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Kapitel 2 Snow-Magic-Hero
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Der Winter war dieses Jahr – wieder einmal – ein Jahrhundertwinter, jammerte Wiggerl tagtäglich. Aber es schneite heuer wirklich seit Wochen unaufhörlich in Unterfilzbach. Wiggerl war schon knapp vor dem Herzinfarkt, weil die Schneemassen besonders heftig daherkamen und Hilde, seine Frau, beinahe täglich um 3.00 Uhr nachts bei Hansi und seinen Kollegen anrief, um sie darauf hinzuweisen, dass es schneite.
»Als ob ich das nicht selber sehe, wenn ich aus dem Fenster schau, Hilde!«, sagte Hansi jeden Tag schon automatisch und inzwischen recht genervt vom täglichen telefonischen Weckruf mitten in der Nacht.
Hansi war heute wie immer unter anderem für die Angerstraße zum Räumen und Streuen eingeteilt. Saukalt war es wieder an diesem Februarmittwoch in Unterfilzbach. Heute hätte der Wiggerl sicher keinen »Schlapperl-Test« machen brauchen, denn heute fühlte jeder Unterfilzbacher, sobald er das Haus verließ, dass der Gefrierpunkt weit unterschritten war.
Als Hansi hochkonzentriert die Angerstraße hinauffuhr, dachte er sich wieder einmal, wie saudumm es hier doch zum Räumen war. Eng, kurvig und dazu auch noch eine Sackgasse. Zum Wohnen aber ideal, weil sie direkt zentrumsnah und doch ruhig lag. Allerdings war das Wenden und Drehen mit dem neuen kommunalen »Snow-Magic-Hero 1000«-Räum- und Streufahrzeug wirklich eine Herausforderung. Zu Beginn des Winters hatte Hansi dabei jedes Mal noch ein wenig den Gartenzaun vom Birnböck Michael leicht touchiert, der am Ende der Angerstraße wohnte. Aber inzwischen hatte er ja eine Zeit der Übung hinter sich und Gefühl und Gespür für das Fahrzeug entwickelt. Hansi und sein »Snow-Magic-Hero 1000« waren in diesem Winter ein richtig gutes Team geworden.
Es war 5.45 Uhr und Hansi räumte und streute in den Straßen von Unterfilzbach schon seit 4.00 Uhr, was das Zeug hielt. Er wendete seinen Schneepflug in der Angerstraße 9 geschickt in drei Zügen und fuhr den steilen Berg langsam wieder hinunter. Plötzlich sah er etwas zwischen den Zaunlatten in der Angerstraße 5 hervorstehen. Direkt hinter dem Streugutbehälter. Was war denn das? Vielleicht ein Ast? Auf jeden Fall musste er hier einmal genauer hinschauen, denn er war ja als Bauhofmitarbeiter immer auf die Sicherheit und Ordnung in Unterfilzbach bedacht. Bestimmt war das die Schaufel vom Streugutbehälter, die wieder einmal irgendeiner so schlampig hingeworfen hatte. Wenn das der Wiggerl sehen würde, dachte sich Hansi noch, als er aus seinem »Snow-Magic-Hero 1000« ausstieg. Oha, heute ist es aber wirklich sehr glatt, erschrak Hansi und landete auf der schneeglatten Angerstraße fast auf seinem Hintern. Er näherte sich dem unbekannten Objekt.
Ja, Hundsdreck, verreckter! Das ist ja ein Arm, schoss es ihm durch den Kopf, als er wie in Schockstarre auf den Gegenstand am Gartenzaun blickte.
Es wurde Hansi noch kälter, als es ihm sowieso schon war, und gleichzeitig verspürte er eine Hitzewelle im ganzen Körper. Er rieb sich die Augen, um auch wirklich sicherzugehen, dass er richtig sah. Aber es war immer noch ein Arm, den er dort erblickte. Wie angewurzelt stand er vor seinem Fundstück und wusste nicht so recht, was er denken sollte, weil sein Gehirn aufgehört hatte, überhaupt noch einen Gedanken zustande zu bringen.
Sicher vergingen vier oder fünf Minuten, bis Hansi langsam wieder Blut durch seine Denkwindungen leiten konnte und ein bisserl zur Besinnung kam. Da stand tatsächlich ein Arm zwischen den Zaunlatten hindurch und ragte auf die Straße.
