktum, denn beim Siegeszug des Christentums durch die antike Welt ging es darum, das Evangelium den Menschen der griechisch-römischen Welt nahezubringen. Nach Lage der Dinge konnte das nur in den platonisch-aristotelischen Denkformen geschehen. Darin sah sich die frühe Theologie durch einen frappierenden Gleichklang bestätigt, denn am Anfang des Johannesevangeliums steht der Satz: „Im Anfang war das Wort, der Logos.“ Logos ist aber schon bei Heraklit das Schlüsselwort der griechischen Philosophie. Was lag da näher, als den Wein des Evangeliums in die Gefäße der griechischen Denkformen zu gießen?

Bevor wir aber darauf zurückkommen, möchte ich noch auf zwei weitere Gesichtspunkte hinweisen. Befangen in einer Welt von Angst, Hass und Gewalt, hat die alte Theologie trotz erstaunlicher Lichtblicke nie völlig mit dem von Jesus entdeckten Gott der bedingungslosen Liebe, der nach dem Zentralwort der lukanischen Bergpredigt seine Güte sogar den Undankbaren und Bösen erweist, gleichgezogen. Dieser Rückstand muss heute unbedingt aufgeholt werden – das Hauptziel der Neuen Theologie. Dazu kommt ein Drittes. Obwohl Jesus geradezu in der Zuwendung zu den Menschen und insbesondere zu den gesellschaftlich Missachteten und Geächteten lebte und obwohl Paulus die Gotteskindschaft denkbar leuchtend als menschliches Hochziel herausgestellt hatte, trat dieses Motiv in der Folge in den Hintergrund, womöglich deshalb, weil das griechische Denken den Menschen, wie Sie stets betonen, nur als Exemplar, nicht jedoch als Person im Auge hatte. Das alles aber hatte damit zu tun, dass die Botschaft im Sinn der griechischen Denkweise instrumentalisiert, dass also der neue Wein des Evangeliums in alte, vorgegebene Gefäße gegossen worden war.

H: Das trifft sicher zu; es blieb aber keine andere Wahl. Man kann immer nur in den Kategorien denken, welche die jeweilige Epoche zur Verfügung stellt. Das waren damals die Kategorien der griechischen Philosophie. Der entscheidende Unterschied zur Denkweise des Evangeliums liegt darin: Griechische Metaphysik fragt nach dem Wesen, nach dem Bleibenden im stetigen Wandel der Dinge. Sie ist ein in sich geschlossenes, statisches System, in dem Geschichte keine Bedeutung hat. Dem entspricht die Tatsache, dass der einzelne Mensch als Exemplar der Art verstanden wird und für sich genommen keinen Eigenwert besitzt. Das Allgemeine steht immer höher als das Einzelne und der Einzelne. Demgegenüber ist das Christentum von seinem Ursprung her eine geschichtliche Größe und kann deshalb nur in geschichtlichen Kategorien angemessen zur Sprache gebracht werden. Nicht Notwendigkeit und Determination sind die christlichen Grundbegriffe, sondern Einmaligkeit, Personalität und Freiheit. Diese beiden Weltauslegungen, die griechische und die jüdisch-christliche, sind letztlich unvereinbar. Die damit verbundenen Probleme konnten von den Theologen der christlichen Frühzeit nicht mit der Klarheit gesehen werden, die uns aus der Distanz möglich ist. So kam es in der klassischen Theologie der Vergangenheit zu Akzentverlagerungen und Fehlentwicklungen, die dringend der Korrektur bedürfen. Mit Ihrem theologischen Neuansatz leisten Sie dazu einen kaum zu überschätzenden Beitrag.

B: Das ist jedenfalls meine Absicht. Die im Judentum bereits vorweggenommene Großleistung des Christentums besteht darin, dass es mit dem zyklischen Weltbild der Antike gebrochen hat. In der Antike gab es nur das eine Große, den Kosmos, der gleichzeitig göttlich war und der sich, sofern er sich im Weltsystem spiegelte, in der ewigen Wiederkehr des Gleichen dargestellt hat. Das Christentum – basierend, wie gesagt, auf dem Judentum – hat dieses zyklische Modell aufgebrochen und hat ein lineares Modell an die Stelle gesetzt: Jetzt hat die Welt ein Ziel, jetzt hat die Welt eine Geschichte, jetzt durchläuft sie eine Entwicklung. Deshalb sind jetzt natürlich ganz andere Kategorien erforderlich, um das Spezifikum der Botschaft Jesu auszudrücken.

An dieser Stelle nun eine zweite Feststellung: Die traditionelle Theologie war eine weitgehend abstrakte Theologie. Das ist wiederum kein Vorwurf, denn sie stand ja in heftiger Konkurrenz mit der Philosophie und mit den aufkommenden Wissenschaften. Im Bereich der Universität entstand das Problem der Rangfolge der Fakultäten. Wenn die Theologie die ihr ursprünglich zugesprochene Spitzenstellung bewahren wollte, konnte sie gar nicht anders als konkurrieren. Um darin erfolgreich zu sein, hat sie drei essentielle Komponenten, man könnte sogar sagen: ganze Dimensionen abgestoßen. Zunächst einmal die bildhafte: Jesus hat ja seine Botschaft in Bildern und Gleichnissen vorgetragen; doch mit Bildern konnte man nicht argumentieren. Deshalb hat man die Bilder über Bord geworfen. Dann aber auch die therapeutische Komponente: Jesus hat seine Botschaft dadurch kommentiert, dass er Blinden das Augenlicht, Gichtbrüchigen die Gehfähigkeit und Aussätzigen die Heilung geschenkt hat. Dieser therapeutische Bezug ist ebenfalls abgestoßen worden. Schließlich geht es um die soziale Komponente. Wie Sie ganz richtig gesagt haben, ist das Christentum die Religion des zum personalen Selbstsein gelangten Menschen. Aber er ist natürlich Mensch in der Gemeinschaft der anderen, der seine Personalität bis in die Sprache und Liebesbeziehung hinein nur im Bezug zu anderen ausgestalten kann. Deswegen ist das Soziale ein integrales Element der christlichen Botschaft. Doch das Soziale wurde ebenfalls abgestoßen.

