Читать книгу KAMASUTRA IN UNTERFILZBACH - Eva Adam - Страница 9
Kapitel 3 Lüngerl to go
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Nachdem sich die Unterfilzbacher ein wenig vom tragischen Tod des Apothekers erholt und beruhigt hatten, nahm das Dorfleben wieder seinen gewohnten Lauf. Der Frühling war schon zu spüren und Wiggerl wurde auch wieder deutlich entspannter. Wobei er jetzt bereits auf der Suche nach Straßenschäden war, die der strenge Winter verursacht hatte und an manchen Stellen den Teer hatte aufspringen lassen. Auch die Dorfstraße war betroffen.
Die Straubmeier Franziska war nämlich kürzlich wieder mal gestürzt, mit Rollator natürlich. Wobei eigentlich keiner wirklich wusste, warum sie den ständig mitrollen ließ, denn im Prinzip war sie eigentlich noch recht rüstig, sie ging sogar zum Ü80-Yoga beim Ashanti. Die »ledige Fannerl« forderte Wiggerl nach dem Vorkommnis vehement dazu auf, er solle gefälligst diese ganzen »Blow-ups« in Unterfilzbach reparieren, ansonsten würde sie ihn verklagen. Daraufhin hatte sich Wiggerl gleich einmal zu einem Seminar über »Blow-ups« angemeldet. Nun wusste er endlich auch, was ein »Blow-up« überhaupt war, und fand es ganz toll, wenn er ständig so englische Fachausdrücke verwenden und seine Bauhofmänner damit nerven konnte.
Beim morgendlichen Frühstück erzählte Hansis Zuckerschoaserl vom gestrigen Kamasutra-Kurs und den Überraschungsteilnehmern. Zuckerschoaserl – diesen Kosenamen mochte Bettina nicht so besonders, denn übersetzt heißt das so viel wie »wohlriechender Pups«, aber so sagte ihr Bärle halt schon seit 25 Jahren zu ihr und das würde sie ihm wohl nicht mehr abgewöhnen können. Jedenfalls hatte anscheinend auch der Wiggerl irgendwie Frühlingsgefühle bekommen, denn Bettina erzählte amüsiert, dass er und seine Hilde gestern auch dabei waren, beim Kamasutra. Aber als sich Hansi dieses Bild im Kopf vorstellte, schüttelte es ihn direkt ein wenig.
Also, eines stand fest, dieser Kamasutra-Kurs würde den Scharnagl Hansi sicher nicht sehen. Und jetzt schon erst recht nicht mehr, wenn da auch noch der Wiggerl mit seiner Hilde gewisse Stellungen ausprobierte. Jessas na, dieses Bild muss ich gleich wieder aus meinem Kopf bekommen, versuchte sich Hansi zu konzentrieren.
Aber nicht nur der Wiggerl schien auf den Geschmack gekommen zu sein. Gleich ein paar Männer konnte Ashanti in der letzten Zeit beim Unterfilzbach-Kamasutra als Neuzugänge begrüßen, erzählte Bettina und schob sich einen großen Löffel ayurvedischen Frühstücksbrei in ihren Mund. Sogar ein paar Gemeinderatsmitglieder, der Bürgermeister höchstpersönlich und ein paar Feuerwehrkameraden waren gerade sehr angetan von der Nachhilfe in Liebesdingen beim Ashanti-Loisl. Nein, nein, nein, das brauch ich wirklich nicht, dachte sich Hansi, das ist auch sicher nicht so gut für mein Kreuz. Wenn er sich da an den gebastelten Kamasutra-Adventskalender zurückerinnerte, spürte er sofort wieder ein Ziehen in seinem unteren Rückenbereich. Außerdem war er ja immer noch nicht unzufrieden mit seinem Liebesleben. Er brauchte da eigentlich keinen »neuen Schwung« hineinbringen. Das passt schon, sinnierte der Scharnagl Hans, als er Bettina vor dem KaufGut-Supermarkt absetzte und in den Bauhof weiterfuhr.
Im KaufGut war diesen Donnerstag das Aktionsthema »Wellness, Massage und Entspannung zu zweit« angesagt. Bettina befürchtete wieder mal Schlimmstes, und dann ging es erwartungsgemäß tatsächlich rund. Die Kundinnen standen bereits ab 7.30 Uhr mit Einkaufswagerl »bewaffnet« Schlange vor der Tür, die ja immer erst pünktlich um 8.00 Uhr geöffnet wurde.
Es war schon narrisch, dachte sich Bettina, als sie so schweigend von ihrer Kasse aus zusah, wie die Damen des Ortes sich auf die Donnerstags-Aktionsregale mit Massageölen, Massagestäben, Liebestees, Duftkerzen – die die Libido anregen sollen – und noch anderen Entspannungsschnickschnack stürzten. So ging es sonst eigentlich nur zu, wenn es die Kinderstrumpfhosen gab. Gut, dass sich Bettina schon mal ihre ausgewählten Aktionsangebote beiseitegelegt hatte. Denn auch die Scharnagls hatte dieses Unterfilzbacher Frühlingsgefühl angesteckt, zumindest Bettina. Den Hansi würde sie davon schon überzeugen. Heute Abend wird er schauen, der Bärle, wenn ich das anregende Schaumbad Wilder Hengst in der Scharnagl'schen Badewanne vorbereite. Hoffentlich geht es dem Kreuz von meinem Bärle schon besser, damit er auch ein wenig in Wallung kommt …, dachte sich Bettina gerade so verträumt, als die ersten Kundinnen ein wenig abgekämpft und sichtlich außer Atem mit ihren ergatterten Wellness- und Liebesausrüstungen zur Kasse kamen.