Ist da jetzt auch noch ein Körper dran?, ging es Hansi durch den Kopf.
Sollte er nachschauen? Was war, wenn da wirklich noch jemand am Arm dranhing? Wobei es mir schon lieber wäre, wenn an dem Arm noch jemand dranhängen würde, weil so ein alleinstehender Arm ja auch nicht so toll ist, dachte Hansi.
Es half jetzt alles nix, er musste nachschauen. Direkt hinter dem Streugutbehälter lag der Anhang vom Arm und war schon mit einer leichten Schneedecke überzogen, die Hansi nun unter beginnender Schnappatmung vom leblosen Körper strich.
»Ja, mi leckst am Arsch! Das ist ja der Apotheker!«, fuhr es dem Finder durch Mark und Bein.
Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Wie war das jetzt noch mal beim Erste-Hilfe-Kurs? Sechsmal beatmen und dreimal auf den Brustkorb drücken oder umgekehrt? Oder sollte er doch lieber die stabile Seitenlage machen? Oder vielleicht hatte es der arme Apotheker auch nur mit dem Kreislauf? Dann half nur Füße hoch oder Traubenzucker? Panisch fühlte er den Apothekerpuls. Aber den gab es nicht mehr, so sehr er auch fühlte.
Ich glaub, der ist wirklich tot!
Diese Erkenntnis wurde ihm nun mehr und mehr bewusst.
Und jetzt? Was sollte Hansi Scharnagl jetzt tun? Beim Fund seiner ersten Leiche? Er konnte noch nicht einmal Blut sehen und jetzt fand er gleich eine ganze Leiche.
Blut war übrigens nicht viel zu sehen beim Apotheker. Nur ein bisserl was am Hinterkopf.
Jetzt muss ich jemanden anrufen, dachte Hansi. Aber wen?
Am liebsten hätte er seine Bettina angerufen, aber die konnte ihm ja jetzt auch nicht helfen. Wahrscheinlich würde Bettina dann mit Hansi ein paar Tiefenentspannungstechniken ausprobieren, um seine innere Mitte wiederzufinden. Dafür hatte er in dieser Situation aber jetzt wirklich keine Zeit.
Sollte er den Wiggerl informieren? Aber der Wiggerl dachte wahrscheinlich gleich wieder an die Schuldfrage. Und seit der Causa »Straubmeier Franziska« und ihrem Oberschenkelhalsbruch überlegte der Wiggerl immer gleich, ob das auch im Versicherungsschutz inbegriffen war und was dies die Gemeinde Unterfilzbach kosten würde. Unbewusst überschlug Hansi in Gedanken schon die Beerdigungskosten, die dann die Kommune zahlen müsste, wenn sich herausstellen sollte, dass der Apotheker um sein Leben gekommen war, weil nicht richtig geräumt und gestreut war. Irgendwann musste er den Wiggerl wohl informieren, weil der sonst wieder stockgrantig werden würde, wenn ihm etwas nicht gesagt wurde. Irgendwie hat er ja schon ein bisserl eine Paranoia, der Wiggerl, dachte Hansi.
Aber als Erstes war wohl die Polizei der richtige Ansprechpartner. Ja genau, die Polizei! Es war jetzt kurz vor 6.00 Uhr, ob da schon jemand auf der Dienststelle war? Na, schau mer mal.
Nachdem es circa zehnmal geläutet hatte, hob auch jemand den Hörer auf der Polizeistation in der Kreisstadt ab. »Polizeiinspektion, guten Morgen!«, tönte es recht unfreundlich aus Hansis altem Nokia-Klapphandy (das die Scharnagl-Kinder übrigens absolut oberpeinlich fanden).
»Ja, guten Morgen. Hier ist Johann Scharnagl, Bauhof Unterfilzbach. Ich hab grad einen Arm gefunden, im Schnee, beim Schneeräumen. Also, ich glaub, da müsste mal jemand von euch vorbeikommen, weil der Arm ist höchstwahrscheinlich tot. Also, der Apotheker, mein ich.«
Kurzer Seufzer auf der anderen Seite der Leitung: »Ja, wie? Wollen Sie mich jetzt verarschen? Sie haben einen Arm vom Apotheker gefunden? Woher wollen Sie jetzt wissen, dass der Arm dem Apotheker gehört?«
Was bitteschön hat der Polizist denn jetzt nicht verstanden, grübelte Hansi ein bisschen vor sich hin.
