Читать книгу HEIßE NÄCHTE IN UNTERFILZBACH - Eva Adam - Страница 7

Kapitel 1

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Friedhofs-Tuning

Ende Oktober fiel im kleinen niederbayerischen 3.000-Einwohner-Dörfchen Unterfilzbach im schönen Bayerischen Wald jährlich der Startschuss für einen wahren Brauchtumsmarathon. Am Jahresende häuften sich die Riten der Eingeborenen merkwürdigerweise, warum auch immer.

Es war der 31. Oktober und auf der ganzen Welt hieß dieser Tag Halloween, vereinzelt sogar hier in Unterfilzbach. Im örtlichen Kindergarten Die Filzmäuse wurde inzwischen regelmäßig eine Halloween-Party mit kleinen Gespenstern und Vampiren veranstaltet und abends zogen auch schon mal ein paar Kinder von Haus zu Haus, um Süßes oder Saures zu verlangen. Aber das war’s dann auch schon mit dem neumodischen amerikanischen Glump, diesem Halloween-Zeug, wie die rüstige und ausgesprochen gesprächige, aber wenig feinfühlige Dorfratschn Berta Hinkhofer immer zu sagen pflegte.

In Unterfilzbach hatte der 31. Oktober eine ganz andere Bedeutung. Etwas Großes lag in der Luft, etwas Bedeutendes. Geschäftiges Treiben herrschte im ganzen Ort, vor allem rund um die Gärtnerei und den Friedhof. Seit Tagen veranstalteten alle schon ein Mordsgewusel. Das große Gräber-Tuning stand an. Am 1. November war Allerheiligen, was im katholischen Bayern sogar ein Feiertag war. An diesem Tag wurde der Toten gedacht. Das war der Sinn dieses Tages, also eigentlich eine ruhige und besinnliche Angelegenheit – sollte man meinen. Allerdings war dieses Gedenken mit einem ganzen Haufen Aufwand verbunden, sofern man für die Grabpflege in Unterfilzbach verantwortlich war. Man könnte sogar so weit gehen und sagen, dass man hier förmlich unter gesellschaftlichen Erwartungsdruck gesetzt wurde, denn das geheime Motto lautete: schöner, aufwendiger, kreativer, üppiger! Schließlich reiste teilweise sogar die gesamte Verwandtschaft an und man wollte sich ja vor den anderen nicht blamieren, egal ob Mitbürger oder verwandte Tagestouristen. Denn: »Was sagen denn da d´Leut?«

Hansi Scharnagl, angestellt im kommunalen Bauhof, wurde am 31. Oktober von seinem Chef Wiggerl zu einer sofortigen Notfallaktion abkommandiert. Er sollte am Friedhof die Wege ein wenig mit Kies auffüllen. Ein paar Damen, die gerade dabei waren, ihre zu pflegenden Gräber im Endspurt aufzumotzen, hatten sich nämlich beschwert. Der neurotische Bauhofkapo Ludwig Hackl, genannt Wiggerl, war leider nicht mit einem besonders starken Nervenkostüm ausgerüstet und geriet bei Beschwerden schon mal leicht an die Grenzen der Belastbarkeit.

»Hansiii! Was machst du grad? Egal, was du tust, hör sofort auf damit!«, schallte es aufgeregt aus dem Bauhoffunk.

»Ähm, Hundetoiletten leeren. Das hast du mir ja heut Morgen angeschafft, oder nicht?«, sagte Hansi, verwundert darüber, wie vergesslich sein Chef schon wieder war.

»Lass sofort alles stehen und liegen, wir haben einen Notfall.«

Auch Hansi neigte ab und zu ein wenig zur Hysterie und hatte sofort die schrecklichsten Bilder im Kopf. Ein Terroranschlag auf das Rathaus? Explosion in der örtlichen Biogasanlage? Geiselnahme im Bauhof?

»Die Hinkhoferin hat mich gerade angerufen. Am Friedhof sind die Wege wohl unbegehbar und das wäre absolut lebensgefährlich, hat sie gesagt. Du musst da sofort hin und Kies auffüllen. Was sagen denn da d´Leut? Morgen ist schließlich das ganze Dorf am Friedhof und dann schimpfen sie wieder alle über den Bauhof, wenn wir nichts unternehmen.«

Ein Lächeln huschte über Hansis Gesicht. Das ließ er sich nicht zweimal sagen, denn Hundetoiletten zu leeren, war nicht unbedingt eine direkte Herausforderung und ekelhaft noch dazu.

Leider war rund um den Friedhof kein einziger freier Parkplatz zu bekommen; sie standen einfach ü-ber-all … egal, ob Halteverbot oder Feuerwehranfahrt.

Man könnt´ ja meinen, es geht hier um Leben und Tod, dabei sind wir eh schon am Friedhof, dachte Hansi leicht genervt wegen dieser Panik.

Mangels Alternativen musste Hansi dann halt kurz entschlossen mit seinem kommunalorangenen Unimog direkt in den Friedhof hineinfahren. Gut, dass der kleine Unimog wunderbar durch das Eingangstor passte, und zwar millimetergenau. Nur das Eisentor litt an den Scharnieren ein wenig, aber dann musste halt der Wiggerl wieder einmal einen Arbeitsauftrag für einen Neuanstrich erteilen. Alles war besser als Hundetoiletten – oder HT, wie es der Bauhofkapo immer auf den Einsatzplan schrieb. Wer HT-Dienst hatte, war an diesem Tag eher der Depp vom Dienst.

Im Inneren des Friedhofs war das Durchkommen aber genauso schwierig, es wimmelte nur so von gestressten Grabgärtnern und -gärtnerinnen.

Ja, was wäre denn da der Münchner Stachus, ging es Hansi durch den Kopf. Überall wurde geschrubbt, gepflanzt, gegossen oder gezupft. Alle Grabpfleger hatten allerdings eher ein heimliches Auge auf die Konkurrenzgräber anstatt auf Hansi in seinem Unimog, der sich etwas genervt seinen Weg zu bahnen versuchte. Nicht, dass man vielleicht einen Modetrend in Sachen Grabdesign verpasste. Das war offenbar ein wichtigeres Thema, als eventuell von einem Unimog überrollt zu werden. Hansi erinnerte sich noch allzu gut daran, wie seine liebe Ehefrau Bettina vor ein paar Jahren furchtbar verzweifelt war, weil sie den »Moostrend« nicht mitbekommen hatte. Damals hatte die Hinkhoferin sie an ihrem Arbeitsplatz, der Supermarktkasse, so saudumm angeredet.

»Mei Bettina, hast aber dein Grab wieder langweilig hergerichtet heuer, hab ich so gehört. Hast du denn nicht gesehen, dass man jetzt Moos im Muster auslegt? Da muss man schon ein wenig im Trend bleiben. Ist ja nur gut gemeint, Bettinalein. Nur ein kleiner Tipp von mir. Mir wär’s ja wurscht, aber was sagen denn da die Leut´?«

Die ganze Kundenschlange hinter Berta hatte Bettina daraufhin so komisch vorwurfsvoll angesehen, und die Supermarkt-Kassiererin war sogar noch heute ein bisschen traumatisiert.