Der Vormittag von Hansi Scharnagl verging recht flott, denn der Wiggerl hatte angeordnet, schnellstmöglich die Weihnachtsbeleuchtung abzumontieren, die er ganz vergessen hatte. Die Bauhofmänner hatten sich schon ins Fäustchen gelacht, weil der Bauhofkapo vor lauter »Blow-ups« die regelmäßigen Arbeiten wohl übersehen hatte. Dazu gehörte es eigentlich auch, die Weihnachtsbeleuchtung abzumontieren, spätestens im Januar.
Aber der Wiggerl konnte es gar nicht leiden, wenn seine Untergebenen auch mal auf Arbeiten hinwiesen. Das ist mein Job, sagte er dann immer. Er war ja der mit der Logik, nur dass diese halt manchmal erst etwas zeitverzögert einsetzte. Nun war es bereits März und die Unterfilzbacher witzelten schon, dass es dieses Jahr wohl eine Osterbeleuchtung geben würde. Nach einem Anruf vom Bürgermeister sagte der Wiggerl am Morgen mit hochroten Kopf und sichtlich beschämt ganz leise zu Sepp und Hansi, sie mögen doch ganz unauffällig und schnell die Beleuchtung abmontieren.
So unauffällig es ging, fuhren also Sepp und Hansi mit dem großen roten Feuerwehr-Drehleiterwagen durch den Ortskern und montierten die großen beleuchtbaren Sterne und Girlanden ab. Dass das jetzt unauffällig war, konnte man nicht wirklich behaupten, aber so wurde das halt schon immer gemacht. Wie sollten sie denn auch sonst an die Beleuchtung herankommen, die zum Teil an den Dachrinnen der Häuser befestigt war? So war es am einfachsten und praktischsten. Leider kam Sepp manchmal versehentlich an den Knopf für die Feuerwehrsirene, sodass jeder Unterfilzbacher, der in Hör- und Sichtweite war, das Spektakel Weihnachtsbeleuchtungsentfernung bemerkt haben dürfte. Dass hier und da mal einer beim Vorbeikommen einen Spruch losließ, störte die Männer nicht so sehr, denn alle kannten Wiggerl und wussten, wie hektisch und zerstreut er manchmal war.
Als sie gerade auf Höhe der Metzgerei Aschenbrenner die letzte Weihnachtsgirlande auf ihren Unimog aufgelegt hatten, beschlossen die beiden Kollegen in Kommunalorange, sich doch eine kleine Schüssel frisches saures Lüngerl in der Metzgerei zu gönnen, schließlich waren sie den Vormittag über schon sehr fleißig gewesen.
Gesagt, getan. Sepp und Hansi standen gerade beim »Lüngerl to go« – obwohl sie es heute mal an Ort und Stelle aßen und nicht im Brotzeitkammerl –, als Kriminalhauptkommissar Josef Baumgartner zur Tür hereinkam.
Gerade dachte sich Hansi noch, dass ihn das gar nicht wunderte, denn das Lüngerl vom Metzgermeister Reiner Aschenbrenner war ja wirklich saugut, und da war es schon verständlich, dass auch die Polizei hier einkehrte. Aber der Kommissar ging schnurstracks gleich hinter die Wursttheke in Richtung Kühlhaus.
Da stimmt doch was nicht, ging es Hansi durch den Kopf. Und sofort hatte er wieder die Bilder vom Leichenfund des Apothekers ein paar Wochen zuvor im Kopf. Das ganze Geschehen, diese Bilder, alles, was damals passiert war, ließ ihm absolut keine Ruhe mehr. Tagtäglich dachte er daran und stellte sich so manche Frage, die sich der Möchtegern-Sherlock-Holmes aus der Kreisstadt seltsamerweise nicht zu stellen schien.
Ein ganz komisches Gefühl drückte plötzlich in Hansis Magengegend und das kam jetzt bestimmt nicht vom sauguten sauren Lüngerl. Er konnte nicht anders und folgte dem Kommissar in Richtung Kühlhaus.
Sepp wartete lieber. Die Verkäuferinnen verzogen nicht mal eine Miene, denn die Metzgerei war rappelvoll. Das frische Lüngerl, das es jeden Donnerstag gab, war einfach ein Verkaufsschlager, und so hatten die Damen alle Hände voll zu tun. Hansi bemerkten sie gar nicht wirklich, als er an ihnen vorbeiging.
Ein käseweißer Metzgermeister Reiner Aschenbrenner, eine aufgeregte Maria Aschenbrenner und der niederbayerische Schimanski-Verschnitt alias Josef Baumgartner standen vor der offenen Tür zum Gefrierraum und blickten gleichzeitig wortlos hinein. Reiner konnte wohl nicht mehr stehen und saß auf einer großen roten Plastikwanne, in der normalerweise die Metzgereierzeugnisse ausgeliefert wurden.