»Nein, ich hab eine Leiche im Schnee gefunden, aber den Arm zuerst. Also, kommt jetzt jemand vorbei oder nicht?«
»Ja sagen Sie das doch gleich, also da muss ich erst den zuständigen Beamten informieren. Der wird sich freuen, um diese Zeit. Also, die Leiche ist ja schon tot, oder? Dann pressiert es ja eigentlich gar nicht so sehr?«
Hansi fand das jetzt schon ein wenig blöd. Er musste ja noch weiter Schneeräumen. Und dem Herrn Polizisten pressierte es nicht?
»Doch! Mir pressiert es eigentlich schon. Ich muss ja noch weiterräumen! Also, Fundort ist die Angerstraße 5. Und ich warte jetzt hier.«
Langsam wurde Hansi ein wenig gereizt.
»Ja, gut, es kommt dann jemand von uns vorbei.«
Damit war das Gespräch beendet.
Na prima, dachte sich Hansi, und das jetzt bei minus neun Grad. Aber Gottseidank hatte er in seinem »Snow-Magic-Hero 1000« auch eine Standheizung. In seinem kuschelig warmen Fahrzeug rief er dann gleich noch Wiggerl an. Es half ja nix, er war sein Chef.
Wiggerl war irgendwie überraschend ruhig in seiner Reaktion, das kam Hansi sehr seltsam vor. Aber vielleicht war es nur der Schock!
Hansi öffnete seine Brotzeitbox und begutachtete, was ihm Bettina bereits am Vorabend eingepackt hatte. Nach einem kurzen Blick seufzte er leise. Oh je, was gäbe Hansi jetzt für eine warme Leberkässemmel oder zumindest für eine Butterbreze. Aber nein, Frau Scharnagl hatte wieder einmal nur an seine Gesundheit gedacht. Vollkornknäckebrot mit Hummus und getrocknetem Gemüse. Wenn etwas Essbares schon Hummus hieß! Eigentlich war es ja ein Wunder, dass Hansi nicht schon total abgemagert war, bei so viel gesundem Essen. Aber manchmal, wenn er es gar nicht mehr aushielt, war er zwischendurch bei der Metzgerei Aschenbrenner auf eine schnelle Debreziner zu Gast.
Als Hansi gedankenversunken in seine getrocknete Bio-Paprika biss, überlegte er, ob es eigentlich auch Untercholesterin gab. Er nahm sich fest vor, demnächst den Apotheker Martin Hornung zu fragen, mit dem er immer Schafkopf spielte. Aber dann schoss es ihm wieder wie ein Blitz durch den Kopf: Der war ja jetzt tot! Der Martin lag vor ihm im Schnee – mausetot. So langsam wurde ihm erst wieder bewusst, welchen Fund er eigentlich gemacht hatte, und er musste sich direkt schütteln.
Martin Hornung und seine Frau Elvira wohnten auch in der Angerstraße. Eigentlich gleich nebenan, im Haus Nr. 3. Aber Hansi würde Elvira diese Botschaft sicher nicht überbringen. Das fehlte noch. Da konnten sich schon die Herren Polizisten drum kümmern.
Als gegen 6.30 Uhr dann endlich ein Streifenwagen die Angerstraße hinauf fuhr, war Hansi sehr erleichtert. Es hatte in dieser Zeit sicher schon wieder drei Zentimeter geschneit und er wusste gar nicht, wie er seine Runde noch fertig bringen sollte.
Aus dem Polizeiwagen stieg Kriminalhauptkommissar Josef Baumgartner.
Oh mei, der Baumgartner Seppe, dachte Hansi und verdrehte innerlich die Augen. Hansi kannte ihn vom Sehen und wie man halt die Leute aus der Gegend so kennt. Baumgartner wohnte in der Nachbargemeinde Oberfilzbach. Grundsätzlich war es schon immer so, dass sich die Unterfilzbacher und die Oberfilzbacher eigentlich von Geburt an nicht leiden konnten, und da der Baumgartner sogar quasi auch noch so was wie ein »Gstudierter« war, hatte Hansi von vornherein eine Abneigung gegen den Polizisten, mit dem er jetzt seinen Fund besprechen sollte.