Seitdem war auch Frau Scharnagl jedes Jahr ein wenig gestresst, wenn sich das Allerheiligen-Tamtam wieder näherte. Mit Argusaugen beobachtete sie, wie auf den anderen Grabstellen dekoriert wurde, und trieb sich stundenlang im Floristik-Fachgeschäft herum. Hansi verdrehte innerlich die Augen, als er beim Anblick des aufgeregten Treibens hier am Unterfilzbacher Friedhof an seine Frau und ihre Allerheiligen-Panik erinnert wurde.

Doch nun musste er den mit weißem Kies beladenen Unimog irgendwo abstellen. Direkt vor dem Leichenhaus war dann Gott sei Dank ein kleines Fleckchen frei. Das war ganz praktisch, denn von dort aus konnte er dann zentral den Kies mit dem Schubkarren ausfahren.

Die Hinkhofer Berta erwartete ihn bereits, um ihm die gefährlichsten Stellen auf den Wegen zu zeigen. Mit verschränkten Armen und klopfendem Vorderfuß stand sie da und zeterte sofort drauflos, als er den Motor abstellte.

»Na endlich! Das ist ja wieder einmal typisch Bauhof, für jeden Schmarrn habt ihr Zeit und euer Wiggerl sieht alles immer als Gefahr. Aber hier, wo man sich alle Haxen brechen könnte, da überlasst ihr uns arme Bürger unserem Schicksal. Direkte Löcher sind in den Kieswegen, da habt ihr schon ewig nix mehr gemacht, das sieht man gleich, direkt verwahrlost sind die Wege hier. Nicht zu verantworten ist das, das sag ich dir, Scharnagl.«

Berta Hinkhofer und Hansi Scharnagl waren nicht unbedingt die besten Freunde. Immer wieder waren sie in der letzten Zeit aneinandergeraten. Dementsprechend angespannt war die Stimmung zwischen den beiden.

»Berta! Jetzt schrei mich nicht so an, ich hab ja erst einmal den Kies auf den Unimog raufschaufeln müssen. Herrschaftszeiten! Aber davon hast du ja keine Ahnung. So wirklich hast du ja noch nie was gearbeitet in deinem Leben«, verteidigte sich der Bauhof-Angestellte.

Vielleicht hätte er besser gar nichts gesagt, denn die Berta tat sich mit Kritik an ihrer eigenen Person etwas schwer. Sie war pensionierte Bürgermeister-Sekretärin und daher mit einem ziemlich soliden Selbstbewusstsein ausgerüstet.

»Ja, genau, aber ihr vom Bauhof, ihr seid ja die Allerfleißigsten … ach, rutsch mir doch den Buckel runter, Scharnagl. Nimm deinen Schubkarren und geh weiter jetzt.«

Schon stapfte sie voraus und blieb nur ab und zu an einer ihrer Meinung nach, lebensgefährlichen Stelle, stehen. Hansi teilte diese Auffassung von »Gefahr« in diesem Falle nicht, aber in Gottes Namen, dann verteilte er halt zwei Schaufeln Kies auf die Gefahrenstelle – damit Ruhe war. Außerdem wollte er nicht so schnell wieder zurück zu den Hundetoiletten. Langsam fand er es außerdem doch recht amüsant, das Treiben zu beobachten. Man konnte hier und da einen kleinen Ratsch halten und so verging die Zeit bis zum Feierabend recht zügig.

Neben den zahlreichen aufgeregten Hausfrauen, die die möglichst tiefschwarze Erde auf ihren Gräbern sogar teilweise mit der Wasserwaage glätteten, waren auch ein paar alleinstehende Herren zugange, die sich allerdings ein wenig unbeholfen anstellten. Sie hatten nun mal keine Dame an der Hand, die sich um die Grabpflege kümmerte, und der ortsansässige Gärtner hätte garantiert einen saftigen Allerheiligen-Zuschlag auf die Rechnung gesetzt, also mussten sie wohl oder übel selbst ran.

Hansis bester Freund Sepp war so ein Fall. Er war ein ganz besonderer Mensch und außerdem Hansis Lieblingskollege. Sepp Müller war äußerst intelligent und handwerklich ein Genie. Er hatte sogar ein paar Semester Chemie und Maschinenbau studiert, bis er wohl ein wenig aus der Bahn geworfen wurde. Natürlich war eine Frau daran schuld gewesen. Die heutige Metzgereibesitzerin Maria Aschenbrenner hatte ihm damals das Herz gebrochen. Weiber halt!

Der Sepp kam irgendwann vor ein paar Jahren nach längerer Abwesenheit wieder zurück nach Unterfilzbach und arbeitete seitdem Seite an Seite mit Hansi am Bauhof. Er war schon ein armer Kerl, der Sepp, fand der Scharnagl. Seine Eltern waren schon lange verstorben und eine Frau hatte er seit der Sache mit Maria nicht mehr angeschaut. Geschwister hatte er auch keine, nur seinen Kater Willy. Hansi und die Scharnagls hatten ihn aber gern in den Schoß der Familie aufgenommen. Sepp war zwar allein, aber sehr beliebt im Dorf. Seine ruhige und besonnene Art kam überall gut an. Außerdem war er Erster Kommandant der Freiwilligen Feuerwehr Unterfilzbach und behielt immer einen kühlen Kopf, auch in Stresssituationen. Somit war er schon mal grundsätzlich einer von »den Guten«. In persönlichen Dingen war er allerdings eher zurückhaltend und verschlossen.

»Öha, des schaut aber wirklich super aus, Sepp«, zollte Hansi ihm Respekt für sein wirklich schön bepflanztes Familiengrab. Sogar das kann er, dachte Hansi anerkennend.

Hilfsbereit, wie der Müller nun einmal war, half er auch seinem Nachbarn, dem Weiderer Erwin, sein Grab ein wenig allerheiligentauglich zu machen. Auch der Erwin war ein alleinstehender Herr, der neben Sepp am Ortsrand ein kleines altes Häuschen bewohnte. Er war bereits in Rente, eigentlich noch topfit, aber als pensionierter Postbote nicht abgeneigt, wenn er Arbeiten delegieren konnte, am liebsten an den gutmütigen Sepp.

Nach einer informativen Plaudereinheit des Herrentrios gingen Hansi, Sepp und Erwin wieder ans Werk. Sepp ordnete an, dass Erwin wenigstens die frisch angepflanzten Alpenveilchen gießen könnte, und drückte ihm eine Gießkanne in die Hand.

Hansi beobachtete Sepp gerade dabei, wie dieser gekonnt und fachgerecht die Kletterrose am Weiderer-Grab zuschnitt, als ein lauter Schrei über den Friedhof schallte. Aus der Ferne konnten Sepp und Hansi sehen, wie sich vier Grabreihen weiter in Sekundenschnelle eine kleine Menschentraube bildete. Natürlich mussten sie da gleich einmal nachschauen, denn der Bauhof war ja irgendwie für alles zuständig. Also eilten die zwei Bauhof-Sheriffs in Richtung Menschenauflauf.

Der Weiderer Erwin war mit seiner Gießkanne auf dem frisch aufgekiesten Friedhofsweg ausgerutscht und hielt sich jetzt seine Hüfte fest, während er lautstark jammerte. Vielleicht hatte es Hansi doch ein wenig zu gut gemeint mit dem Aufbessern des Wegebelags.

»Ruft vielleicht jemand a mal einen Sanka!?«, übertönte jetzt Berta das aufgeregte Stimmengewirr.