Hansi zögerte ein wenig, aber er musste jetzt einfach wissen, was da los war. Er näherte sich dem Trio und sah auf dem Gefrierraumboden einen vereisten Frauenkörper in einer Aschenbrenner-Verkaufsschürze liegen.
Ja do legst di nieder, das ist ja die Sandra!!!
Trotz der Kälte, die aus dem Gefrierraum kam, wurde es Hansi ganz heiß und das Lüngerl machte Anstalten, wieder den Rückwärtsgang einlegen zu wollen.
Der Metzgermeister, den Hansi eigentlich auch recht gut vom gemeinsamen Schafkopf-Stammtisch beim Dorfwirt kannte, saß fassungslos auf seiner roten Wanne vor dem Gefrierhaus und war anscheinend in Schockstarre gefallen. Seine Frau redete jetzt ohne Ende, das war ja bei der Metzgersgattin eigentlich immer so, aber heute war sie besonders aufgeregt und rannte wie eine wild gackernde Henne von der Wurstküche zum Schlachthaus und wieder zur Fundstelle und redete und gackerte und redete und gackerte.
»Ja um Himmels willen, bei uns eine Tote, des gibt's ja nicht. Was sollen denn die Kunden denken? Die kaufen nie wieder eine einzige Wurstsemmel bei uns. Wie kann denn das sein? Die Sandra! Ja du lieber Gott, wie kann die nur so blöd sein. Wenn das die Metzgerinnung mitbekommt, das wird bestimmt gleich das Gesundheitsamt erfahren und dann kommt der Kontrolleur wieder ständig daher.«
Und so ging es ohne Punkt und Komma weiter.
Der Kommissar sagte bisher noch gar nichts. Er schaute sich nur ganz »g'schaftig« im Gefrierraum um. Sandra lag zwischen den Schweinehälften und den Haxen und den unter anderen Umständen eigentlich schon leckeren Köstlichkeiten, die die Metzgerei Aschenbrenner zu bieten hatte. Ab und zu brummte der Kommissar Unverständliches und kniete sich vor die tote Metzgereifachverkäuferin auf den kalten Boden, schaute sie aus allen Richtungen an und erweckte den Eindruck, als ob er eine Röntgen-Obduktion allein mit seinen Augen durchführen könnte.
Das ging so circa zehn Minuten. Reiner Aschenbrenner hatte immer noch kein Wort gesagt und seine Gesichtsfarbe war auch noch keine andere geworden. Eindeutig immer noch der Schock, analysierte Hansi.
Hansis Hitzewallungen waren inzwischen verschwunden und sein Hirn schien langsam wieder auf Normaltemperatur seinen Denkbetrieb aufzunehmen. Also zwei Tote in so kurzer Zeit in Unterfilzbach, das war sicher kein Zufall. Da fress ich ja einen Besen, wenn jetzt der Baumgartner wieder mit einem Unfall daherkommt, dachte sich Hansi. Seit er denken konnte, hatte es in seinem Heimatdorf noch nie eine Leiche unter so eigenartigen Umständen gegeben. Erst der Apotheker und nun die Sandra.
Sandra Wolf war schon lange in der Metzgerei Aschenbrenner an der Wursttheke tätig gewesen, seit ihrer Ausbildung. Sie war eine etwas spröde Schönheit, mit ziemlich weiblichen Rundungen und anständig Holz vor der Hütt'n und ein wenig derb im Humor. Bei ihren Witzen, die sie gern zwischen Salami und weißem Presssack erzählte, wurden selbst die härtesten Stammtischbrüder rot. Sie konnte fast alle Männer unter den Tisch trinken, was sie auch alljährlich beim Filzer Goldfest unter Beweis stellte. Sandra war mit ihren 28 Jahren eine gestandene alleinstehende, unabhängige Frau mit gewissem Drang zu Höherem. Fleißig, patent und anpackend und dadurch überall gern gesehen. Die Männer mochten sie für ihre zünftige Art und die Frauen sahen von ihr keine Gefahr bezüglich der Unterfilzbacher Männerwelt ausgehen. Sie war mit Leib und Seele Metzgereifachverkäuferin und ein Aushängeschild im Betrieb der Aschenbrenners. Sollte es jemals eine »Leberkäskönigin« zur Wahl geben, wäre Sandra sicherlich eine geeignete Kandidatin gewesen. Aber nun lag sie da auf dem Boden des Gefrierraums und war sichtlich nicht mehr zu schweinischen Witzen aufgelegt.
Maria erzählte in ihrem blitzschnellen Redeschwall auch, dass Sandra gestern Abend Reiner noch eine SMS geschrieben hatte, dass sie einen ganz wichtigen Termin erledigen müsse und heute nicht arbeiten könne. Darüber hatte sich jedoch keiner besonders gewundert. Vielleicht ärgerte sich die Maria ein wenig, weil ja Donnerstag Lüngerltag war, aber ab und zu nahm sich die Sandra auch mal frei. Das kam zwar nicht oft vor, aber zwei- bis dreimal im Jahr schon. Heute Morgen dann, als Reiner den Gefrierraum öffnete, machte er die grausige Entdeckung.