»Guten Morgen, Sie sind der Herr Scharnagl? Sie haben eine Leiche gefunden?«, rief der Polizist in Richtung des Fahrerhäuschens.
Jetzt sagt der auch noch SIE zu mir. Als wenn Hansi den Baumgartner schon jemals gesiezt hätte.
»Ja, ich hab in der Straße Schnee geräumt und dann hab ich den Arm da zwischen den Zaunlatten gesehen«, versuchte Hansi die Auffindesituation professionell wiederzugeben. Selbstbewusst und nicht ganz ohne Stolz stieg er aus seinem neuen Räum- und Streufahrzeug.
»Haben Sie sonst noch etwas bemerkt?«, fragte Baumgartner und zückte dabei einen winzigen Block samt Stift aus seinem Mantel.
»Was soll ich denn sonst noch bemerkt haben? Dass er halt tot ist, hab ich bemerkt.«
»Gut, dann wollen wir das mal überprüfen«, meinte der Kriminalhauptkommissar und strich die frische Schneeschicht von der Apothekerleiche.
Nach kurzem Pulstest musste auch Josef Baumgartner bestätigen, dass Martin Hornung tot war.
»Na, wenn er vorher noch nicht tot gewesen ist, dann wäre er jetzt sowieso erfroren«, warf Hansi noch sarkastisch ein.
Nun kam Wiggerl die Angerstraße raufgefahren, oder besser gesagt –geschlittert, denn der Schnee und die Kälte hatten die steile Straße in eine wahre Rutschbahn verwandelt. Aber irgendwann hatte es der Bauhofchef mit genügend Anlauf, oder »Schurf«, wie man in Bayern sagt, dann doch geschafft und stieg sichtlich mitgenommen aus seinem weißen VW Transporter aus.
»Grüß Gott, servus Josef, kann ich was helfen? Hast du Fragen an mich?«, sagte Wiggerl mit einem leichten Zittern in der Stimme. »I-ist er wi-wirklich to-tot?«, stotterte der Bauhofchef hinterher, als er ziemlich geschockt vor der Leiche stand. »Aber dann ist er sicher nicht wegen der Streupflicht ausgerutscht, weil auf den Privatgrundstücken hat der Bauhof keine Verantwortung, das ist Bürgersache. Kannst du das in dein Protokoll aufnehmen, Josef?«
Typisch Wiggerl, einfach paranoid durch und durch.
»Ja, Ludwig, jetzt beruhig dich erst einmal. Wir nehmen jetzt alle Personalien und die Zeugenaussagen auf und dann rekonstruieren wir mal das Geschehen«, sagte Josef Baumgartner mit souveräner, aber ziemlich überheblicher Stimme.
Nachdem Hansi zum wiederholten Male den Hergang des Fundes geschildert hatte und Josef Baumgartner und der unterstützende Polizeibeamte gefühlte fünfzig Mal um die Leiche herumgeschlichen waren, gab der ermittelnde Beamte seine Erkenntnisse bekannt: »Also ein Fremdverschulden können wir hier ausschließen, es sieht so aus, als ob Herr Hornung aus seinem Haus ging, um beim Streugutbehälter auf dem Grundstück Nr. 5 vermutlich etwas Splitt zu holen. Wegen der glatten Straße …«
»Moment!«, rief Wiggerl hastig dazwischen. »Da liegt aber kein Verschulden des Bauhofs vor«, musste er zwanghaft erneut erwähnen.
»Ludwig, jetzt lass mich doch erst einmal ausreden, Herrschaftszeiten!«, raunzte ihn der Kriminalbeamte an und fuhr fort: »… aufgrund der Glätte unglücklich gestürzt ist und mit dem Hinterkopf gegen eine spitze Zaunlatte fiel. Der Sturz war tödlich, aber eindeutig ein tragischer Unfall. Herr Oswald, nehmen Sie das so ins Protokoll auf«, befahl Baumgartner mit recht hierarchischem Tonfall in Richtung des begleitenden Polizeibeamten.
