Читать книгу BERLIN - Eugen Szatmari - Страница 8
VORMITTAGSSPAZIERGANG DURCH BERLIN
ОглавлениеEin wunderbarer Rundgang durch Berlin –
Abends wird Berlin zu Paris.
Die schönste Straße Berlins
Wien hat seinen Ring, Budapest die Andrassystraße, Paris die Avenue des Champs-Élysées, Berlin hat seine Linden. Sie ist nun einmal die schönste Straße Berlins und die an Traditionen reichste, sie ist die repräsentativste Straße dieser Stadt, ihre Visitenkarte sozusagen, sie hat einen großen Teil der Geschichte dieser Stadt mitangesehen und miterlebt, sie hat ihr Antlitz mit den Zeiten geändert, aber sie ist nicht älter geworden. Und wenn wir einmal durch Berlin spazieren wollen, dann müssen wir eben Unter den Linden beginnen, nicht anders als die großen Autobusse des Herrn Käse.
Der Rundgang beginnt
Wir beginnen also unseren Rundgang am Pariser Platz, vor dem Brandenburger Tor, dem Wahrzeichen Berlins, auf dem in ihrer Quadriga die Viktoria thront, diese bronzene Viktoria, die bereits einmal einen Besuch in Paris abgestattet hat. Napoleon hatte sie 1807 nach Paris verschleppt, aber sieben Jahre später wurde sie nach Berlin zurückgebracht. Durch vier Bögen von den fünf des Brandenburger Tors jagen die Autos von und nach dem Westen. Der fünfte Bogen, der mittlere, ist leer und frei. Durch diesen Bogen durfte früher nur der Kaiser fahren, und wenn jetzt auch keine ausgesprochene Vorschrift dafür besteht – er wird nur vom Reichspräsidenten benutzt.
Sie kennen doch Liebermann?
Rings herum stehen einfache und vornehme Palais – das Haus des Malers Max Liebermann mit seinem Atelier auf dem Dach, das Palais Friedländer, das reizende Barockpalais der französischen Botschaft und die Akademie der Künste. Dann – auf der rechten Ecke des Platzes, der Stadt zu, steht das Kolossalgebäude des Hotels Adlon.
Wir wandern langsam hinunter, dem Lustgarten zu. Ecke Wilhelmstraße passieren wir das Kultusministerium, das Hotel Bristol, dann das kahl-graue Gebäude der russischen Botschaft, und gelangen zu der belebtesten Ecke Berlins, zur berühmten Kranzlerecke, wo die Friedrichstraße die Straße Unter den Linden kreuzt. Diese Ecke ist die Weltecke Berlins – gleichwertig mit der Pariser Ecke vor dem Café de la Paix, mit der Londoner Ecke vor dem Mansion House, mit der Wiener Ring-Ecke an der Kreuzung von Kärntner Straße und Opernring. Diese Ecke ist auch das Herz des Berliner Nachtlebens und des Berliner Fremdenverkehrs, und wenn man die Geschäftsleute fragen würde, die hier einen Laden besitzen, würden sie gewiss versichern, dass dies die teuerste Ecke der ganzen Stadt sei.
Das historische Eckfenster und …
Wir spazieren nun an dem Palais Kaiser Wilhelm I. vorbei, werfen einen Blick auf das »historische Eckfenster«, hinter dem der alte Kaiser zu arbeiten pflegte, und stehen auf dem Kaiser-Franz-Josef-Platz. Da steht links die Universität, daneben das stattliche Gebäude der Staatsbibliothek und das Zeughaus, das anfangs ein gewöhnliches Artilleriedepot gewesen ist, aber 1877 in ein Kriegsmuseum umgestaltet wurde, und für den Kunstfreund besonders anziehend ist durch die herrlichen Masken sterbender Krieger, die der große Barockbaumeister Andreas Schlüter schuf. Rechts erhebt sich das Opernhaus, dahinter strebt die grüne Kuppel der Hedwigskirche in die Luft. Wir kommen dann zum ehemaligen KRONPRINZENPALAIS, in dem jetzt ein Teil der Nationalgalerie untergebracht ist, insbesondere Werke neuerer deutscher Kunst.
… der historische Balkon
Taschen zuknöpfen!