Der Herr Kommissar meldete sich nun zu Wort:
»Also, so wie ich das sehe, ist das hier ganz klar ein Unfall. Die Frau Wolf hatte sich wohl im Gefrierraum aufgehalten, die Tür ist zugefallen und der Notöffnungsknopf hier ist wohl locker gewesen und ließ sich nicht mehr öffnen. Tragisch, aber so ist halt das Leben. Wir werden das als Unfall zu Protokoll nehmen und dann kann man den Tatort … ähm, pardon, die Unfallstelle wieder freigeben.«
Wie bitte? Ein Unfall? Also den Baumgartner haben sie als Kind wohl zu heiß gebadet, oder wie? Das ist ja der größte Volltrottel-Polizist, den es in ganz Bayern gibt. Also beim Leben meiner drei Kinder darf ich auf der Stelle mausetot umfallen, wenn das hier ein Unfall gewesen sein soll, ärgerte sich Hansi innerlich. Er platzte fast vor Aufregung.
»Ähm, also Josef«, räusperte er sich vorsichtig, »du bist aber schon noch ganz sauber, oder?«
Der Kommissar schaute den Bauhofmitarbeiter in seiner Latzhose mit großen Augen an. »Wie bitte, Herr Scharnagl?«, entgegnete er noch in einem ruhigen Tonfall.
»Also beim Hornung Martin war es ja schon komisch, dass du da sofort ohne so Spurenleute oder die, die im Fernsehen immer in den weißen Anzügen an einen Tatort kommen, gleich gesagt hast, es wäre ein Unfall, aber hier ist es doch wohl total klar, dass was nicht stimmt.«
Man konnte sehr gut beobachten, wie eine Ader auf der Polizistenstirn langsam gefährlich anschwoll. Es war Hansi tatsächlich gelungen, den Herrn Baumgartner aus der Fassung zu bringen.
Mit einem festen, sehr tiefen lauten Tonfall, wie dem eines Opernsängers, sang – oder vielmehr schrie – Baumgartner den immer kleiner werdenden Hansi an: »Also, erstens bin ich im Dienst und für Sie dann immer noch HERR Baumgartner, HERR Scharnagl! Und zweitens, was haben SIE überhaupt hier zu suchen? Was bilden SIE sich ein, hier einfach dreinzureden und mir zu sagen, wie ich meine Arbeit machen soll? Das war beim letzten Mal, als der Apotheker Hornung von IHNEN gefunden wurde, schon sehr gewagt, meine These anzuzweifeln. Kümmern SIE sich lieber um IHRE Weihnachtsbeleuchtung im Frühling und überlassen SIE mir meine Arbeit. Da hört sich ja alles auf, Herrschaftszeiten kruzifix da herin.«
Der Kommissar atmete tief durch und sagte dann wieder in einer normalen, aber immer noch tiefen Tonlage zu den Aschenbrenners: »Kommen Sie morgen auf die Dienststelle und unterschreiben Sie das Protokoll und dann ist die Sache erledigt. Wiederschauen die Herrschaften.« Dann rauschte er davon.
Kurz herrschte Stille im Raum, man konnte nur entfernt das Getümmel aus dem Verkaufsraum hören.
Maria Aschenbrenner war die Erste, die die Stille unterbrach. »Also ich glaube auch, dass das ein Unfall war, wer soll denn der Sandra was Böses wollen? Und dann noch hier bei uns in der Metzgerei? Also ich glaube auch, wie der Josef, dass das hier einfach tragisch war. Es ist halt blöd, weil wir jetzt wieder eine neue Verkäuferin brauchen, und die sind eh so schwer zu finden. Aber es hilft ja nix.«
Der Metzgermeister hatte inzwischen wieder Farbe im Gesicht und schaute seine Frau an, dann erhob er sich von seiner Lieferkiste und sagte mit zitternder Stimme: »Was bist du nur für ein eiskaltes Weib? Die Sandra ist ein ganz liebes Mädel gewesen, die ist hier bei uns heute in unserem Gefrierraum gestorben. Verstehst du mich? Ge-stor-ben! Und du? Du überlegst, wie du gleich eine neue Verkäuferin bekommst?«
Hansi lauschte den ehelichen Auseinandersetzungen der Aschenbrenners und dachte sich kurz, dass eiskaltes Weib im Moment auch auf die Sandra zutraf, verwarf diesen Gedankengang aber gleich wieder. Doch auch Hansi war sehr überrascht, wie Maria da jetzt sofort ans Geschäft denken konnte und so gar kein Gefühl zeigte. Beleidigt drehte sich Maria um und stapfte in Richtung Verkaufsraum der Metzgerei.
Reiner stand da und sah wirklich verzweifelt aus, fand Hansi. Es war ihm sogar, als ob er ein wenig feuchte Augen hatte. Aber seit er vor Kurzen gesagt bekommen hatte, dass er eigentlich eine Gleitsichtbrille bräuchte, war er sich da nicht immer sicher, was er so den ganzen Tag sah.
