Читать книгу Bemerkenswert normal - Eva Bilhuber - Страница 10

Оглавление

Ist das Normale noch zu retten?

Comeback eines verpönten Lebensentwurfs

Besondere Kennzeichen: Keine

Vielleicht kennen Sie das ja. Es gibt Momente im Leben, in denen wir uns fragen, ob die hundert entgegenkommenden Autos die Geisterfahrer sind oder wir selbst. Zum Beispiel wenn wir bei einem netten Abendessen im Freundes- und Bekanntenkreis sitzen und plötzlich feststellen, dass wir uns am Gespräch nicht mehr beteiligen können, weil wir immer noch keinen Marathon gelaufen sind, keinen Viertausender bestiegen oder keinen Abenteuerurlaub im Dschungel verbracht haben. Wenn wir uns ertappen, angesichts der Dreifach-Mama mit makelloser 36er-Figur den Bauch einzuziehen, und uns selbst verdammen, weil wir mal wieder die morgendliche Joggingrunde ausfallen lassen haben.

Wenn die servierten Gerichte ständig kommentiert werden mit «Also, wenn ihr wirklich mal etwas Gutes essen wollt, dann müsst ihr …» und wir hoffen, dass wenigstens die Ikea-Herkunft unseres Geschirrs unentdeckt bleibt. Genau wie das fehlende Label der 15-Euro-Bluse aus dem H&M-Ausverkauf, die wir gerade tragen. Wenn wir mit Gefühlen der Scham oder mindestens des Unbehagens kämpfen, weil wir mit den nur durchschnittlichen schulischen Leistungen unseres pubertierenden Sohnes beim Wer-hat-das-beste-Kind-Poker nicht mehr mithalten können.

Spätestens aber, wenn andere uns erzählen, wie sie ihren spektakulären Management-Job, bei dem sie dauernd um die Welt jetten, ganz locker mit ihrer Familie unter einen Hut bringen und es gleichzeitig auch noch schaffen, ein weltrettendes Start-up zu gründen, ihre Triathlonleidenschaft zu pflegen, und sich aufopferungsvoll für ein Afrika-Projekt zu engagieren, packt uns plötzlich der Selbstzweifel, ob nicht vielleicht doch wir der Geisterfahrer auf der falschen Spur sind. Und so hoffen wir insgeheim auf eine baldige Ausfahrt, die uns eine schnelle Flucht aus dieser Superhelden- und Superheldinnen-Community ermöglicht.

Wenn wir am Abend dann tapfer erschöpft aufatmen und glauben, endlich für einen Moment dieser permanenten Jagd nach gegenseitig überbietender Selbstdarstellung entkommen zu sein, reicht ein kurzer prüfender Blick in den Spiegel, den wir leider immer noch nicht zu vermeiden gelernt haben. Der Anblick unseres schwächelnden Bindegewebes im peinigenden Licht des Badezimmers ruft sie gleich schon wieder auf den Plan, die schmerzvolle Angst vor unserer Unzulänglichkeit. Es sind die Momente, in denen wir unweigerlich erkennen, dass es leider keinen Exit, kein Entrinnen gibt: Willkommen im Zeitalter der Selbstoptimierung!

XXL-Me

Wir fühlen uns wie im Dauer-Casting. Denn der Immer-besser-schöner-klüger-erfolgreicher-Imperativ unserer Selbstoptimierungsgesellschaft beschränkt sich nicht mehr nur auf die klassischen Bereiche von Ausbildung und Beruf. Kein Fleckchen auf unserem Körper, keine Hochzeit, kein Kindergeburtstag, kein Urlaub, kein Hobby, kein ehrenamtliches Engagement bleibt heute ungenutzt, um es nicht zum Jagdgebiet gegenseitiger Überbietung zu erklären. Egal, um was es geht, das Motto heißt mit inbrünstiger Kampfbegeisterung: «Da geht noch was».

Der Wettbewerb ist nicht mehr nur Motor unseres wirtschaftlichen, sondern mittlerweile auch unseres gesellschaftlichen Lebens geworden. In der Folge avancieren Hitlisten zu unserem Lebenselixier, völlig wurscht, ob in Form von «Mein Haus, mein Auto, mein Boot» oder «Meine Followers, meine Likes, mein Game-Level».