»So, das hast jetzt davon, Berta! Jetzt ist was passiert, weil zu viel Kies auf dem Weg war. Wegen dir ist der Erwin jetzt hingefallen«, rief Hansi leicht aufgeregt.

Das musste jetzt sein, dachte sich Hansi, die Hinkhoferin, das alte G’scheidhaferl. Immer musste sie alles besser wissen. Das geschah ihr grad recht. Ein ganz ein schlechtes Gewissen soll sie plagen, die alte Bissgurken, ein ganz ein schlechtes, echauffierte sich Hansi gedanklich.

Der Sanka kam mit einiger Verspätung, weil sich die Parkplatzsituation rund um den Friedhof inzwischen nicht verändert hatte. Zwei schimpfende und fluchende Sanitäter transportierten den immer noch herzerbärmlich jammernden Erwin ab ins Kreiskrankenhaus. Verdacht auf Oberschenkelhalsbruch.

Die Sanitäter waren stockgrantig. Sie mussten Erwin auf der Trage fast bis zum KaufGut-Supermarkt schleppen, weil partout kein Parkplatz für den Sanka zu finden war. Kurzerhand hatten sie daraufhin die Polizeiinspektion angerufen und es hagelte nur so Strafzettel. Berta traf es dabei am schwersten, ihr feuerroter tiefergelegter Scirocco Sportflitzer wurde aus der Feuerwehranfahrt abgeschleppt. Da half auch Bertas wüstes Beschimpfen der Polizeibeamten nichts.

Genüsslich lächelte Hansi seiner Lieblingsfeindin zu, als er mit dem Unimog an ihr vorbei zurück in Richtung Bauhof tuckerte.

Am frühen Morgen des 1. Novembers war Bettina zwar nicht mehr im Grabdeko-Stress, dafür wirbelte sie jetzt aber hektisch durch die heimische Küche, denn im Anschluss an den Gottesdienst am Friedhof kamen jährlich traditionell die ganzen Verwandten der Scharnagls zum Kaffeetrinken vorbei, sozusagen zur After-Allerheiligen-Party. Deshalb war Frau Scharnagl bereits seit vier Uhr morgens auf den Beinen und schob einen Kuchen nach dem anderen in ihren Ofen. Ganze sechs Kuchen standen wohlduftend auf dem Küchentisch. Karottenkuchen, Marmorkuchen, Eierlikörtorte, Gewürzschnitten, Schmandkuchen und ein Rotweinkuchen waren bereit für die Invasion der »buckligen Verwandtschaft«. Das war sicherlich – genau wie jedes Jahr – viel zu viel an Gebäck, aber Bettina war gerne auf der sicheren Seite … nicht, dass jemand hungern musste. Was sagen denn da d´Leut?

Hansi mochte die Allerheiligen-Nachmittage mit seinen Brüdern, Schwagern und Schwägerinnen, Neffen und Nichten. Die Scharnagls und auch die angeheirateten Schlessingers auf Bettinas Seite, waren eine recht zünftige Truppe und sie saßen immer recht lange zusammen, ratschten und lachten.

Aber vorher musste Hansi erst noch den offiziellen Hauptprogrammpunkt des Tages hinter sich bringen, den Freiluft-Gottesdienst am herausgeputzten Friedhof. Von allen Seiten strömten die Unterfilzbacher und deren Besucher gegen frühen Nachmittag in Richtung Gottesacker. Dicht gedrängt drückten sich die Menschen durch das eiserne kleine – und nun nicht mehr ganz einwandfrei lackierte – Eingangstor und schoben sich über die frisch aufgekiesten Wege. Hansi kam dabei jedes Jahr der Gedanke, dass genau jetzt der absolut passende Zeitpunkt wäre, einen großen Raubzug durch den Ort zu starten, denn in dieser halben Stunde war wahrscheinlich keine »alte Sau« daheim, dachte Hansi, alle waren ja hier. Aber der ehrliche Unterfilzbacher war weit entfernt vom kriminellen Milieu. Das hätte er schon rein nervlich gar nicht ausgehalten, und so blieb es eines von vielen kreativen Gedankenspielen des Hansi Scharnagl.

Der Friedhof platzte also aus allen Nähten und wurde somit einmal im Jahr zum »Place to be«. Sehen und gesehen werden quasi. Der Föhnwind blies von den Alpen herüber und brachte auch noch ein paar warme Sonnenstrahlen mit sich, für November zwar angenehm, aber viel zu warm. Wegen des »Place to be« und so weiter sahen sich einige Unterfilzbacher nämlich gezwungen, ihre neue – oder die alte, aber dafür sauteure – Wintergarderobe auszuführen, was recht lustig mitanzusehen war, denn wegen der vierzehn Grad plus liefen so manch einer aufgetakelten Pelzmantelträgerin vereinzelt die Schweißperlen über die frisch geschminkte Stirn.

Aufgebrezelt standen die Unterfilzbacher Katholiken somit pünktlich und andächtig an den Gräbern ihrer Vorfahren. Die MUMUS – ausgesprochen hieß das Musikverein und Marschkapelle Unterfilzbach, aber da der Kapellenname für einen Niederbayern schier endlos lang war, wurde er im gängigen Sprachgebrauch meistens abgekürzt – spielten natürlich andächtige Blasmusik und Pfarrer Birnböck hielt einen ebenso andächtigen Wortgottesdienst ab, der über das neue kircheneigene Mega-Megafon live vom Leichenhausvorplatz an die Gräber übertragen wurde.

Hansi ließ seinen Blick durch die Reihen schweifen und versuchte dabei so andächtig wie möglich zu wirken. Dabei musste er unweigerlich beim großen und wirklich prächtigen Brandl-Grab genau eine Reihe vor ihm innehalten. Die Familie Brandl stammte eigentlich aus Unterfilzbach, deswegen war hier auch das Familiengrab angesiedelt, aber Alfons Brandl, auch Fonsi genannt, hatte sich vor vielen Jahren mit seiner Firma für Feuerlöscher und Brandbekämpfungshilfsmittel aller Art in Oberfilzbach selbstständig gemacht. Ein paar Unterfilzbacher nahmen ihm das noch heute übel, denn die Feindschaft zwischen den beiden Nachbardörfern war legendär. Und die Oberfilzbacher hatten die Gewerbesteuer eines hart arbeitenden gebürtigen Unterfilzbachers nicht verdient – meinten die Bürger aus Unterfilzbach, aber zu dieser Zeit waren halt die wirtschaftlichen Bedingungen in Oberfilzbach besser und Alfons zog aus seiner heimischen Garage, in der er damals noch allein hantiert hatte, nach Oberfilzbach um. Ein Grundstück im Oberfilzbacher Gewerbegebiet wurde ihm von der Gemeinde fast geschenkt und als junge expandierende Firma war das logischerweise eine gute Gelegenheit für den Bau eines kleinen Firmengebäudes.