Wir gehen über die Schlossbrücke und stehen auf einem weiten, geräumigen Platz, den man mit dem Place de la Concorde in Paris vergleichen könnte, wenn er auch lange nicht so schön ist. Auf der rechten Seite steht, grau, massig und imposant, das ehemals KAISERLICHE SCHLOSS, mit dem Balkon, von dem Kaiser Wilhelm an jenem welthistorisch gewordenen Augusttage zu seinem Volke sprach, ein gewaltiger Barockbau, gleichfalls von Schlüter errichtet. Eine große, später hinzugefügte Kuppel schließt ihn ab. In den zahllosen Gemächern des Schlosses, die vielfach noch die alte prachtvolle Barockausstattung zeigen, sind jetzt kunstgewerbliche Sammlungen und einige Ämter untergebracht. Vor dem Schloss steht ein schöner Brunnen, den Begas geschaffen hat und das äußerlich pompöse Kaiser-Wilhelm-Nationaldenkmal, ebenfalls ein Werk dieses Künstlers. Auf der anderen Seite des Platzes der Neue Dom, ein unruhig überladener moderner Renaissancebau, über 110 Meter hoch, von einer großen Kuppel gekrönt, die auf die Bäume des Lustgartens herabschaut. Hinter dem Dom erhebt sich der rote Bau der Nationalgalerie und weiter dahinter das Kaiser-Friedrich-Museum, in dem unschätzbare Werte deutscher und fremder Kunst untergebracht sind. Schinkels Altes Museum mit der schönen Säulenhalle über der Freitreppe enthält die griechischen, römischen und ägyptischen Sammlungen. Doch nur wenige hundert Schritte weiter, und man steht vor einem Gebäude ganz anderer Art, vor einem großen Bau, in dem emsiges Leben zu herrschen scheint, dessen Treppen wimmeln, vor dem ganze Parks von Autos warten. Das ist die Börse – in Berlin kurz »Burgstraße« genannt, das pulsierende Herz des deutschen Geschäftslebens.
Alexanderplatz
Die Königstraße führt weiter, an dem von einem riesenhaften roten Turm überragten Gebäude des Rathauses vorbei, zur Spandauer Straße, und von dort geht die Wanderung weiter zum Alexanderplatz, einem der geschäftigsten und belebtesten Plätze Berlins, wo auch das Gebäude des Polizeipräsidiums steht. Das ist schon Alt-Berlin. Und wenn jemand Zeit genug hat, sich nicht nur um das neue Berlin zu kümmern, dann soll er nicht verfehlen, dem Krögel und der Fischerbrücke einen Besuch abzustatten, wo er für ein paar Minuten das ganze jagende Tempo, die ganze Hast vergessen kann.
Wir gehen nun durch die Gertraudtenstraße zum Spittelmarkt weiter und landen in der Leipziger Straße, in der großen Geschäftsstraße Berlins, die in den Stunden des lebhaftesten Verkehrs so verstopft ist, dass sich die Neunmalweisen der Berliner Verkehrspolizei schon seit Jahren den Kopf darüber zerbrechen, wie man diesem Übelstand abhelfen könnte. Wir gehen an dem RIESENWARENHAUS TIETZ vorbei, dem Stammhaus der Warenhauskönige, die in Berlin allein über neun große Warenhäuser verfügen, kreuzen die Charlottenstraße, sehen rechts den Gendarmenmarkt mit den zwei Kuppeltürmen der Neuen Kirche und der Französischen Kirche, überschreiten wieder die Friedrichstraße, spazieren an der prächtigen Granitfassade des weltberühmten WARENHAUSES WERTHEIM vorbei und stehen auf dem Potsdamer Platz, wo das rote Licht des Verkehrsturms gerade »Halt« gebietet.
Das ist der Potsdamer Platz!
Potsdamer Platz
Dieser Potsdamer Platz ist für den ahnungslosen Fußgänger, aber auch für den ahnungslosen Autofahrer die gefährlichste Stelle Berlins. Fünf der belebtesten und verkehrsreichsten Straßen münden hier, und wenn der Beamte auf dem schlanken Signalturm den Verkehr nicht regeln würde, wäre es einfach unmöglich, über den Platz zu gelangen. Auch so ist es eine Kunst, über den Potsdamer Platz zu kommen, und die Fahrt über diesen Platz ist das schwerste Kunststück, das die Berliner Verkehrspolizei von den zukünftigen Besitzern eines Führerscheins bei der Prüfung zu verlangen pflegt. Wir warten also, bis das grüne Licht den Übergang frei gibt, gehen dann zwischen den weißen Strichen der für die Fußgänger erlaubten Passage über den Platz und wenden uns halbrechts nach der Bellevuestraße, um nach dem Tiergarten zu gelangen.
Wir gehen an dem Hotel Esplanade vorbei und landen auf dem Kemperplatz, am Rolandbrunnen, wo Berlins neuestes und prunkvollstes Café, das CAFÉ SCHOTTENHAML, steht, das erst vor einiger Zeit eröffnet wurde. Wir gehen durch die Siegesallee, die rechts und links von schneeweißen Marmorstandbildern flankiert ist, die zwar einen sehr anschaulichen Geschichtsunterricht geben, da sie alle brandenburgischen und preußischen Herrscher darstellen, sonst aber durchaus nicht zu den künstlerisch sehenswertesten Denkmälern in Berlin gehören. Von Weitem sehen wir schon die Siegessäule auf dem ehemaligen Königsplatz, der jetzt den Namen »Platz der der Republik« trägt, und davor erhebt sich das mit einer goldenen Kuppel gekrönte Gebäude des Reichstages, ein Werk Wallots.