Sie haben vorhin Bezug genommen auf einige große Namen. Demgemäß wird die Theologie immer nach Individuen benannt, nach Thomas von Aquin, nach Bonaventura, nach Karl Rahner, nach Rudolf Bultmann, nach Romano Guardini; sie ist ganz individualistisch geworden, hat jedoch auf diese Weise den großen Vorteil erlangt, konkurrenzfähig geworden zu sein mit den Wissenschaften und der Philosophie.

H: Zusammenfassend könnte man sagen: Aufgrund der äußeren geschichtlichen Bedingungen wurde das Christentum als eine geschichtliche Religion auf den statischen Begriff gebracht und damit im Prinzip in seiner Weltwirksamkeit gelähmt. Mit anderen Worten: Ihre Neue Theologie hat die Aufgabe und die Absicht, vom theoretischen System, in das die Wirklichkeit des Christentums gegossen wurde, wieder zurückzukehren zur Lebenswirklichkeit. Und das ist wohl das, was Sie vorhin meinten mit dem Rückgang zur Mitte; von hier aus muss dann die Theologie neu konzipiert werden.

B: Besser hätte ich es auch nicht sagen können, denn ich habe schon einmal erwähnt: Die Mitte will Lebensmitte des Menschen werden. Und das ist sie eben in der traditionellen Darstellung so nicht geworden. Nachdem Sie jetzt nochmals auf den Systemcharakter von Philosophie und Theologie Bezug genommen haben, muss ich das noch einmal verschärfen und unterbauen.

Ich versuche das im Rückgriff auf den großen Denker, Dichter und Theologen Sören Kierkegaard, der wiederholt Kritik an den philosophischen und theologischen Systemen geübt hat. Er verglich den Systemdenker mit dem Architekten eines großen hochgewölbten Palastes, der es nur versäumte, sich darin eine Wohnung einzurichten und deshalb genötigt ist, nebenan in einer Scheune, wenn nicht gar in einer Hundehütte zu hausen. Danach war die Systemtheologie ein Gedankengebäude, aber kein Lebensraum, in dem der Mensch eine Unterkunft, Geborgenheit und Hilfe in seinen Problemen und Nöten gefunden hat. Deshalb hat die Neue Theologie in allererster Linie die Aufgabe, eine Theologie für den Menschen zu sein.

H: Und genau an diesem Punkt setzen Sie ja ein, indem Sie mit der Existenzanalyse beginnen, um dann aufgrund dieser Existenzanalyse die Offenbarung als Antwort auf die damit aufgeworfenen Fragen zu verstehen und zu interpretieren.

B: Das ist selbstverständlich ein Grundanliegen der ganzen Unternehmung. Es muss gezeigt werden, wie der Mensch von Haus aus offen ist auf etwas Größeres als das, was ihm die Gesellschaft anbietet. Die Gesellschaft ist ja im Grunde eine Vergewaltigung des Menschen. Sie ist in unserer Zeit Konsum- und Leistungsgesellschaft, das zeigt sich vor allen Dingen am Unglück derjenigen, die weder zu dem einen noch zu dem anderen beitragen, die also weder produzieren noch konsumieren können.

Mir hat einmal ein großer Münchener Arzt gesagt: Es ist uns in der medizinischen Forschung gelungen, alle akuten Krankheiten zu verbannen, aber der chronischen Krankheiten werden wir nicht Herr. Das aber heißt, dass der chronisch Kranke der eigentlich Leidtragende der heutigen Gesellschaft ist, denn nach dem Verbrauch seiner Geldmittel kann er nicht mehr kaufen und konsumieren. Und aufgrund seines Zustands ist er außerstande, berufliche Leistungen zu erbringen. Da ihm beides verwehrt ist, muss er sich als ein nutzloses, wenn nicht gar sinnloses Glied der menschlichen Gesellschaft vorkommen. Doch dabei darf es keinesfalls bleiben!

Vielmehr muss der Mensch wieder in seiner Totalität in den Blick genommen werden, auch der leidende Mensch. Gerade den leidenden Menschen muss gezeigt werden, dass Leiden nicht nur eine Katastrophe ist – so schmerzlich sich das im Einzelnen darstellt –, sondern auch eine große Chance. Es gibt einen Denker aus der Frühzeit des Christentums, Dionysius Areopagita, der gesagt hat: „Gott wird noch mehr durch Leiden als durch Forschen erkannt.“ In diesem Zusammenhang müsste man den leidenden Menschen sagen: Leiden hat Sinn. Darin bestünde dann die Hilfe, die ihnen eine Neue Theologie bieten kann.

H: Damit sind Probleme angesprochen, auf die wir in den späteren Gesprächen noch einmal ausführlicher zurückkommen müssen.

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