Der Brandl Fonsi war ein gewiefter Tüftler und als alter Feuerwehrler war er von Kindesbeinen an schon in diese »Szene« involviert. Es war nun fast genau dreißig Jahre her, da hatte der heute Achtundsechzigjährige Alfons mit stolz geschwellter Brust ein Patent beim Patentamt München angemeldet. Er hatte lange herumexperimentiert und schlussendlich erfolgreich einen Löschschaum entwickelt, der um ein Vielfaches effizienter und umweltverträglicher war als alles, was damals auf dem Markt zu haben war. Als gelernter Klärwärter hatte er auch ein Basiswissen, das ihm bei seiner Löschschaum-Tüftelei ganz nützlich gewesen war. Die Brandl-Feuerlöscher schlugen ein wie eine Bombe und die Firma wuchs und wuchs. Alfons hatte seine Arbeitsstelle in der Unterfilzbacher Kläranlage natürlich gekündigt und gründete seine eigene Firma, die Brandl Brandbekämpfung GmbH & Co. KG – kurz die BBB.

Inzwischen war die BBB dick im Geschäft und zu einer Firma mit fast dreihundert Mitarbeitern herangewachsen. Der alte Brandl hatte über die Jahre nicht aufgehört zu tüfteln und entwickelte seine Erfindung immer weiter oder erfand gar Neues hinzu. Er war ein fleißiger, sympathischer und angenehm ruhiger Mann, der aber seinen Wohlstand nicht zur Schau stellen musste, so wie manch andere es getan hätte. Hansi mochte ihn. Verheiratet war der Alfons mit Margarethe – genannt Gretl – Brandl. Soviel Hansi wusste, ging es der Gretl aber nicht sonderlich gut. Gerüchteweise war sie schwer krank und konnte seit Kurzem das Bett nicht mehr verlassen. Sie stand nicht mit am Grab, bemerkte Hansi, als er sich ein wenig neugierig streckte, um nachzuschauen. Neben dem Alfons stand lediglich der einzige Sohn des Paares, der Karl. Der Brandl-Sprössling war allerdings im Gegensatz zu seinem Vater nicht unbedingt bescheiden oder gar fleißig. Karl trug seinen Wohlstand nur zu gerne zur Schau. Er fuhr die größten und teuersten Autos, trug die angesagtesten – dafür aber geschmacklosesten – Designerklamotten und war neben seinem Pro-forma-Beruf in der BBB die meiste Zeit über als Playboy unterwegs. Der Mittvierziger war deswegen auch immer noch unverheiratet. Wie man so schön sagt, »ließ er die Sau raus« wo es nur ging.

Als Hansi die Brandls so beobachtete, wurde ihm wieder einmal klar, dass Geld nicht glücklich machte, denn so sahen weder Karl noch Alfons aus. Sicher lag es aber hauptsächlich an der Sorge um die kranke Gretl, vermutete er.

Nach weiteren Analysen der Personen an den umliegenden Gräbern stieg nun ein freudiges Gefühl in Hansi auf, denn er erblickte den Unterfilzbacher Pfarrer, der mit einer »vatikangroßen« Heerschar von Ministranten durch die Reihen zog und die Gräber segnete. Scharnagl freute sich nun nicht unbedingt so sehr, weil er Pfarrer Birnböck so gerne mochte, aber das »Gesegne« war sozusagen das Finale, der Endspurt und gleich war es vorbei. Hansi konnte sich dann endlich auf Bettinas Kuchen stürzen, denn ein Mittagessen gab es an Allerheiligen aus Stressgründen auch nicht im Hause Scharnagl und Hansi war regelmäßige Nahrungsaufnahme sehr wichtig. Nach kurzem Small Talk auf und um den Friedhof herum löste sich die katholische Freiluft-Versammlung auch recht zügig auf und alle zog es nach Hause zu frischem Kaffee und Kuchen.

Eine illustre Runde aus Scharnagls und Schlessingers aller Altersgruppen traf nun nach und nach im Partykeller des Hauses in der Birkenstraße ein. Aus München, Passau oder auch nur aus dem Nachbardorf Fichtenberg kamen sie jetzt angereist. Hansi freute sich jedes Jahr wieder, dass er mit all seinen Verwandten gut auskam, auch wenn man sich das Jahr über nicht oft sah. Außerdem war diese Runde immer äußerst informativ, wenn es um soziale Neuigkeiten aus der Region ging. Die Hinkhofer Berta hätte ihre wahre Freude daran gehabt.

Zuerst einmal wurden die neuen Freunde beziehungsweise Freundinnen der Teenager-Neffen und -nichten ausdiskutiert und deren familiäre Herkunft genau recherchiert.

»Das ist doch der Bub von der Gschwendtner Erika ihrer Schwester ihrem zweiten Mann. Der mit der großen Nase, der erst mit der Loibl Hildegard zusammen war. Weißt schon, der, der dann beim Schwarzarbeiten vom Dankesreiter Paul anzeigt worden ist.«

»Ach ja, genau der. Ich hab‘s mir eh fast schon gedacht, wegen der Mordstrumm Nasen.«

Dann kam man auch schon wieder auf die internen Unterfilzbacher Dorfgeschichten zurück. Da wusste zum Beispiel Bettinas Cousine Emma, die als Krankenschwester im Kreiskrankenhaus arbeitete, zu berichten, dass beim Weiderer Erwin tatsächlich ein komplizierter Oberschenkelhalsbruch diagnostiziert worden war, den der »Friedhofswegerl-Unfall« verursacht hatte. Hansi empfand natürlich gleich männliches Mitgefühl für den armen Erwin, aber auch wiederum Schadenfreude wegen der Berta, der Bissgurken, der oberschlauen. Ein schlechtes Gewissen sollte sie plagen, die ganze Nacht lang. Da der Weiderer ja ohne familiären Anhang war, war es ein Glück, dass der pensionierte Postbotenbeamte einen fürsorglichen Nachbarn namens Sepp Müller hatte. Der würde sich schon um den Erwin kümmern, so wie er es halt immer tat, da waren sich alle Anwesenden einig.

Außerdem wusste die redselige Emma – der die Schweigepflicht offenbar am Arsch vorbeiging – dass die arme Brandl Gretl schon austherapiert war. Was leider nicht bedeutete, dass sie geheilt war, sondern dass die Mediziner sie aufgegeben hatten und man ihr nur noch die letzte Zeit so angenehm wie möglich gestalten konnte. Sie hatte wohl Krebs im Endstadium und es war nur noch eine Frage von Tagen.

»Mei, die arme Gretl. Ihr ganzes Leben lang haben sie und ihr Fonsi gearbeitet und jetzt, wo sie sich ein schönes Leben machen hätten können … wirklich tragisch«, war Bettina voller Empathie.

»Ja schon, aber wer hätte sich dann um die Firma gekümmert, wenn der Fonsi und die Gretl das Leben genossen hätten? Der Berufssohn Karl vielleicht?«, sprach Onkel Hubert zynisch mit hochgezogener Augenbraue in die Lästerrunde.

Der Onkel Hubert musste es ja wissen, dachte sich der Hansi, er hatte ja jahrelang bei der BBB als Betriebshausmeister gearbeitet, aber zur Sicherheit fragte Hansi doch noch mal nach. »Ja, ist er denn wirklich so stinkert faul, wie alle immer erzählen?«

»Ha, der ist nicht nur stinkert faul, sondern auch ein aufgeblasenes, eingebildetes Arschloch. Wenn der Fonsi einmal nimmer ist, dann geht die Firma sowieso den Bach runter. Das sag ich euch«, empörte sich Onkel Hubert über seinen ehemaligen Juniorchef. Er war ganz offensichtlich kein Fan vom Brandl Karl.