Hansi ging das aber jetzt schon sehr schnell mit der Feststellung, dass der Apotheker einen Unfalltod gestorben sei. Was sollte er denn in aller Früh, eigentlich ja mehr mitten in der Nacht, draußen vorm Haus gemacht haben? Zum Zeitungholen war er zu weit von seinem Haus entfernt. Er lag auf einer freien Fläche zwischen dem Haus Nr. 3, also dem der Hornungs, und dem Haus Nr. 5, das zurzeit nicht bewohnt war. Komisch war die ganze Sache schon, aber die »gstudierten« Kriminaler glaubten wohl, sie wären wahrscheinlich schlauer als die einfachen Bauhofarbeiter. Dabei hinterfragte er die ganze Sache jetzt nicht einmal. So was brachte Hansi wirklich auf die Palme.
»Aber Josef, wenn das jetzt doch kein Unfall war?«, wandte Hansi sich zögerlich an Baumgartner.
»Hansi, mach du deine Arbeit und ich mach meine Arbeit. Das war ein Unfall, das sieht doch ein Blinder. Was soll es denn sonst gewesen sein? Nein, nein, wir nehmen das als Unfall auf. Und du kannst jetzt dann wieder weiter deinen Schnee verräumen.«
Das ganze Spektakel in der Angerstraße löste sich somit wieder auf.
Die beiden Polizisten waren zur Neu-Witwe Elvira Hornung ins Haus gegangen, die komischerweise von dem ganzen Trubel vor ihrer Haustür immer noch nichts mitbekommen hatte.
Hansi machte sich auf, um endlich seine Runde fertigzubringen. Allerdings tat er das völlig in Gedanken an seinen Leichenfund und auch im Ärger und voll Zorn, weil diese schon sehr dramatische Sache für die Polizei gleich erledigt war. Gottseidank hatte es aufgehört zu schneien und Hansi beendete seinen Dienst um 14.30 Uhr. Total erschöpft fiel er daheim aufs Sofa und schlief recht zügig ein.
Hansi träumte von Schnee, Schafkopfen, Apothekern und Knäckebrot, als er aus der Ferne eine Stimme wahrnahm.
»Hansi! Bärle! Komm, wach auf, stimmt des wirklich?«
Bettina stand vor ihm und rüttelte an seiner Latzhose.
»Hansi, jetzt komm, erzähl schon. Ich hab dich schon zweimal auf dem Handy angerufen. Im KaufGut gab es den ganzen Tag kein anderes Thema mehr!«
Langsam kam Hansi zu sich und erschrak sofort, weil es leider doch kein Traum war und ihm schlagartig wieder bewusst wurde, was heute in den frühen Morgenstunden in der Angerstraße passiert war.
»Ach Bettina, mei, ich bin völlig erledigt, ich hab mich nur ein bisserl hingelegt«, murmelte Hansi vor sich hin und schloss den Satz mit einem lauten Gähnen.
»Komm Bärle, jetzt machen wir uns einen grünen Tee und du erzählst mir alles«, lockte Bettina ihren Hansi in die Küche.
»Also wenn du was wissen willst, dann trinken wir einen Kaffee, weil mit deinem grünen Tee, da erzähl ich gar nix«, entgegnete Hansi jetzt ein wenig zickig.
Aber nach so einem Tag wunderte das Bettina gar nicht.
»Aber freilich, mein Bärle, zur Feier des Tages bekommst du heute Kaffee«, sagte sie automatisch, verbesserte sich dann aber gleich: »Ähm, nicht zur Feier natürlich, du weißt schon, weil du heut … ach, ich mach jetzt einfach einen Kaffee.«
Bettina saß mit offenem Mund am Küchentisch, als sie voller Spannung den Erzählungen ihres Mannes lauschte.
»Ja Wahnsinn! Und die Polizei glaubt jetzt wirklich, das war ein Unfall? Aber der Martin schaufelt doch so früh keinen Schnee, ohne Jacke und bei der Kälte. Bärle, ich bekomme da gar keine guten Schwingungen rein, da stimmt was nicht! Soll ich das mal auspendeln?«
»Bettina! Nein! Das mit deiner Pendelei ist doch alles ein Schmarrn«, hielt Hansi seine Frau von einer Sitzung mit dem Pendel ab.
Bettina zog einen Schmollmund, wusste aber, dass es Hansi nicht böse meinte. Er akzeptierte ihre alternative Lebensweise ansonsten absolut.