Fast unbemerkt frisst sich unser hochgeschraubter Selbstoptimierungsdrang gerade Stück für Stück in all unsere Lebensbereiche und überträgt sich durch die gesteigerte Wettbewerbsorientierung besorgter Eltern auch gleich noch auf die Kinder. Es ist also nur eine logische Konsequenz, dass wir uns heute von der Wiege bis zur Bahre an den Exzessen dieser Optimierungsspirale messen lassen müssen, die uns mit sich selbst verstärkendem medialem Echo tagtäglich in den Ohren dröhnen: Sollten wir unser Kind nicht doch lieber in einen englischsprachigen Kindergarten schicken? Oder vielleicht gleich chinesisch? Sollte ich nicht doch noch einen Auslandsaufenthalt machen? Sollte ich mir nicht auch endlich einen «gezippten» Schlafmodus angewöhnen, um vier Uhr aufstehen, meinen Bizeps trainieren, meditieren oder Yoga machen …?

Je mehr in unserer Gesellschaft nach dem Marktprinzip entschieden wird, desto mehr wird ein Sich-im-Wettbewerb-behaupten-Können zur überlebenswichtigen Kernkompetenz. Dazu gehört in erster Linie, gekonnt herauszustechen und auf sich aufmerksam zu machen. Denn nur, wenn man uns beachtet, sind wir auch gefragt. Für einen Job, als Lebenspartner, als Dienstleister für unsere Kunden oder als Freund. Aufmerksamkeit ist die neue Währung für Anerkennung, Status und Ansehen und damit auch Geld und Macht.

Wir müssen uns also heute vor allem auf eines verstehen: aufs Auffallen und den eigenen Vorteil. Technik sei Dank haben wir dabei mit der Digitalisierung einen sehr potenten Verbündeten gefunden. In einer Welt, in der wir schon fast mehr medial als real (er)leben, reicht es nämlich häufig schon aus, wenn andere uns für den Besten oder Hipsten halten. Wir müssen es – uff! – nicht mal mehr zwingend faktisch auch sein. Ein bombastischer Jobtitel, ein cooles Foto, ein krasses Video – mit ein wenig algorithmischem Glück haben wir sie dann ruckzuck in unserem Wohnzimmer, die gewünschte soziale Beachtung.

Wie gut wir im Trimmen unseres Marktwertes und im Wettbewerb um Aufmerksamkeit sind, können wir jederzeit in real-time mit einem Klick zu Hause auf dem Sofa überprüfen: Spieglein, Spieglein … Social Media, App & Co. sei Dank, können wir uns im Push-Takt aus jeder erdenklichen Perspektive selbst vermessen. Kein Wunder also, fühlen wir uns unter Dauerbeobachtung. Wenn nicht durch ein unsichtbares Geisterpublikum, dann in jedem Fall durch den strengen Blick von uns selbst.

Ob wir das nun gut finden oder nicht – wir haben begriffen: Wer heute noch in den vorderen Rängen mitmischen will, der kommt wohl oder übel nicht darum herum, sich der Rekordjagd des realen wie digitalen Dauer-Hochsprung-Wettbewerbs unserer Gesellschaft zu stellen.

«Must Do» statt «Just Do»

Also retten wir uns ins Getöse. Wie die rosa Plüschhäschen in der legendären Duracellwerbung trommeln wir uns für ein bisschen Beachtung bis zur Besinnungslosigkeit durchs Leben, ständig unter Strom und mit voller Voltzahl, gespeist von der Hoffnung, dass wir nicht vor den anderen schlappmachen und unser Trommeln irgendwie, irgendwo, irgendwann von irgendwem gehört wird.

Aber während wir uns hypnotisiert vom akustischen King-Kong-Terror des «Me-Kults» auf dem Sofa täglich die Finger wund twittern, dämmert uns langsam, dass die von uns kultivierte Optimierungsobsession nicht spurlos an unserem Seelenfrieden vorbeigeht.