Tante Silvia interessierte sich hingegen eher für die zwischenmenschlichen Dinge des Lebens. »Du, Hansi, was ist denn jetzt eigentlich mit dem Sepp und der Aschenbrenner Maria?«

»Pfffff«, antwortete Hansi ein wenig überfragt.

Er wusste überhaupt nicht, was er anderes darauf hätte sagen sollen, so verfahren war die Sache inzwischen schon. Zum einen war vom Sepp zu diesem Thema nicht viel zu erfahren, zum anderen gab es wohl immer wieder einmal große Kommunikationsprobleme zwischen dem potenziellen Pärchen. Wenn der Beziehungsstatus »es ist kompliziert« irgendwo passte, dann sicher bei Sepp und Maria.

Der Bauhofangestellte und Erste Feuerwehrkommandant hatte seit geraumer Zeit schon eine »Beziehung in der Anbahnung« mit seiner Jugendliebe am Laufen, der getrennt lebenden Metzgereibesitzerin Maria Aschenbrenner. Aber es ging irgendwie nicht vorwärts. »Do geht nix« – hätte der Bayer die Situation vielleicht kurz und treffend beschrieben. Seit Monaten schon war es ein ewiges Hin und Her und ein Auf und Ab. Hansi und Bettina, die das ganze Drama als jeweils beste Freunde der zwei quasi begleiteten, gaben die Hoffnung langsam auf, denn die Verliebten stellten sich an wie hochgradig pubertierende Teenager. Und als Eltern von drei fast erwachsenen Kindern wussten die leidgeplagten Scharnagls, was das bedeutete.

Hansi wusste aber inzwischen sicher, dass es wohl wirklich die große Liebe gewesen sein musste beziehungsweise wohl auch immer noch war. Denn als der Sepp vor über fünfundzwanzig Jahren in München studierte und die Maria dort gleichzeitig einen Kurs für Buchführung absolvierte, war es wohl passiert. Die große Explosion der Gefühle. Fast drei Monate schwebten die zwei auf Wolke sieben, bis Maria sehr überraschend feststellte, dass sie schwanger war. Allerdings nicht von Sepp, sondern vom Vorgänger Reiner. Reiner Aschenbrenner, der Unterfilzbacher Metzgersohn, war mit Maria zuvor liiert gewesen. Das Ganze war natürlich beendet und Maria wusste eigentlich, dass sie ihr weiteres Leben mit dem Sepp verbringen wollte, bis sich eben ihr Sohn Emil mit zwei Strichen auf dem Schwangerschaftstest ankündigte. Das warf die Maria wohl ziemlich aus der Bahn. Sie war regelrecht verzweifelt und mit gerade einmal neunzehn Jahren auch mit der Situation völlig überfordert. In einer Art Kurzschlussreaktion brach sie dann jeden Kontakt zum Sepp ab und ging zurück zum Reiner. Marias Verschwinden war dann für Sepp wiederum eine Art »seelischer Genickbruch« und auch er ging wohl andere Wege.

Erst letzten Sommer gab es eine Aussprache zwischen den beiden, die sich bis dahin ignorierten und taten, als kannten sie sich nicht. Allerdings schwieg Sepp sich ausgiebig darüber aus, welche Wege er nach dem dramatischen Liebesaus gegangen war und wohin diese geführt hatten. Hansi fehlten ein paar Jahre in Sepps Lebenslauf. Irgendwann vor circa zehn Jahren war der Müller dann einfach wieder da gewesen, in Unterfilzbach, und eigentlich zählte für Hansi auch nur das.

Das alles ging ihm nun gerade durch den Kopf, als er über Tante Silvias Frage sinnierte. Er entschloss sich aber dann doch zu antworten. »Mei, ich weiß es eigentlich auch nicht, Silvia.«

Das Verwandtentreffen ging dann später von Bettinas üppiger Kuchenauswahl zum kleinen kalten Büfett mit Wurstsalat, Obazdem und Sülze über. Der harte Kern löste sich erst kurz vor Mitternacht recht bierlaunig auf und somit hatte Allerheiligen wieder einmal einen zünftigen Abschluss gefunden.

Ein paar Tage später machte der Tod von Gretl Brandl recht schnell die Runde. Die Menschen in Unterfilzbach und Umgebung waren sehr bestürzt. Das war auch kein Wunder, wenn eine Person ihres Kalibers verstarb. Die Gretl war sehr angesehen. Sie war eine nette, kleine, bescheidene Frau. Ihr Markenzeichen war ihr »Schnopf« – die jungen Mädels würden heutzutage »Dutt« dazu sagen –, zu dem sie ihre grauen Haare immer streng nach hinten gebunden hatte. Streng war sie aber beileibe nicht, sie arbeitete selber fleißig in der Firma ihres Mannes mit und hatte für die Angestellten immer ein offenes Ohr. Nahezu jeder aus der Gegend hatte einmal beim Brandl gearbeitet oder kannte jemanden, der dort gearbeitet hatte, oder war mit jemanden verwandt, der das hatte. Eine ganzseitige Todesanzeige in der Filzbacher Rundschau brachte dann die endgültige Bestätigung. Die Gerüchte über das Ableben der Seniorchefin der Firma Brandl Brandbekämpfung GmbH & Co. KG waren somit offiziell.

Wenn ein Mensch regional so bekannt und beliebt war, ist es nur selbstverständlich, dass die Beerdigung ein entsprechendes Ausmaß annahm. Eine Art niederbayerisches Staatsbegräbnis wurde anberaumt. Ganze drei Rosenkranzgebete wurden nötig, um allen Trauernden auch die Gelegenheit zu geben, Abschied zu nehmen. Die Unterfilzbacher Kirche platzte dabei fast aus allen Nähten.

Das Requiem war dann ebenso überlaufen. Gott sei Dank war es ein immer noch ungewöhnlich warmer Mittwoch für den Monat November. Aber die knapp fünfzehn Grad plus ließen es glücklicherweise zu, die Kirchentüren beim Trauergottesdienst offen zu lassen. Die Menschen standen in kleinen Trauben auch außerhalb der Kirche, so groß war der Andrang. Der Mesner platzte fast vor Stolz, als er sein nigelnagelneues Mega-Megafon erneut zum Einsatz bringen konnte und der Trauergottesdienst sogar nach draußen übertragen wurde, quasi live. Das Ganze hatte etwas von Vatikan und Petersplatz, nur halt in der Unterfilzbacher Größenordnung.

Böse Zungen hätten jetzt behauptet, dass nicht nur das tiefe Mitgefühl und die Anteilnahme an Gretls Tod so viele Menschen zum Kommen animierte, vielleicht war es bei manchen doch auch der großzügige Leichentrunk, der im Anschluss an die Trauerfeier stattfand. Man wusste es nicht genau. Der große Dorfwirtssaal wurde dafür vom Witwer Alfons gebucht und alle waren »frei«, so die Ansage. Dieses kleine Adjektiv »frei« war in Bayern so etwas wie die Aufforderung zu »all you can eat«, nur dass man hier nicht einmal die Pauschale selber bezahlen musste.

Traditionell gab es bei fast jedem Leichentrunk in Niederbayern immer zwei Gerichte zur Auswahl. Schnitzel oder Schweinebraten. So auch hier in Unterfilzbach, eh klar. Denn nichts verunsichert einen Niederbayern mehr als marginale Abweichungen von uralten Traditionen, in diesem Fall vom Schweinernen und vom Schnitzel. Da tat er sich mit großen Veränderungen, wie beispielsweise der Wiedervereinigung Deutschlands oder die Einführung des Euro, nicht ganz so schwer, der Niederbayer, als wenn es jetzt bei einem Leichentrunk plötzlich Spaghetti Bolognese oder so was gegeben hätte. Die Niederbayern sind halt ein besonderes Volk.