So recht wusste Hansi jetzt auch nicht, was er sagen sollte. Sollte er mit Reiner diskutieren, ob er diese Baumgartner-Unfalltheorie auch anzweifelte? Aber es schien so, als bräuchte der Metzgermeister, der anscheinend doch recht sensibel war, ein wenig Trost. Wobei das bei einem Metzger doch dann auch was Besonderes ist, denn so einem kleinen niedlichen Ferkelchen mit seinen großen Augen und seinem herzzerreißenden Gefiepe kann er ja ohne zu zögern den Schussapparat an das kleine rosarote Köpfchen halten und abdrücken. Hansi schaute sich kurz um, ob ihn jemand sah, dann nahm er Reiner in den Arm, der daraufhin wirklich schluchzend zu weinen begann. Bettina sagte immer: »Umarmungen können Dämme der Gefühle brechen.« Warum hatte Hansi daran nicht gedacht? Mei, hoffentlich sah ihn hier jetzt keiner, wie er so den Metzgermeister im Arm hutschte. Aber der Tod seiner Verkäuferin schien Reiner Aschenbrenner sehr getroffen zu haben.
Irgendwann überließ dann Hansi den Metzger wieder seiner Trauer und fuhr mit Sepp den Feuerwehrleiterwagen ins Feuerwehrhaus und die abmontierte Weihnachtsbeleuchtung zur Sommerruhe in das Bauhoflager zurück.
Als er Sepp die Vorkommnisse in der Metzgerei und seine Abwesenheit erklärte, schlackerte auch dieser förmlich mit den Ohren und bezweifelte augenblicklich, dass so ein Notöffnungsknopf einer Gefrierhausinnentür einfach abbrechen könne. Und der Sepp musste so was schon wissen, der war nämlich ein Tüftler. Man sah es ihm nicht an, aber der Sepp hatte sage und schreibe fünf Semester Chemie und dann noch vier Semester Maschinenbau studiert. So wirklich wusste eigentlich keiner, was damals genau passiert war und wieso er seine Akademikerkarriere an den Nagel gehängt hatte, bevor sie überhaupt begann. Darüber redete er auch nicht. Er war damals ein paar Jahre weg aus Unterfilzbach gewesen und hatte sich vor einigen Jahren einfach beim Bauhof auf eine ausgeschriebene Stelle beworben. Und dann war er wieder da, der Sepp. Seitdem waren der Hansi und er richtig gute Spezln. Jedenfalls war der Sepp fast so was wie der Daniel Düsentrieb aus Unterfilzbach. Er sammelte alles, was nicht niet- und nagelfest war oder irgendwer weggeschmissen hatte. Da brauchte man aber jetzt nicht glauben, dass beim Sepp daheim keine Ordnung herrschte, im Gegenteil sogar. Da war es nicht so wie bei einem Messie, nein, ganz und gar nicht.
Er hatte damals das uralte kleine Häuschen seiner Eltern geerbt, was eher als Bruchbude zu bezeichnen war und schon ein paar Jahre nach deren Tod leer gestanden hatte. Jeder andere Bauherr hätte diese Ruine sicher »über den Haufen geschoben« und abgerissen und dann da ein Fertighaus im Toskana-Stil hingezaubert, wie es ja jetzt so Mode war. Aber der Sepp hat sehr viel Geduld und war so was von begabt als Handwerker, fast ein Künstler. Das 150 Jahre alte Bayerwald-Häuserl hatte er ganz allein renoviert (also bei den schwereren Arbeiten hatten ihm der kleine und der große Scharnagl schon ein paar Mal ein bisserl geholfen). Jetzt strahlte es mit seinem Krüppelwalmdach und der inzwischen gewachsenen grünen Schutzpatina schon von Weitem. Sogar die Holzschindeln hatte er in sehr langer, aber liebevoller Kleinarbeit alle selber gemacht. Alles war so, wie es damals erbaut worden war, nur halt mit heutigem Wohnkomfort. Ein Kunsthistoriker hätte ihm wahrscheinlich einen Orden verliehen. Nicht selten kam es vor, dass vorbeifahrende Autos kurz anhielten, um das Haus zu fotografieren. Die Lage am Waldesrand und das schöne kleine Gemüsegärtchen vor dem Haus taten ihr Übriges, das Bilderbuchidyll zu komplettieren. Vor vier Jahren war sogar mal ein Fernsehteam vom dritten Programm dagewesen. Also vom Bayerischen Rundfunk quasi, aber in Unterfilzbach und im sonstigen Bayern wird der Bayerische Rundfunk wohl ewig »das Dritte« bleiben, so ist es und so war es und so bleibt es auch. Ganz egal, auf welchem Sendeplatz er eingestellt ist, beim »Dritten« weiß einfach jeder Bescheid, was gemeint ist. Jedenfalls wurden in einer Sendung, bei der es um gelungene Hausrenovierungen ging, der Sepp und sein Bauwerk vorgestellt. Damals hat er eine Woche lang gestrahlt wie ein neues Fuchzgerl, so stolz war er da. Leider wohnte er allein in seiner fernsehbekannten Bayerwald-Villa, weil er keine Familie hatte, obwohl er schon eine Frau gemocht hätte, wenn er eine bekommen hätte, wenn es eine gescheite gewesen wäre. Aber der Markt an Singlefrauen war in Unterfilzbach recht überschaubar und recht viel weiter raus kam der Sepp halt nicht.