Mindestens gefühlt haben wir den Eindruck, dass der Leistungs- und Anpassungsdruck zugenommen hat, weil es keinen Lebensbereich mehr gibt, der von der Wettbewerbslogik unberührt bleibt. Trotz der vielfältigen Lebenschancen, die unsere Gesellschaft heute bietet, fühlen wir uns paradoxerweise eher wie in einer Zwangsjacke denn frei.

Nicht nur, weil uns die permanenten Benzinpreisvergleiche oder die Frage nach Currywurst oder Tofuschnitzel stressen würden. Sondern – wie es einer der führenden deutschen Soziologen, Heinz Bude, so treffend beschreibt1 – weil wir entdeckt haben, dass auch wir selbst zum Wahlgegenstand geworden sind. In dem Maße, in dem wir für uns nämlich ganz selbstverständlich in Anspruch nehmen, zu wählen, was wir konsumieren, wo wir arbeiten oder mit wem wir leben wollen, tun das die anderen natürlich auch. Wir müssen also in gleicher Weise darum fürchten – oder besser davor zittern –, von anderen gewählt zu werden.

Was, wenn ich auf dem Arbeitsmarkt nicht (mehr) gefragt bin? Was, wenn ich nicht mehr als Lieferant oder Dienstleister von meinen Kunden selektiert werde? Was, wenn ich zu durchschnittlich, zu mittelmäßig bin? Was, wenn ich nicht mehr attraktiv oder hip genug bin, um von jemandem als Lebenspartner oder Freund gewählt zu werden? Was, wenn ich zu normal bin? Und damit unsichtbar oder bedeutungslos werde, gar ganz in Vergessenheit gerate?

Ohne es richtig zu merken, leben wir mit einer Art unterschwelliger Dauerparanoia im Nacken, ein falscher Schritt, eine falsche Entscheidung könnte uns zur bedeutungslosen Randnotiz verkommen lassen oder gar ins soziale Aus befördern. Es ist diese stetig «rieselnde Angst» – um mit Heinz Bude zu sprechen –, die unser Dasein in einen rastlosen Kampf um die Pole-Position verwandelt. Sie befeuert uns unaufhörlich, alle sich bietenden Möglichkeiten auszuschöpfen, um dem «gefährlichen schwarzen Loch» des Normalen zu entkommen.

Nebenwirkungen der Me-Inflation

Mindestens intuitiv ist uns klar, dass eine Gesellschaft, die durch und durch nach dem Wettbewerbsprinzip funktioniert, eine immer kleinere Anzahl von Gewinnern produziert, die einer immer größeren Anzahl von Verlierern gegenübersteht. Und zu Letzteren wollen wir schließlich nicht gehören. So starren wir mit feuchten Händen verstohlen auf die anderen, immer auf der Hut, geschlagen, übertrumpft und ausgestochen zu werden.2

Tatsächlich scheint der permanente soziale Vergleich, zu dem wir täglich und überall – und erst recht durch die sozialen Medien – verführt werden, diese latente Unsicherheit eher noch anzuheizen. Studien zeigen, dass es insbesondere der Vergleichsdruck ist, der dazu führt, dass wir uns im medialen Hashtag-Gewitter angesichts des inszenierten makellosen Lebens der anderen ständig minderwertig und unglücklich fühlen.3

Nicht ganz verwunderlich können wir gleichzeitig beobachten, wie sich die Statistik der Krankheitstage aufgrund von Burnouts und anderer psychischer Leiden kontinuierlich weiter nach oben schraubt und sich seit dem Jahr 2003 nahezu verdoppelt hat.4 Auch wenn nicht ganz klar ist, ob das einem tatsächlichen Zuwachs an psychischen Erkrankungen entspricht oder Betroffene heute einfach öfter zum Arzt gehen, stimmt insbesondere einer der angeführten Gründe für diesen Anstieg nachdenklich. Offensichtlich ist es der Druck zur Selbstverwirklichung – beruflich wie privat –, der zu diesem kollektiven seelischen Dammbruch führt.5 Tatsächlich scheinen jene, die aus ihrem Leben ständig das Maximum herausholen wollen, angesichts steigender Wahlmöglichkeiten besonders zu leiden und eher zu depressiven Verstimmungen zu neigen.6 Unsere Pflicht zur Selbstwerdung gerät zusehends zur Tortur.