Wie dem auch sei, schon wieder strömten die Menschen in Scharen herbei. Diesmal von der Dorfkirche direkt in den Dorfwirtssaal. Die Wirtsleute Herbert und Barbara waren allerdings gut organisiert und hatten natürlich mit diesen Menschenmassen gerechnet.

Da die Firma Brandl vor allem auch mit Kundschaft aus dem Milieu der Brandbekämpfungsszene zu tun hatte, waren auch jene in großer Anzahl vertreten. Aus dem ganzen Landkreis kamen die Freiwilligen Feuerwehren in großen Abordnungen nach Unterfilzbach, um der Gretl die letzte Ehre zu erweisen. Und wie das halt einmal so war, wenn viele Feuerwehrler auf einen Haufen versammelt waren, dann wurde es meistens recht zünftig, das ging irgendwie gar nicht anders. Sogar einem eigentlich andächtigen und betrübten Leichentrunk verliehen die Kameraden in Festtagsuniform früher oder später einen gewissen Stimmungskick. Nicht sofort, aber nach und nach. Meistens stieg die Laune parallel zur ausgeschenkten Literanzahl der alkoholischen Freigetränke.

Aber nicht nur die ehrenamtlichen Brandbekämpfer waren in großer Quantität präsent, zu einem niederbayerischen Leichentrunk kamen erfahrungsgemäß auch Menschen, die quasi die Leiche – in diesem Fall die Gretl – nur vom Sehen her kannten. Das lag daran, dass es Menschen in Unterfilzbach gab, meistens in der Altersgruppe Ü80, die grundsätzlich auf jede Beerdigung gingen, weil sie es als eine Art altersgerechtes Event ansahen, so wie zum Beispiel die »ledige Fannerl«.

Die Fannerl, alias Franziska Straubmeier, residierte mit ihren achtundachtzig Jahren zwar im Altersheim »Zum ewigen Licht« und bekam dreimal täglich ihre Mahlzeiten serviert, aber der Schweinebraten dort war nicht nach Fannerls Gusto. Sie betitelte ihn sogar immer mit »furchtbarsaugreislig«. Deshalb hatte der Besuch einer Beerdigung sowie der dazugehörige Schweinebraten auch manchmal einen ganz unemotionalen Beweggrund, zumindest für »Beerdigungstouristen« wie die Fannerl.

Die Unterfilzbacher Feuerwehr jedoch hatte durchaus eine tiefgründigere Motivation für die Teilnahme an der Trauerfeier als die freie Verpflegung. Es war eine logische Konsequenz der Ehrerweisung für die ehemalige Fahnenmutter Gretl – Gott hab sie selig – und das nun verwitwete Ehrenmitglied Alfons. Aber gut, außerdem waren da ja trotzdem noch das Freibier und die Schnitzel …

Als Erster Kommandant der Heimatwehr hielt natürlich Sepp, stellvertretend für alle Landkreisfeuerwehren, einen Nachruf auf die Gretl. Im Anschluss an das Requiem in der Kirche rührte er die Trauergemeinde zu Tränen. Auch wenn der Sepp normalerweise kein Mann der großen Worte war, so war in diesem Fall seine Rede doch so emotional und feinfühlig, dass sich einige ein Schluchzen nicht verkneifen konnten. Auch Alfons und sein missratener Sohn Karl heulten natürlich Rotz und Wasser. Hansi wurde manchmal ein wenig neidisch, wenn eine Situation wie diese auftrat, in der er sich dachte: Herrgottsakara, der Hund kann einfach alles.

Unter den vielen ergriffenen Trauergästen war jedoch einer nicht ganz so gerührt von Sepps Worten, nämlich Fritz Kronschnabl. Der Fritz war schon länger Sepps Konkurrent, meinte zumindest der Fritz. Wobei er als Zweiter Feuerwehrkommandant eigentlich mit seinem »Chef« ein gutes Team hätte bilden sollen. Aber Teambuilding war überhaupt nicht dem Fritz das Seine. Im Schützenverein hatte er es zwar sogar zum Ersten Schützenmeister bei den Böllerschützen gebracht, aber dieser Teamgeist, den er damals kurzzeitig an den Tag gelegt hatte, hielt nur bis zur Wahl. Inzwischen wendete sich das Blatt innerhalb der Böllerschützen und »hintenrum« lief sogar schon eine Art »Schützenmeister-Amtsenthebungsverfahren«. Es hatte dem Fritz nämlich immer schon gefallen, wenn er lautstark durch die Gegend ballern konnte. Allerdings ballerte er den anderen Böllerschützen inzwischen zu viel, denn die streng zugeteilte Menge an Schwarzpulver für die Vorderladergewehre, das der Schützenmeister eigentlich für den gesamten Verein verwalten sollte, war vor sechs Wochen plötzlich aus gewesen. Was dann blöd war, denn es gab innerhalb eines Jahres nur eine bestimmte Menge, die den Schützen zugeteilt wurde. Bisher war das immer ausreichend gewesen und es war in der Vereinsgeschichte eigentlich noch nie vorgekommen, dass das Schwarzpulver nicht einmal mehr für einen einzigen Salutschuss auf einer Beerdigung gereicht hatte. So viele Bürger waren in Unterfilzbach noch nie zeitlich so eng aufeinander gestorben, dass die Munition tatsächlich ausgegangen wäre. Da haben die Schützen dumm geschaut damals, als bei der Beerdigung vom Schmied Max auf einmal kein Schwarzpulver mehr da war. In voller Montur standen sie am Grab, aber ohne Munition. Der Fritz meinte nur: »Oha, g‘langt nimmer«, als die Schwarzpulverkiste dann leer war.

Seitdem war die Stimmung im Schützenverein nicht mehr so bombig. Deswegen war auch ganz Unterfilzbach schon gespannt wie ein Regenschirm, wie sich das zwischenmenschliche Klima bei der Feuerwehr weiter entwickeln würde, denn der Fritz machte kein Geheimnis aus seiner Abneigung gegen den Sepp. Im Grunde genommen war er einfach ein kleiner giftiger Stinkstiefel, ein »Muhagl«, wie man in Bayern dazu sagte. Fritz und seine Familie waren schon ein wenig sonderbar, fand auch der überwiegende Teil der Unterfilzbacher Bevölkerung. Genau wie der Fritz waren seine Frau Heike sowie seine pubertierenden Kinder Jamal, Samantha und der verzogene kleine Rotzlöffel Winnetou ewige »Grantler«. Isabelle, die Scharnagl-Erstgeborene und Starfriseuse in Karins Friseur Stüberl, war immer furchtbar genervt, wenn Heike und ihre »Brut« wieder den halben Friseursalon lahmlegten.

»Also ich hätt es ja nie gedacht, dass es so was gibt, gell. Aber bei den Kronschnabln sind sogar die Kinder schon Deppen«, schimpfte sie erst letztens wieder beim gemeinsamen Familienabendessen. Aber der Apfel fällt wohl auch in Sachen Liebenswürdigkeit nicht weit vom Stamm.