»Ich hab ja auch ein total komisches Gefühl bei der Sache. Eben weil er nicht richtig angezogen war. Kannst du dir den Martin vorstellen, der eh immer gedacht hat, er wird gleich krank, wie er ohne Mütze, Handschuhe und dicke Winterjacke Schnee räumt? Niemals. Der hat sich ja eigentlich den ganzen Tag von oben bis unten selber desinfiziert, weil er so Angst gehabt hat, krank zu werden. Der war ja direkt so ein Hypo… Hypodingsda, weißt schon.«
»Hypochonder, Bärle«, half ihm Bettina bei der Wortfindung.
»Ja, aber wenn es kein Unfall war, Hansi, was war es denn dann? Du glaubst doch nicht, dass dem Apotheker jemand was tun wollte? Das war ja so ein Lieber«, sagte Bettina ein wenig aufgeregt.
»Mei, wer weiß? Kannst du reinschauen in einen Menschen, was der sonst noch alles so treibt? Wer weiß, ob er nicht ein dunkles Geheimnis gehabt hat«, sinnierte Hansi vor sich hin.
Als die Scharnagls alle zusammen beim Abendessen saßen, war der Leichenfund des Familienoberhaupts natürlich das Hauptthema beim Tischgespräch.
»Mei Papa, du warst ja heute der Held im Friseursalon. Alle haben von dir gesprochen, wie mutig du doch warst und dass du keine Angst gehabt hast. Mein Papa!«, schwärmte Isabelle sichtlich stolz auf ihren Vater.
»Aber Leute, da stimmt doch irgendwas nicht? Dass ein Mensch einfach so stürzt und dann auch noch genau auf eine Zaunlatte … das ist ja schon direkt Murphy's Law. Solche Zufälle gibt es ja gar nicht wirklich«, tat Indira ihre Meinung zu dem Fall kund.
»Murphy's was? Mei, Indira, du immer mit deinen neumodischen Fremdwörtern. Ich glaub ja auch, dass da irgendwas nicht stimmt. Aber wer würde denn dem Apotheker etwas antun? Das ist halt die Frage«, teilte Hansi seine Überlegungen mit der Familie.
»Also die Frau Hornung, glaub ich, war jetzt nicht mehr direkt verliebt in ihren Mann, die hat schon ab und zu mal recht geschimpft über ihren Martin. Jeden Dienstag beim Waschen und Legen«, plauderte Isabelle aus dem Friseur-Tratsch-Nähkästchen.
Bettina war erstaunt. »Wirklich? Warum denn? Die haben doch immer so harmonisch gewirkt, die beiden.«
»Ich glaube, weil er immer so anstrengend war und gedacht hat, er wird gleich krank. Das ist bei einem Apotheker, der ja eigentlich immer mit Kranken zu tun hat, schon irgendwie schwierig. Es musste halt daheim immer alles keimfrei sein, und er hatte wohl einen Waschzwang und so. Ich glaube, das ist der Elvira einfach auf den Geist gegangen. Stellt euch das mal vor, das kann schon anstrengend sein, wenn deinem Mann ständig was nicht passt und nicht sauber genug ist. Da bekommst du ja einen Vogel«, steigerte sich Isabelle jetzt direkt in das Thema hinein. »Mei, und wisst ihr, was heut noch so das Thema beim Friseur war? Die Hinkhofer Berta hat anscheinend jetzt einen Freund«, lachte Isabelle mehr, als dass sie erzählte.
»Waaas???«, riefen alle anderen Scharnagls gleichzeitig, fast ein wenig geschockt, aber auch belustigt.
»Wer soll denn jetzt das sein?«, fragte Bettina recht ungläubig. »Doch ich hab mir schon gedacht, warum die Hinkhofer Berta letzte Woche beim Kamasutra-Kurs war. Irgendwie hat der Ashanti überhaupt ziemlich viel Zulauf in letzter Zeit bei diesem Kurs. Aber kein Wunder bei dem Motto: Das lange Liebesspiel der Ekstase«, warf Bettina ganz ungeniert ins Gespräch ein und schob sich noch einen großen Löffel Couscous verführerisch in den Mund, während Hansi seine Frau ein wenig verlegen aus dem Augenwinkel ansah.
Das Tagesgericht Couscous war natürlich wieder von fast allen Scharnagls mit nicht appetitlich bewertet worden, aber der Hunger war beim Abendessen einfach zu groß, so war das Thema auch gleich abgehakt und alle aßen ihre Teller leer, sehr zur Freude von Bettina.