Auf unserer Suche nach Bedeutung und Bestätigung in den gigantischen Galaxien von Möglichkeiten unserer Gesellschaft avanciert der Wettbewerb ganz offenkundig zum einzigen Orientierungspunkt. Unsere Identität wird damit mehr und mehr zum Spielball der Außenwahrnehmung und Resonanz anderer. Die schwer erkämpfte Freiheit eines jeden, seine Individualität und Identität heute selbst erfinden zu können, führt also offenbar nicht zu mehr Autonomie, sondern zu mehr wahrgenommener ideeller wie moralischer Verunsicherung, Angst, Zwang und Erschöpfung. Und das in besorgniserregender Weise vor allem bei der jungen Generation.7

Aber auch ohne diese statistischen Hinweise können wir in unserem direkten Umfeld beobachten, dass immer mehr Menschen Mühe haben, den gesellschaftlichen Rhythmus mitzuhalten, nur noch auf Reserve fahren, erschöpft aufgeben oder immer häufiger zu fragwürdigen oder gar selbstschädigenden Hilfsmitteln greifen. Unsere Wohlstandsgesellschaft scheint uns langsam aufs Gemüt zu schlagen. Die erdachte Formel «Mehr Wohlstand, mehr Glück» wandelt sich offensichtlich gerade sukzessive in «Mehr Wohlstand, mehr Stress». Wir sind schlicht müde, ständig nur auf Durchreise zu einem anderen, besseren Leben zu sein. Wir haben sie satt, diese unablässige Jagd nach unserem perfekten Lebensglück, die uns nicht glücklicher, sondern paradoxerweise immer unglücklicher werden lässt. Denn all unserer Bemühungen zum Trotz, weiß es das Glück anscheinend nicht zu honorieren, dass wir es so angestrengt optimieren wollen.

Alternativlos in der Multioptionsgesellschaft

Wir ahnen also, dass da irgendwas grundlegend falsch läuft, wenn wir unser Leben durch und durch nach ökonomischen Kriterien gestalten. Wenn Spontanität nur noch in der Werbung existiert und sich das Familienleben mehrheitlich in Whatsapp abspielt, weil wir uns nur noch selten im «Real Life» begegnen. Wenn alles, was verdient, als echtes, wirkliches Leben aus Fleisch und Blut bezeichnet zu werden, dem Optimierungsprimat zum Opfer fällt: mit der zufällig in der Stadt getroffenen Nachbarin einen Kaffee trinken gehen, spontan Freunde besuchen, endlich mal wieder die Gitarre aus der Ecke holen, nach Herzenslust ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte genießen oder die Australienreise machen, von der wir schon lange geträumt haben …

Wir merken, dass uns die permanente Selbstoptimierung genau um das bringt, was wir zu optimieren suchen: unser Leben. Aber welche Alternativen haben wir eigentlich? Oder sind wir unserem selbstprovozierten Gesellschaftstrend zur Selbstoptimierung tatsächlich alternativlos ausgeliefert? Gibt es neben dem Run auf die Superlative, der Jagd nach Konsum- und Lebensmaximierung tatsächlich keine anderen Lebensentwürfe?

Doch. Es gibt sie, die Konsum- und Leistungsverweigerer, die Aussteiger, die den Stecker ziehen und in totaler Askese leben. Zumindest widmete «Der Spiegel» ihnen vor nicht allzu langer Zeit eine ganze Ausgabe.8 «Less is more» bzw. «Verzicht ist geil» heißt die Devise dieser Lebensentwürfe, die der Leistungs- und Fortschrittshysterie entsagen. Menschen, die nur von Blättern und Pilzen leben oder ohne Geld auskommen und ihre Lebensmittel aus dem Supermarktcontainer besorgen oder beschließen, das Leben nur noch mit hundert Sachen zu verbringen.9 Aber sind das wirklich brauchbare Alternativen zur Zwangsjacke des Selbstoptimierungprimats? Klingt irgendwie genauso einengend. Obwohl diese Lebenskonzepte uns zum Nachdenken anregen und deshalb für die gesellschaftliche Weiterentwicklung durchaus wertvoll sind, beschleicht einen doch das unbestimmte Gefühl, dass es sich hierbei auch wieder nur um einen verkappten Run auf Superlative handeln könnte. Lediglich mit anderen Vorzeichen: anstelle von maximiertem Konsumrausch maximierte Konsumaskese.