In den Zelten
Berlin spaziert nicht
Wir gehen nun an dem roten Backsteinbau des ehemaligen Großen Generalstabs, in dem jetzt das Reichsministerium des Inneren untergebracht ist, vorbei, durch die Straße »In den Zelten«, lassen das geschäftige Treiben der Spree rechts liegen und gelangen, an dem Schloss Bellevue vorbeikommend, zum Großen Stern, dem Herzen des Tiergartens, dieses großen Parks, der sich mitten in der Stadt Berlin über viele Quadratkilometer erstreckt. Hätte Berlin einen Wagenkorso wie London am Rotten Row oder Paris im Bois de Boulogne, so wäre dieser herrliche Tiergarten der geeignetste Platz dafür. Aber Berlin hat keinen Wagenkorso, wie es überhaupt keinen Korso hat, keine große Promenier- und Flanierstraße, auf der sich die Welt, die nichts zu tun hat und sich trotzdem nicht langweilt, ein Rendezvous geben würde. Berlin spaziert nicht. Berlin hat auch keine Apéritiflokale, Berlin hat auch keine Konditoreien, in denen man vormittags eine halbe Stunde lang plaudert, Berlin hat zu solchen Vergnügungen keine Zeit. Selbst Unter den Linden, auf der Tauentzienstraße und am Kurfürstendamm sieht man keine Leute, die nur spazieren gehen wollen. Ein jeder eilt. Ein jeder hat ein Ziel. Zwecklose Schritte gehören in Berlin zu den Seltenheiten, und der Tiergarten belebt sich nur morgens und abends. Morgens, wenn die Reiter und Reiterinnen durch die Tiergartenalleen sprengen – denn Reiten ist in Berlin ein beliebter Sport, und wenn man auch nicht mehr den Kaiser durch die schattigen Alleen reiten sehen kann, so sieht man dafür viele schöne Frauen, die zumeist im Herrensitz reiten –, oder aber abends, wenn die vielen Liebespärchen erscheinen, die sich dann auf den berühmten Bänken des wohlwollend finsteren Tiergartens niederlassen.
In einer schnurgeraden Linie durchschneidet die Charlottenburger Chaussee den Tiergarten bis zum Bahnhof Tiergarten, und mündet dort in die Berliner Straße, rechts die berühmte Staatliche Porzellanmanufaktur und links die Technische Hochschule hinter sich lassend. Am Knie sind dann die Anlagen zu Ende. Die Stadt beginnt wieder. Das ist aber nicht mehr Berlin, sondern die Schwesterstadt Charlottenburg.
Der Zoo
Wir gehen nun die breite, schöne Hardenbergstraße hinunter, an der Hochschule für Musik und bildende Künste vorbei zum Bahnhof Zoo, der seinen Namen von dem Zoologischen Garten erhalten hat. Der »Zoo« gehört mit dem Aquarium zu den größten Sehenswürdigkeiten Berlins, und hat neuerdings durch die Errichtung des hochinteressanten Planetariums noch eine besondere Zugkraft bekommen. Er ist nicht nur eine Sehenswürdigkeit für den Fremden, sondern ist auch bei den Berlinern sehr beliebt, insbesondere bei den jungen und jüngsten Berlinern und Berlinerinnen, die ein Stammpublikum des Zoo bilden. Im Frühling verwandelt sich der Zoo in eine Filiale von Karlsbad. Dann spazieren Herren und Damen, die schlanker werden wollen, mit dem heilbringenden Wunderkelch in der Hand zwischen den Käfigen und verzehren nachher das echt Karlsbader Frühstück, von dem sie noch dicker werden.