»Also das ist heute ein komischer Tag: Der Papa findet eine Leiche und in Unterfilzbach ist über Nacht bei allen der zweite Frühling ausgebrochen. Alles wirklich komisch. Nur ich hab meine Traumfrau noch nicht gefunden. Aber vielleicht liegt ja was in der Luft«, stellte Hansi junior mit spürbarer Hoffnung in der Stimme fest.
»Oh, Hansi. Dann musst vielleicht auch einmal mit einer Frau reden und nicht immer alle nur anschauen wie ein Maikäfer«, beratschlagte Indira ihren Bruder, ohne diesen auch nur eines Blickes zu würdigen.
»Warum zweiter Frühling in Unterfilzbach? Nur weil die Hinkhofer Berta einen Freund haben soll? Das ist sowieso bestimmt nur ein Gerücht. Wenn gar nichts los ist, dann kommt das immer. Hatten wir schon öfter, aber nie war was dran«, stellte Bettina resolut klar.
»Mei, heute waren wir beim Huberbauern. Die Huber Traudl hatte sich für ihr Schlafzimmer eine neue Sternenhimmelbeleuchtung bestellt und die sollten wir installieren. Der Termin war auch schon lange ausgemacht. Es hat dann keiner aufgemacht, aber die Tür ist ja bei einem Bauernhof immer offen, und der Meister hat dann gesagt, wir gehen da jetzt einfach rein, weil er ja weiß, wo das Schlafzimmer ist. Und dann haben wir den Huberbauern und seine Frau erwischt, wie sie grad … na, ihr wisst schon«, erzählte der Scharnagl-Sohn peinlich berührt.
»Ach geh, der Huberbauer? Das kann ich mir gar nicht vorstellen, mitten am helllichten Tag. So ein Schlingel.« Bettina schüttelte den Kopf mit einem leichten Grinsen auf den Lippen.
»Ja was weiß ich. Ich meinte ja nur, dass etwas in der Luft liegt«, sagte der Elektriker-Azubi und schaufelte weiter sein Couscous in sich hinein. Ein saftiges Schnitzel wäre ihm zwar jetzt lieber gewesen, aber ein Handwerker hat nach Feierabend Hunger. Und wenn es nur Couscous gibt, wird halt auch das gegessen.
Ein paar Tage vergingen und Hansis Gedanken um den toten Apotheker drehten sich weiter und weiter. Außerdem vermisste er ihn, vor allem beim Schafkopfen. Er war wirklich ein guter Kerl und als Kartenspieler einfach eine Granate gewesen. Nicht umsonst sprach man in Unterfilzbach immer vom Apotheker-Schafkopf. Martin Hornung hatte schon einen gewissen Ruf in der Schafkopf-Szene gehabt.
Die Beerdigung vom Martin war sehr staatstragend. Seine Frau Elvira kam im schwarzen Leinensari aus Schurwolle, begleitet von Ashanti; was natürlich in der Dorfbevölkerung der Startschuss für weiteres Getratsche war. So schnell nach dem Tod ihres Mannes hatte sich die Witwe einen Tröster gesucht? Das war schon ein komisches Bild, wie Elvira Hornung und Ashanti am Friedhof bei der Beerdigung die Trauer »weggeatmet« haben.
Warum untersuchte die Polizei das denn nicht näher? Hansi verstand die Welt nicht mehr. Aber der Baumgartner Josef bereitete sich wohl schon seelisch auf die Pensionierung vor, der war ja auch nimmer der Jüngste. Vielleicht wollte er einfach seine Fälle gleich abschließen. Mei, auf die bayerische Polizei ist auch kein Verlass mehr, dachte Hansi noch, als er wieder einmal seine Runden mit dem »Snow-Magic-Hero 1000« drehte. Er würde den Winter wohl doch bald vermissen, wenn es jetzt dann Frühling wird. Seine Kollegen hatten schon diskutiert, dass im nächsten Winter ein anderer das neue top ausgestattete Räum- und Streufahrzeug fahren darf, aber da würde Hansi schon noch ein Wörtchen mitreden, denn auch wenn er ein friedliebender Mensch war, das war jetzt sein Arbeitsgerät und würde es auch in der nächsten Wintersaison bleiben – Punkt.