Hinter dem Haus hatte er seine Bastelhütte mit dem Ersatzteillager stehen. Wenn etwas kaputt war, dann brachte es der Hansi eigentlich immer erst einmal zum Sepp und meistens funktionierte es danach auch wieder, ab und zu sogar besser als vorher. Bettinas Staubsauger zum Beispiel, der hatte nach der Überholung in Sepps Werkstatt tatsächlich mal den halben Wohnzimmerteppich mit eingesaugt, obwohl der richtig verlegt war mit Kleber und so – er hat den Staubsauger da fast ein wenig zu stark frisiert. Tunen und mehr Power einbauen konnte der Sepp besonders gut. Jedenfalls waren der Scharnagl Hansi und der Müller Sepp ein sehr harmonisches Duo und sie teilten sogar den gleichen, manchmal schwarzen Humor. Eine richtige Männerfreundschaft eben.
Das Einzige, worin sich die zwei nicht ganz einig waren, war ihr Musikgeschmack. Der Sepp mochte es nämlich schon ein wenig wilder, zumindest musikalisch. Also seine Lieblingsband war die Bläsertruppe LaBrassBanda, ein paar junge Burschen aus dem Oberland, die Blasmusik ein wenig anders interpretieren, um nicht zu sagen: rocken. Da konnte der Sepp tanzen … der Wahnsinn. Einmal, da hat der Sepp den Hansi auf ein Konzert von diesen LaBrassBandas mitgenommen. Der Hansi dachte echt, da wäre wirklich eine Schlägerei ausgebrochen, und hat sich gleich so erschrocken. Dabei haben die da »getanzt«, hatte ihm der Sepp später erklärt. Bayerischer Pop oder Rock waren absolut dem Sepp sein Ding. Sein Traum war es ja, einmal auf das »Heimatsound Festival« in Oberammergau zu gehen, das wäre mal was, dachte sich der Sepp oft. Aber er hatte ja keinen, der da mitgehen würde. Der Hansi begleitete ihn da sicher nicht mehr, weil ihm das auf jeden Fall zu »damisch« wäre, nach dieser Erfahrung beim ersten Konzert mit Sepp. Deshalb blieb ihm im Moment nix anderes übrig, als davon zu träumen.
Der Hansi hingegen war musikalisch eher … sagen wir mal, romantisch veranlagt. Seine absolute Lieblingssängerin war Helene Fischer. Mei, da bekam der Hansi immer große Augen, wenn er sich ihre Drei-Stunden-Galas im Fernsehen anschaute. Die anderen Scharnagls suchten da immer gleich das Weite, wenn das Familienoberhaupt die blonde Schlagerkönigin den ganzen Abend lang am Bildschirm anschmachtete. Wenn der Hansi so richtig gut drauf war, dann hörte man manchmal durch den Opel Astra der Scharnagl-Familie die Helene und den Hansi im Duett »Atemlos« singen, auch wenn die Fenster geschlossen waren. Dann drehte er die Lautstärke bis auf Anschlag. Aber diese kleine Verschiedenheit störte die zwei Spezln nicht und sie freuten sich einfach, dass sie so gut zusammenpassten.
Den ganzen restlichen Arbeitstag über grübelte Hansi so vor sich hin und war so weit weg mit seinen Gedanken, dass er dabei mindestens zehn Spezialglühbirnen beim Stapeln der Weihnachtsgirlanden zerbrochen hatte. Das durfte der Wiggerl natürlich nicht sehen, sonst war der die ganze restliche Woche wieder unausstehlich. Seine Gedanken waren bei der neuen Leiche aus dem Gefrierhaus. Er zweifelte ja manchmal selber ein bisserl an seiner Intelligenz, weil jetzt der Kriminaler nicht mal auf die Idee kam, da genauer hinzuschauen. Ich bin ja nicht der Gescheiteste, aber ein wenig logisch denken kann ich schon, das muss man ja als Handwerker auch. Aber verrenn ich mich da jetzt in irgendwas? Hansi hatte absolut kein gutes Gefühl.
So ging es den ganzen Tag in seinem Gehirn hin und her. Es ließ ihm keine Ruhe und nach Feierabend schaute er noch mal bei der Metzgerei Aschenbrenner vorbei. Den Sepp nahm er auch mit. Die zwei gingen hinten durch den Schlachthauseingang und trafen gleich auf Reiner Aschenbrenner. Noch immer konnte man ihm ansehen, wie sehr er betroffen war vom morgendlichen Geschehen und wahrscheinlich vom Verlust seiner besten Arbeitskraft.
»Du Reiner, könnt ich mir mal die Notverriegelung in deinem Gefrierhaus anschauen? Ich kann das einfach ums Verrecken nicht glauben, dass das ein Unfall gewesen sein soll, so wie der großkopferte Baumgartner heute in der Früh einfach so festgestellt hat.«
Der Metzger war gerade dabei, frische Weißwürste abzudrehen, aber so engagiert und leidenschaftlich wie sonst wirkte er dabei nicht.
»Ja freilich, Hansi. Mir lässt das ja auch keine Ruhe. Ich kann auch an nix anderes mehr denken. Die Berufsgenossenschaft war ja erst da und hat da nix festgestellt, dass an der Tür was gefehlt hätte. Das ist zwar nicht mehr das neueste Modell, aber es ist da alles in Ordnung gewesen, da passe ich ja immer gut auf«, sagte der Metzger Aschenbrenner mit überzeugender Stimme.