Bleibt uns also wirklich nur die Wahl zwischen Pest und Cholera? Zwischen asketischer Laufsteg-Perfektion à la Victoria Beckham oder genauso inszeniertem Imperfektions-Exhibitionismus à la Lena Dunham, die schräge Nervensäge der Fernsehserie «Girls»?10 Bietet unsere reichhaltige Multioptionsgesellschaft tatsächlich alles, nur ironischerweise kein Vorbild für eine normale Lebensführung? Einen Weg zwischen Exzess und Askese?

Ist das Normale noch zu retten?

Tatsächlich scheinen wir mit der Bezeichnung normal gewaltig auf Kriegsfuß zu stehen. Zumindest hören wir es gar nicht gern, wenn jemand uns oder unseren Lebensstil mit normal bezeichnet. Uns selbst käme es schon gar nicht über die Lippen. Das muffelt gefährlich nach Bohnerwachs, Bratwurst und Irish Moos. Und sofort haben wir das Gefühl, unserer eigenen Beerdigung ein wenig näher zu sein. Normal assoziieren wir mit spießig, faul, wenig ambitiös, gutbürgerlich, angepasst, nichts Besonderes, langweilig und auf jeden Fall mit absolut uncool und nicht erstrebenswert. In unserer Selbstoptimierungsgesellschaft als normal bezeichnet zu werden kommt schon fast einer Beleidigung gleich. Gar nicht erst zu sprechen von mittelmäßig oder durchschnittlich. Da stellen sich bei den meisten von uns alle Haare auf. Streben wir doch permanent danach, besser zu sein als andere, uns vom gewöhnlichen Durchschnitt abzuheben. In unseren Ausbildungen, in unserer Freizeit und vor allem bei unserer Arbeit.

Es ist auch irgendwie verständlich, dass wir dieses Attribut so wenig mögen, wenn man bedenkt, dass einfach nur normal zu sein gerade in der Wirtschaftswelt durchaus auch existenzbedrohlich werden kann. Denn wer stellt angesichts von Unternehmensleitbildern, die eine Winner- oder High-Performance-Kultur predigen und zu einer elitär zelebrierten Talent-Popstarkultur aufrufen, ernsthaft jemanden ein, der bekennt, einfach nur ganz normal zu sein? «Up or out», diese Devise scheinen immer mehr zu fürchten, die sich lediglich hinter vorgehaltener Hand dazu bekennen, dass sie ihren ganz normalen Job einer aussichtsreichen Karriere vorziehen würden.11

Aber auch in anderen Lebensbereichen empfinden wir die Kategorie normal in Bezug auf unsere Lebensführung als abwertend. Ja, überhaupt fällt einem seit «Fifty Shades of Grey» nun wirklich kein Lebensbereich mehr ein, in dem es heute noch attraktiv wäre, als normal bezeichnet zu werden.

Lediglich, wenn es aus dem Mund eines Arztes, eines Atomkraftwerkbetreibers oder eines Piloten kommt. Hier sind wir regelmäßig erleichtert, wenn die Diagnose «Alles normal» lautet. In jedem anderen Kontext aber sind wir wohl ähnlich unglücklich oder enttäuscht, wenn etwas nur normal ist, wie liebende Eltern über den nur vierten Rang ihres Nachwuchses beim jährlichen Skikursabschlussrennen. Und wenn nicht enttäuscht, so sind wir mindestens gelangweilt und entziehen unsere Aufmerksamkeit, falls mal nur von einem Stau und nicht gleich von Verkehrschaos die Rede ist. In dem Maße, wie wir das Normale aus unserem Leben verdammen, verschwindet es auch zunehmend aus unserem Blickfeld.