Die allgemeine Anschauung innerhalb der Feuerwehr war, dass der Fritz dem Sepp niemals das Wasser reichen könnte. So genau wusste eigentlich keiner, warum der Fritz ausgerechnet auf den Sepp so besonders giftig war, mehr noch als auf alle anderen. Im Müller Sepp hatte er wohl eine große Projektionsfläche für seine gesamte Aggression und Lebensunzufriedenheit gefunden. Warum das so war, fragte sich eigentlich keiner der Feuerwehrler. Männer machten sich da ja nicht so viele Gedanken über die Gründe einer Antipathie wie das andere Geschlecht, also die Frauen. Er kann ihn halt nicht leiden – Punkt.

Bettina und Maria hingegen hatten diese problematische Beziehung einmal bei einem Kaffeekränzchen aus der Ferne »aufgearbeitet« und kamen zum Resümee, dass vermutlich der ursächliche Grund der gewesen sein musste, dass Fritz eigentlich auch Feuerwehrkommandant werden wollte. Schon immer. Er sah sich auch fast am Ziel seiner Träume, damals bei der letzten Wahl im Feuerwehrhaus vor über fünf Jahren. Allerdings war zu dieser Zeit der Sepp seit ein paar Jahren wieder in Unterfilzbach sesshaft geworden und mit seiner Art bei den Dorfbewohnern gleich auf große Sympathie gestoßen. Sepp hatte sich gleich recht schnell wieder tatkräftig bei der Feuerwehr engagiert, wie auch schon zu seiner Jugendzeit. Und eben bei dieser legendären Versammlung mit Neuwahl hatte dann ausgerechnet der Brandl Fonsi den Sepp als Kommandanten vorgeschlagen. Eigentlich war die Wahl vom Kronschnabl ja fast schon sicher gewesen, aber mit Sepps Kandidatur hatte keiner gerechnet, nicht mal er selber.

Aber den Sepp musste man einfach mögen und zack, war er Erster Kommandant und Fritz eben nur Zweiter. Und seitdem war der Kronschnabl nicht gerade ein Sympathisant vom Müller. Es war so ungefähr wie bei der Berta und dem Hansi. Die ganze Situation steigerte sich stetig, weil es eben kein klärendes Gespräch gab, so wie das Frauen machten, bevor sie sich dann meistens heulend in die Arme fielen, nachdem sie die Streitpunkte bei einer Flasche Prosecco diskutiert hatten. Das fehlte eben bei Sepp und Fritz, mutmaßten die zwei Freundinnen Bettina und Maria, als sie ihre psychologischen Untersuchungen abschlossen. Hansi hatte diesem Frauengespräch amüsiert gelauscht und mit der typischen Sichtweise eines Mannes großes Unverständnis über derartige Herangehensweisen des weiblichen Geschlechts an etwaige zwischenmenschliche Probleme geäußert.

»Also wenn es da ein Gespräch geben sollte, dann höchstens eins mit einer zünftigen Rauferei. Reden bringt einen da nicht mehr recht weiter«, war sein Kommentar beim damaligen Kaffeeplausch.

Wenn Fritz auf den heutigen »wundervollen« Gretl-Nachruf von Sepp angesprochen wurde, entgegnete er nur genervt: »Ja du liebe Zeit, und so was findet ihr auch noch gut? Herrschaften, das ist der Kommandant! Das ist ja fast wie a weinerliches Weiberleut, wie sollen denn da die Männer von der Feuerwehr Respekt haben?«

Fritz beeindruckte es gar nicht, dass Sepp alle so beeindruckte. Er warf ihm laufend tötende Blicke zu, was aber den Ersten Kommandanten nicht weiter störte. Er hatte sich inzwischen längst damit abgefunden und nahm das Ganze mit seiner typischen stoischen Ruhe hin.

Ein unerwarteter Gast kam etwas verspätet im Rollstuhl in den Dorfwirtssaal hereingerollt. Der Weiderer Erwin hatte sich auf eigene Verantwortung selbst aus dem Krankenhaus entlassen, weil es ihm zum einen dort schon furchtbar fad war und zum anderen das »freie« Dorfwirt-Schweinerne und ein zünftiger Leichentrunk lockten. Der Erwin ging natürlich wie selbstverständlich davon aus, dass der Sepp sich um ihn kümmern würde, als ihn die Krankenschwester hereinschob und dann fluchtartig den Raum verließ.

Natürlich sorgte der Erwin mit seinem Auftritt im Rollstuhl sofort für Aufsehen. Das Mitleid war groß und er wurde nur so überschüttet von Genesungswünschen, was er natürlich dankend und theatralisch annahm. Jedoch hielt er sich dann gleich einmal an Sepp und ließ sich an dessen Tisch rollen. Sofort bestellte er in seinem unnachahmlich »freundlichen« Beamtenton einen deftigen Schweinebraten und eine Halbe Bier.

»Musst du denn keine Medikamente nehmen, Erwin? Ich weiß jetzt nicht genau, ob das nach deiner Operation schon so gut ist mit dem Alkohol und dem fetten Schweinernen«, fragte Sepp wie immer fürsorglich.

»Geh, geh, das passt schon, Sepp. Kümmer du dich nicht um mein Bier, ich weiß schon, was ich tu.«

Der Weiderer Erwin war im Prinzip für seine einundsiebzig Jahre sehr fit, wenn man von seinem momentanen Rollstuhl einmal absah. Er war zwar schon vor zweiundzwanzig Jahren in den krankheitsbedingten Ruhestand geschickt worden, aber bei dem Knochenjob eines Postboten war das ja kein Wunder, dass so was einen Körper auszehrte, erzählte Erwin allen, die dies infrage stellten.

Der Frührentner konnte sich nach seiner Pensionierung absolut auf sich selber konzentrieren und erholte sich dann auch recht schnell wieder von der postalischen Sklavenarbeit. Trotz seiner Arbeitsunfähigkeit im Postdienst konnte er nach kontinuierlichem Training jährlich zu einer Alpenüberquerung mit dem Mountainbike aufbrechen. Außerdem widmete er sich gerne dem Unterfilzbacher Gemeinderat, dem er schon einige Jahre angehörte. Und in vielen Vereinen war er ebenfalls aktiv. Da kam er wenigstens unter die Leut‘. Schließlich war er in der letzten Legislaturperiode auch noch zum ehrenamtlichen Zweiten Bürgermeister gewählt worden. Da kam er nicht nur unter die Leut‘, sondern bekam bei Goldenen Hochzeiten oder runden Geburtstagen sogar noch regelmäßig etwas Warmes zu essen. Für einen alleinstehenden Herren eine wunderbare Sache. Er trat allerdings dann vor ein paar Monaten von all seinen politischen Ämtern zurück, als er kurzzeitig einmal den Ersten Bürgermeister vertreten sollte, während dieser in Untersuchungshaft saß – aber das ist eine andere Geschichte. Den Rücktritt begründete er mit seinem angeschlagenen Gesundheitszustand. Da er aber dann bald darauf zu seiner alljährlichen Alpenüberquerung aufbrach, überlegten die Unterfilzbacher, ob er mit seiner »angeschlagenen Gesundheit« vielleicht seine geistige Verfassung gemeint haben könnte.