Kurfürstendamm, Vergnügunszentrum der Berliner
In den letzten Jahren nach dem Krieg ist die Gegend um den Bahnhof Zoo herum ein zweiter Brennpunkt des Berliner Lebens geworden. Während die Friedrichstraße ihren Charakter als Vergnügungszentrum für die Fremden beibehielt, entwickelte sich die Gegend am Zoo zu einer Art Vergnügungszentrum der Berliner. Kinos, Tanzlokale, Dielen schossen wie Pilze aus dem Boden. Um die Gedächtniskirche herum kann man heute fünf große Kinos, sieben Cafés und einen großen eleganten Tanzpalast zählen. Der Autoverkehr schwillt hier in den Abendstunden geradezu drohend an, die Verkehrspolizisten haben alle Hände voll zu tun, Lichtfontänen blenden mit ihren Reklamen von allen Häuserfronten herab, und der Berliner nennt diese Ecke seinen BROADWAY. Diese Entwicklung ist aber nur die Folgeerscheinung einer anderen Entwicklung im Charakter Berlins – auch ein großer Teil des Geschäftslebens ist aus dem Zentrum der Stadt nach dem Westen abgewandert. Der Kurfürstendamm, der vor dem Krieg eigentlich nur eine Art Flanierstraße war, zieht wie ein Magnet große Geschäfte, Läden und Vergnügungslokale an, und es wird gewiss nur kurze Zeit dauern, bis das erste Warenhaus am Kurfürstendamm errichtet werden wird, um das Werk zu vollenden, das mit dem Verschwinden des Reitwegs vom Kurfürstendamm schon angedeutet wurde – um die schöne, breite Straße, die früher nur ein vornehmes Wohnviertel durchquerte, zu einer Geschäftsstraße ersten Ranges zu stempeln. Die Brüder Tietz haben schon vor Jahren das wertvollste Grundstück am Kurfürstendamm erworben, und sie warten offenbar nur auf die Aufhebung der Wohnungszwangswirtschaft, um an der Ecke Kurfürstendamm und Joachimstaler Straße ein neues Riesenwarenhaus zu errichten.
Von der Gedächtniskirche führt die Tauentzienstraße am Kaufhaus des Westens vorbei zum Wittenbergplatz und von dort aus geht die Kleiststraße zum Nollendorfplatz, dem Einfalltor des sogenannten Bayerischen Viertels, während die Budapester Straße von der Gedächtniskirche aus an dem eleganten Edenhotel vorbei zum Tiergarten zurückführt.
Aber am Abend …
Det ist Berlin!
Wer in Berlin mehr sehen will als die Gebäude und Denkmäler, wer sich auch für das Leben der Stadt, die er kennenlernen wollte, interessiert, dem rate ich aber, in den Abendstunden, etwa zwischen 6 und 7 Uhr, durch die Tauentzienstraße und über den Kurfürstendamm zu bummeln. Er wird glauben, dass er sich auf einem Pariser Boulevard befindet. Um diese Zeit, wenn die Linden bereits halbleer sind – wenn Untergrundbahn, Autobusse und Straßenbahnen die Menschen aus der einschlafenden City nach dem eben erst zu seinem nächtlichen Leben erwachenden Westen befördern, sind die beiden großen Geschäftsstraßen des Westens voll von Menschen, die Straßen wimmeln, die Konditoreien und Cafés sind überfüllt, vor den Kinos stehen die Menschen Schlange, in den Geschäften herrscht Hochbetrieb, denn hier beginnt das »Shopping« erst um fünf Uhr, und vor den Portalen der Tanzdielen geben die goldbetressten Portiers die bedauerliche Auskunft: »überfüllt«. Die Hast des Tages weicht der Hast des Abends. Wer sich tags beeilte, weil er eine Geschäftskonferenz hatte, beeilt sich jetzt, weil er ein Rendezvous hat. Die Sucht nach dem Vergnügen bricht sich Bahn. Man zerbricht sich den Kopf darüber, wo man hingehen könnte, was man sehen müsste, wo man sich am besten amüsieren werde. Der ganze Kurfürstendamm gleicht einem aufgeregten Ameisenhaufen, während die Fassaden der Häuser in dem schillernden Glanz der Lichtreklame schimmern.
Männlein und Weiblein sucht sich in dem Gewühl. Junge Leute, Studenten, Künstler, Volk aus dem Romanischen Café sieht man und aufgetakelte Berlin W-Damen, die durch goldene Lorgnettes die Schaufenster beäugen. Hunde werden spazieren geführt. Ecke Joachimstaler Straße warten drei Dutzend halbe Pärchen auf die zu spät kommende andere Hälfte. Zeitungsverkäufer verkünden die Titel ihrer Blätter – nur die Titel, denn das Ausrufen des Zeitungsinhalts ist in der Weltstadt Berlin polizeilich verboten, genauso wie in Kötzschenbroda. Alte Herren beraten während ihres abendlichen Spaziergangs die politische Lage, und Finanzfeldherrn in spe studieren, an die Litfasssäule gelehnt, das Kursblatt »Börsen-Courier«. Dazwischen klingelt die Straßenbahn, die Autohupen tuten, die schlecht geschmierten Bremsen quietschen, die gleißende Flut der Lichtreklame blendet das Auge, immer voller und stärker, schwärzer und hastiger quillt der Menschenstrom durch die Straßen, knäuelt sich zusammen und sondert sich ab – bis die Uhr der Gedächtniskirche acht geschlagen hat.