Das Normale ist besser als sein Ruf

Aber ist dieser diskriminierende Blick gerechtfertigt? Wohin führt es uns eigentlich, wenn alle auf Teufel komm raus versuchen, außergewöhnlich zu sein? Das heißt, wenn alle einen Marathon laufen, eine Schönheits-OP machen, einen Auslandsaufenthalt absolvieren oder das Abitur machen? Dann wird genau das zur Norm und ist schon bald nichts Besonderes mehr.12 In einer Welt, in der alle außergewöhnlich sind – oder es zumindest sein wollen –, schleift sich das vermeintlich Außergewöhnliche ab und wird plötzlich zum Mainstream, zum Gewöhnlichen. Wie Voltaire bereits wusste: «Nichts langweilt mehr als außergewöhnliche Dinge, die alltäglich geworden sind.»

Die Masse macht also aus etwas Exklusivem genau sein Gegenteil, auch wenn wir es nicht immer gleich bemerken. So wissen wohl die wenigsten von uns, dass es zum Beispiel mittlerweile mehr Rolex-Uhren auf dieser Welt gibt als VW Käfer13. Und dennoch sitzen wir immer noch dem Glauben auf, dass eine Rolex-Uhr etwas Besonderes und Exklusives ist. Dabei ist es eigentlich der alte VW Käfer.

Was, wenn wir in Bezug auf unsere Lebensgestaltung dem gleichen Denkfehler aufsitzen? Wenn das Streben nach einem außergewöhnlichen Leben zur Massenveranstaltung, zum Mainstream wird, dann müsste das Streben nach dem Normalen doch wieder etwas Exklusives werden. Könnte es also sein, dass eine normale Lebensführung heute wieder das Potenzial hat, etwas Außergewöhnliches zu sein? Was also, wenn wir uns alle irren, indem wir uns ständig für unser normales, durchschnittliches Leben grämen und frustriert nach einem anderen Leben trachten? Wenn wir glauben, dass das Leben am rechten Rand der Gauß’schen Normalverteilung mit großen anerkannten Erfolgen, Berühmtheit und Reichtum das Erstrebenswertere, das Bessere sei als unseres, im heimeligen dicken Bauch der Normalität? Was, wenn wir dadurch verpassen, zu erkennen, dass es sich vielleicht genau umgekehrt verhält: dass unser normales Leben das Zeug hat, das eigentlich Begehrenswerte, Außergewöhnliche, Bemerkenswerte zu sein?

Normal, aber sexy

Zugegeben, auch ich finde es kaum vorstellbar, dass «normal» tatsächlich das Potenzial zum neuen Aufreger haben soll. Und vielleicht ist es ja auch nur eine Fata Morgana, die ich in unserer überhitzten Größer-am-größten-Gesellschaft da unscharf flimmernd am Horizont wähne. Zumindest aber meine ich, ein paar Unruhestifter in den klassischen Selbstoptimierer-Domänen – wie Mode, Lifestyle, Luxus, Karriere, Freizeitsport – ausmachen zu können. Bezieht man zusätzlich noch die wichtigste Befeuerungsmaschinerie unserer tosenden Vollkommenheitsobsession mit ein – die Werbung –, bin ich doch geneigt, zumindest die Frage gelten zu lassen, ob ein normaler Lifestyle nicht vielleicht doch das Zeug zum Außergewöhnlichen, zum Exklusiven, vielleicht sogar zum Begehrenswerten, definitiv aber zum neuen «sexy» hat. Hier also meine persönliche Liste von zufälligen und unsystematischen Alltagsbeobachtungen, in denen ich das sonst so verschmähte Normale als wiederentdeckte Attraktion oder gar Erfolgsprinzip gewähnt habe:

Mode: Normaler Alltagslook wird laufstegtauglich. Wenn wir uns ins Feld der Mode begeben, dann können wir beobachten, dass «normal» hier derzeit Hochkonjunktur feiert. Unter dem Stichwort «Normcore» erobert derzeit ein Modetrend die Laufstege, der total normale Alltagskleidung als modisch preist.14 Exklusivlabelbekleidung mit dickgedruckten Markennamen auf der Brust war gestern.15«In» sind dagegen nun – man glaubt es kaum – die verpönten Jogginghosen mit karierten Hemden aus den großen Einkaufscentern. Gerade Betuchte versuchen mehr und mehr, diesen lässigen Understatement-Schick aus der Mitte unserer Gesellschaft nachzueifern.16 Er dient sogar den großen High-Class-Modedesignern als «Muse» für ihre Modekollektionen.17 Und umgekehrt scheint sich die Designer-Elite um Karl Lagerfeld & Co. heute auch nicht mehr zu schade, für Billigketten und deren «normale» Kunden zu arbeiten.18

Lifestyle: Die Sehnsucht nach dem normalen Leben. Der beobachtbare anhaltende zweistellige Auflagenzuwachs von Zeitschriften rund um Garten, Küche und Natur lässt viele Verlage von Tageszeitungen erblassen, die angesichts ständig sinkender Auflagen um ihr Überleben kämpfen.19 Daraus ein Comeback eines normalen Lebensstils ableiten zu wollen, ist vermutlich etwas gewagt. Zumindest drückt sich darin aber eine gewisse Sehnsucht nach dem einfachen, normalen und nicht-virtuellen Leben aus.

Vielleicht ist es auch diese Sehnsucht, die erklären kann, warum der gehobene Mittelstand heute oft nicht mehr in bessere Quartiere zu Chefärzten, Bankern und Anwälten umsiedelt, selbst wenn sie es sich finanziell leisten könnten.20 Es scheint fast so, als glaubten sie, damit ihre Mittelschicht-Herkunft zu verraten. Unabhängig von ihrer Einkommenssituation scheuen sie sich, ihre Verwurzelung in der sogenannten Mittelschicht zu kappen, fühlen sie sich mit ihren alten Studienkollegen und bisherigen Nachbarn innerlich immer noch mehr verbunden als mit der gesellschaftlichen Elite. Vielleicht, weil ihnen bewusst ist, dass Gesellschaften in der Vergangenheit meistens aus ihrer Mitte heraus verändert wurden? Vielleicht aber auch, weil sie einfach nur intuitiv spüren, dass das normale Leben Vorzüge, Qualitäten und ein einzigartiges Lebensgefühl mit sich bringt, das nur mitten in der Gesellschaft entstehen kann?

Sicherer scheint hingegen, dass diejenigen, die wir insgeheim und unausgesprochen beneiden, weil sie all das zu besitzen scheinen, was wir so gern hätten – nämlich Ruhm und Reichtum – immer wieder äußern, wie sehr sie sich ein normales Leben wünschten. Zumindest könnte man die Aussage von Prinz William, er wäre manchmal gern unsichtbar,21 so verstehen, oder den Werbespruch eines Luxushotels in St. Moritz: «Zum Glück gibt es noch Orte auf der Welt, wo sich kein Mensch nach Ihnen umdreht.» Dass ein normales Leben begehrenswerte Qualitäten für die Upperclass haben könnte, kann man auch daran ablesen, dass Milliardäre öffentlich beginnen, sich über den Fluch des Reichtums zu beschweren. Wie man nachlesen kann, offensichtlich kein Witz, sondern bizarre Realität.22

Luxus: Begehrenswerte Normalität. Kann das sein? Ist das so verpönte normale Leben tatsächlich luxustauglich geworden? Während wir Normalos alle immer noch vom großen Luxus in Form von Rolex-Uhr, Hermès-Tasche oder Porsche-Cabrio träumen, scheinen wir ganz zu übersehen, dass wir einen Luxus ganz offensichtlich schon haben: in Form von unserem unsichtbaren, langweiligen, normalen Leben. Denn heute scheint Luxus gerade darin zu liegen, sich diesen gar nicht mehr zu leisten. So ist auch in Bezug auf unser Luxus(er)leben offensichtlich gerade ein Paradigmenwechsel im Gange, nach dem Motto: Luxus ist, wenn ich ihn nicht mehr brauche.23 Satt an Konsum sind wir vor allem hungrig nach immateriellen Unplugged-Erfahrungen: den Sternenhimmel sehen, in der Fankurve den heimischen Fußballclub anfeuern, in der WG Spaghetti kochen und am Küchentisch über Weltpolitik philosophieren oder ganz allgemein Zeit mit der Familie und Freunden verbringen. Je künstlicher unsere Welt wird, desto attraktiver wird für uns wieder das authentische, nicht inszenierte, greifbare normale Leben.