Hansi hatte sich sogar extra noch schnell seine Lesebrille von daheim geholt, die er seit circa einem Jahr brauchte, aber partout nicht leiden konnte, und nun inspizierten er und Sepp das Gefrierhaus. Sepp hatte selbstverständlich auch seinen Werkzeugkasten dabei und schraubte gleich mal den Türöffner auseinander. Gefühlt hundert Schrauben, Muttern, Federn, Gummiringe und sonstige undefinierbare Kleinteile lagen in Windeseile auf dem Boden verteilt. Hansi und vor allem Sepp sahen sich jedes einzelne davon ganz genau an. Hansi musste sich das Anschauungsobjekt immer erst auf die richtige Entfernung für die entsprechend scharfe Sicht einrichten. Jedes Mal, wenn er was in die Hand nahm, brauchte er erst einmal 30 Sekunden, in denen er seinen Arm vor und zurück bewegte, um dann das Scharnagl-Adlerauge auch über den zu prüfenden Gegenstand schweifen lassen zu können. Herrschaftszeiten, das wird ja echt nicht besser mit meinen Augen, dachte er und ärgerte sich. Aber der Optiker meinte ja, ab 45 setzt halt die Alterskurzsichtigkeit ein, hilft ja nix, schob er seinen Unmut beiseite und widmete sich dann wieder seinen kriminalistischen Recherchen.
»Ja verreck, schau mal her, Hansi!«
Als wenn er die Nadel im Heuhaufen gefunden hätte, hielt Sepp voller Freude Hansi einen kleinen Metallstift unter die Nase. Hansi betrachtet das Objekt, konnte aber nix Ungewöhnliches feststellen.
»Ähm, ja, was ist damit, Sepp?«
»Siehst du das da nicht? Schau mal genau hin und setz deine Brille richtig auf«, sagte Sepp verwundert darüber, dass Hansi seine Entdeckung nicht gleich gesehen hatte.
Nachdem Hansi seine Hand mehrmals in verschiedenen Varianten vor seinen Augen positioniert hatte, sah man nach einer Weile, wie die Erkenntnis in seinem Gesicht aufging.
»Ich hab es doch gewusst! Das ist der Beweis! Reiner, schau mal da ganz genau hin!«, triumphierte Hansi euphorisch.
Da war doch tatsächlich der kleine Metallstift angesägt worden, der zum Öffnen den Mechanismus der Tür betätigen sollte, und dann wahrscheinlich abgebrochen ist, als Sandra daran gerüttelt hatte. Das war ja echt ein starkes Stück. Also war es kein Unfall! Hansi freute sich über diese Feststellung sehr, hatte er doch wirklich an seinem Bauchgefühl gezweifelt, das die letzten 45 Jahre bisher eigentlich ein recht guter Ratgeber gewesen war.
»Das müssen wir jetzt der Polizei sagen, Hansi«, meinte Sepp pflichtbewusst.
»Hmmm, ich weiß nicht, Sepp. Meinst du wirklich?«
Betretene Stille in der Metzgerei. Wieder einmal war der Metzgermeister, der noch gar nicht vom morgendlichen Schock zu sich gekommen war, sprachlos und käseweiß. Die Stille schien unendlich zu sein. Aber Hansis Hirn lief jetzt auf Hochtouren. Sollten sie das dem Kommissar Baumgartner sagen oder nicht? Was würde er dann tun? Eigentlich war es ja vorher fast schon eindeutig gewesen, dass es hier nicht mit rechten Dingen zuging, und der Polizist hatte sich trotzdem auf einen Unfall rausgeredet. Der Baumgartner war ja schon 63 Jahre alt und ganz knapp vor der Pensionierung. Irgendwo hatte Hansi gehört, dass der bereits die letzten zwei Jahre nicht mehr viel getan hatte und sich gedanklich auf seinen Ruhestand vorbereitete. Hansi Scharnagl begann ernsthaft zu zweifeln, ob Hauptkommissar Baumgartner diesem eindeutigen Beweis wirklich nachgehen und den Fall richtig untersuchen würde. Vielleicht sollten Hansi und Sepp das jetzt erst einmal für sich behalten. Warum sollten die zwei Bauhof-Detektive nicht auf eigene Spurensuche gehen? Wahrscheinlich wäre das viel effektiver und vielleicht konnten sie dieses Verbrechen – es war eines, davon war Hansi inzwischen überzeugt – sogar aufklären. So wie die ganzen Helden in seinen Heimatkrimis, die er abends vor dem Schlafen geradezu verschlang. Dem Metzgermeister müssten sie das halt noch klarmachen, vielleicht konnte er ihnen ja bei der Aufklärung helfen.
»Ich glaub nicht, dass der Baumgartner den Fall aufklären würde, der ist ja zu allem zu bequem. Der ist einfach geistig schon aus der Polizei ausgeschieden. Männer, ich glaub, da müssen wir jetzt selber ermitteln!«, sagte Hansi und strotzte geradezu vor Selbstbewusstsein in seiner Latzhose.
Langsam erst drangen Hansis Worte in den Verstand von Sepp Müller und Reiner Aschenbrenner durch. Man konnte ihnen direkt beim Denken zuschauen.
»Ich weiß nicht, Hansi, das gibt bestimmt viel Ärger und ich will ja eigentlich nur meine Ruhe.« Sepp schien ein wenig unsicher.