Inzwischen war es schon Abend geworden und im Dorfwirtssaal saß nur noch der harte Kern der Trauergemeinde. Manche wirkten nicht mehr ganz so traurig, aber trotzdem etwas angeschlagen, zumindest sprachlich und feinmotorisch. So ein langer Tag mit Freibier hinterließ halt auch beim stärksten Feuerwehrler seine Spuren.

Es hatten sich zwei Schafkopfrunden gebildet und eine Handvoll ratschende »Zuschauer« gesellte sich um die Spieler. Die Schaulustigen bei einem Schafkopf bezeichnete man in Bayern auch als »Brunzkartler«. Auf gut Deutsch bedeutete das: Wenn einen der Spieler die Blase drückte, dann gab es quasi Ersatzmänner an Ort und Stelle, die den Stammspieler dann in der Zeit seines Toilettengangs vertraten. Der korrekte Aufruf dazu hieß dann: »He, kannst du a mal aufsitzen?«

Unter den »Brunzkartlern« waren der Sepp – und somit auch der Erwin –, der Karl Brandl, der Fritz Kronschnabl, der Hansi und der Ashanti. Ja, richtig gelesen – der Ashanti. Das bedarf vielleicht ein klein wenig der Erklärung: Eigentlich wurde der Ashanti als Alois Amberger in Unterfilzbach geboren. Zu seinem exotischen Neu-Namen kam er, als er vom Versicherungsvertreter zum Yoga- und Kamasutra-Guru umgesattelt hatte, angeblich in einem indischen Aschram. Nun war der Ashanti zwar eigentlich eine gute Haut, aber halt eine besonders faule. Ein Lebemann, der es nicht unbedingt so sehr mit körperlicher Arbeit hatte und sich seinen Lebensunterhalt lieber von treuen Fans schenken ließ. Im Gegenzug »schenkte« Ashanti der Menschheit gerne viele Lebensweisheiten, extremistische Esoterikratschläge und wenn‘s grad pressierte auch einmal eine kurze Handauflegung gegen die schlechten Schwingungen und für gutes Karma. Nach seiner beruflichen Selbstfindung war er schließlich im Altenheim »Zum ewigen Licht« als Senior-Life-Coach gelandet, was im Prinzip mit einem Unterhaltungsanimateur für betagte Herrschaften gleichzusetzen war. Eine Hausmeisterwohnung war bei diesem Job inklusive, was dem glücklosen Ex-WG-Bewohner Ashanti sehr entgegenkam. Dass er dabei auch im Winter den Schneeräumdienst vor der Seniorenresidenz zu erledigen hatte, beziehungsweise im Sommer für die Mäharbeiten verantwortlich war, verdrängte er die meiste Zeit über sehr gekonnt. Zur Not bat er dann wieder einmal den gutmütigen Sepp um Hilfe. Ashanti hatte in den vergangenen zwei Jahren für reichlich Wirbel in Unterfilzbach gesorgt, aber auch das waren lange Geschichten. Inzwischen war es recht ruhig um den Esoterik-Guru geworden und es schien, als hätte er seine Bestimmung im Altenheim gefunden.

Der bierlaunige Ideenreichtum im Dorfwirtssaal brachte nun an diesem Abend die Erkenntnis zutage, dass es im Prinzip noch keine Evakuierungspläne für die Seniorenresidenz im Falle eines Notfalls wie Brand oder Ähnlichem gab. Alle Anwesenden waren der Meinung, dass dies absolut eine Aufgabe für einen Senior-Life-Coach wäre und dies schnellstmöglich erarbeitet werden sollte. Hansi wäre als Mitglied des Gemeinderats, Seniorenbeauftragter und alter Feuerwehrler als Fachberater geradezu prädestiniert gewesen. Die übrig gebliebene Trauergemeinde war vollends entzückt von dieser Idee, Ashanti und Hansi eher weniger. Hansi deshalb nicht, weil er Ashanti mit seinem Esoterikgelaber absolut nicht leiden konnte und es ihm regelrecht die Zehennägel aufrollte, wenn er mit seinen langen grauen Haaren und seinen Leinengewändern angetänzelt kam. Und Ashanti, weil er mit Druck und Verantwortung nicht wirklich umgehen konnte und das halt alles auch nach echter Arbeit aussah. Nach kurzem Schluchzen von Ashanti erklärte sich dann auch Sepp bereit, bei diesem Projekt mitzuwirken, damit hatte das Ganze eine professionelle Chance, um auch zu einem wirklichen Ergebnis zu führen. Denn Hansi und Ashanti hätten sich vermutlich wohl im männlichen Zickenkrieg aufgerieben. Der Plan war gefasst und im Prinzip musste Hansi zugeben, dass dies auf jeden Fall eine Notwendigkeit war, ob mit oder ohne Ashanti.

Der Kronschnabl Fritz ließ sich aber wie immer nicht von der Euphorie über dieses amüsante, aber sinnvolle Vorhaben anstecken und »seuferte« – oder auf gut Deutsch meckerte – über die fehlende Ernsthaftigkeit seiner Kameraden. Wie immer halt. Außerdem stellte er wiederholt fest, dass Sepp als Kommandant absolut ungeeignet war, wenn er aus solchen ernsten Dingen eine Art spaßige Belustigungsaktion machte. Aber er wurde nicht wirklich gehört, der alte »Seuferer« Fritz. Erst als Karl Brandl dem Kronschnabl recht gab, flaute das allgemeine Gelächter ein wenig ab und wich einer überraschten Stille. Das war schon sehr seltsam, wenn der Fritz auf einmal einen Unterstützer hatte und dann auch noch den Karl. Karls Themenkreis hatte sich bisher eigentlich immer nur um Autos, Frauen und Partys gedreht. So eine seriöse Seite an ihm war schon bemerkenswert und sehr unerwartet. War dies der Beginn einer neuen Männerfreundschaft? Oder wollte der Karl jetzt sein Image ändern?

Nachdem sich die Runde beim Dorfwirt gegen Mitternacht endlich aufgelöst hatte, plagte Sepp ein unglaublich schlechtes Gewissen. Der pflichtbewusste Sepp ließ das Auto natürlich stehen, denn er hatte ja einige Biere konsumiert.

Dem sonnigen Novembernachmittag schloss sich eine recht kühle und regnerische Novembernacht an. Das war eigentlich nicht so tragisch, denn Sepp machte das nichts aus. Aber seinem pflegebedürftigen Nachbarn Erwin in seinem Rollstuhl schon, vor allem wenn man bedachte, dass die beiden etwas abgelegen am Ortsrand wohnten. Und deshalb machten sich Sepp und Erwin auf den Heimweg zu Fuß beziehungsweise im Rollstuhl. Je durchnässter Erwin wurde, desto mehr schimpfte er auf den armen Sepp. Warum denn Sepp nicht vorausschauender gewesen war und sich so gehen lassen hatte? Schließlich hätte er ja ahnen können, dass Erwin zum Leichentrunk erscheinen würde und Sepp dann seine Pflege und auch den Heimtransport übernehmen »musste«.

Als Wiedergutmachung versprach der begnadete Handwerker, einige Renovierungsarbeiten an Erwins Haus – beziehungsweise Bruchbude – zu übernehmen. Der Sepp ahnte bereits, dass dies vermutlich ausarten würde, aber er war in dieser Nacht einfach nur froh, dass der Erwin endlich mit der Schimpferei aufhörte.

HEIßE NÄCHTE IN UNTERFILZBACH

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