»Geh, Sepp, wir zwei sind doch ein super Team. Freilich packen wir das. Wir haben zwar nicht studiert, also du schon, ein bisserl zumindest, aber wir sind auf jeden Fall zumindest bauernschlau. Und wir haben Geschick, wir konnten uns doch immer weiterhelfen. Geh, Sepp, das probieren wir jetzt. Zur Polizei können wir dann immer noch gehen.«
Dem Sepp schien der Vorschlag dann doch langsam zu gefallen, endlich ein wenig Abenteuer in seinem Leben.
»Gut, Hansi, probieren wir's.«
Reiner war immer noch fast sprachlos. Er fügte dem Beschluss der zwei Hobby-Derricks nur hinzu: »Wenn ihr meint.«
Als Hansi den Sepp zu Hause absetzte, schaute er auf sein Klapphandy, das er die meiste Zeit im Auto vergaß. 16 Anrufe in Abwesenheit. Alle von Bettina. Oha, da muss ich jetzt aber wirklich schauen, dass ich heimkomme, dachte er.
Zu Hause angekommen, waren bereits alle Scharnagls um ein vegetarisches Seitan-Geschnetzeltes mit Kichererbsen versammelt.
Gerade hatte Hansi noch den Duft der frischen Weißwürste und allgemein den rauchigen Geschmack der Wurstkuchl der Metzgerei Aschenbrenner in der Nase gehabt. Mei, so ein schön angebratener Leberkäs mit Spiegelei und Kartoffelsalat, das wäre jetzt eine Sache.
Nach diesem ereignisreichen Tag hatte Hansi einen Bärenhunger – oder quasi einen Bärle-Hunger. Da war es ihm jetzt fast wurscht, wenn er keine Wurst bekam. Er ging pfeifend in die Küche und sah in vier höchst angespannte Augenpaare. Bettina sprang ihn förmlich an.
»Bärle, kannst du vielleicht mal an dein Telefon gehen? In Unterfilzbach ist die Hölle los wegen dir, und du meldest dich nicht mal. Im KaufGut sind sie heute fast alle durchgedreht und wollten von mir wissen, was passiert ist, und ich … ich konnte gar nix dazu sagen. Stimmt es, dass sie die Sandra an einem Fleischerhaken gefunden haben?«
»Ah geh, ich hab im Salon gehört, dass sie mit dem Fleischerbeil in der Mitte auseinandergeteilt worden ist. So wie wenn es Schlachtschüssel gibt«, platzte es aus Isabelle heraus.
»Das ist ja der Wahnsinn, bei uns in Unterfilzbach so was Blutrünstiges, und du, Papa, du bist dazugekommen und hast den Mörder verfolgt, hat die Hinkhofer Berta erzählt«, ergänzte Isa weiter und schien schon auch ein wenig stolz auf ihren Vater.
Hansi hörte sich die Gerüchte, die sich anscheinend zu überschlagen schienen, fast ein wenig amüsiert an, bevor er dann doch zu erzählen begann.
»Mei o mei, das ist ja schon wieder typisch für unsere Dorfratschen, dass sie alles dramatisieren und durcheinanderbringen.«
Dann folgte aber ausführlich die wirkliche Beschreibung der Geschehnisse des vergangenen Tages aus Hansis Mund. Jedoch erzählte er seiner Familie nicht, dass er erhebliche Zweifel an der Unfalltheorie des Kommissars Baumgartner hatte, und auch nichts von der Entdeckung, die Sepp, Reiner und er bei der Untersuchung der Gefrierraumtür gemacht hatten. Er war ja jetzt schließlich »undercover« unterwegs.
»Warum denn ein Unfall, Bärle?«, fragte Bettina sehr verwundert. »Im KaufGut war das heute für jeden klar, dass die Sandra ermordet wurde. Da sieht man wieder, was die Leute für einen Schmarrn erzählen, wenn sie es gar nicht wissen. Und du bist einfach nur dabei gewesen, als die Polizei kam, oder wie?«, war Hansis Zuckerschoaserl nun fast ein wenig enttäuscht. »Also nix mit Verfolgungsjagd?«, fügte sie dann noch leise hinzu.
»Ja, Bettina, ich bin nur ein einfacher Bauhofarbeiter und nicht der Held des Tages. Bist jetzt enttäuscht?«
»Nein, Bärle, ich lieb dich trotzdem. Das weißt ja«, entgegnete Bettina und drückte ihrem Hansi einen Schmatzer auf den Mund.
»Aber wisst ihr, was ich jetzt wirklich schon öfter gehört hab? Die Sandra hatte wohl was am Laufen mit dem Markus Schaller. Ihr wisst schon, der letztes Jahr pleite gegangen ist. Der Feuerwehrkommandant aus Oberfilzbach«, wollte Isabelle die Gerüchteküche wieder anheizen.
Aber nachdem heute alle vier restlichen Scharnagls genug von den Unterfilzbacher Tratschereien hatten, wollte keiner mehr so recht drauf eingehen. Damit widmeten sich Isabelle, Hansi junior, Indira, Bettina und Hansi Scharnagl wieder ihrem Seitan-Geschnetzelten mit Kichererbsen, denn hungrig waren sie trotz alledem.