Auch auf der materiellen Ebene findet eine Rückbesinnung auf das schlichte, konkrete, fassbare, naturnahe Elementare statt. Dinge, die mit viel handwerklicher Expertise hergestellt werden, sind heute exklusiver als inflationärer Prunk.24 Sprich handgemachter Alpkäse statt Kaviar. Das echte, bodenständige, unsichtbar gewordene normale Leben mit all seinen Unvollkommenheiten und Zufällen scheint in einer perfekt optimierten medialen Welt wieder zur begehrenswerten Exklusivware zu werden.

Karriere: Normale Jobs sind wieder cool. Zu begreifen, dass ein stabiler und kontinuierlicher vierter Platz gewisse Vorzüge gegenüber einem flüchtigen, sehr riskanten ersten Platz hat, fällt unserer Selbstoptimierer-Seele ausgesprochen schwer. Auch wenn ein aktueller deutscher Hit uns diese Lebensstrategie mit Preisung der Wolke 4 (statt 7) schmackhaft machen will.25 Aber es fällt auf, dass es immer mehr Menschen zu geben scheint, die ihre Karriereentscheide genau im Sinne dieser Strategie fällen. So können wir beobachten, dass zum Beispiel die Absolventen der Top-Unis immer weniger scharf auf glamouröse Top-Jobs im Banking oder bei Unternehmensberatungen zu sein scheinen, sondern eher etwas Bodenständiges suchen, das mehr Work-Life-Balance und Spaß verspricht. «Normale Jobs scheinen das neue Cool»26 – das entspricht dem generellen Trend, dass immer weniger Menschen überhaupt noch einen prestigeträchtigen Management-Posten anstreben.27 Im Gegenteil. Es scheinen sogar immer mehr Menschen bereit zu sein, sich von Jobs mit mehr Geld und Status zu verabschieden zugunsten von Jobs mit mehr Freizeit und Freiheit. «Downshifting» nennt sich dieser Trend, bei dem Menschen freiwillig eine Karrierestufe wieder rückgängig machen bzw. darauf verzichten.28 Mindestens aber versuchen immer mehr Menschen, sich eine Auszeit – ein sogenanntes Sabbatical – zu organisieren, um sich eine Pause von ihrem stressigen Wettbewerbsleben in der Endlosschleife zu gönnen.

Freizeitsport: Die Entdeckung der Besonnenheit. Gerade im Freizeitsport – dieser wohl ältesten Domäne gesellschaftlichen Wettbewerbs – scheinen wir aber nach wie vor besonders anfällig, unsere Optimierungsobsession zügellos auszuleben. Dank FitnessArmband und ständiger Weiterentwicklung der Extremsportarten bewegen sich mehr und mehr Menschen mittlerweile gefährlich nahe an der Grenzlinie zwischen ambitioniertem Freizeitsportler und Adrenalin-Junkie, was auch schon mal mit dem Tod enden kann. Einzelne Initiativen, die sich für ein besonnenes Sporteln mit Augenmaß einsetzen,29 wirken eher nur wie der Tropfen auf dem heißen Stein.

Was als Ausgleich zur einseitigen Kopflastigkeit der Arbeit in einer Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft gefördert und gepredigt wird, nutzen viele mittlerweile als weitere Leistungs- und Wettbewerbszone. Als Feld, auf dem die Jagd nach Überbietung nach Feierabend weitergeht. Dabei zahlt sich das bewusste und dosierte «Weniger» auch in dieser originärsten Wettbewerbsdomäne offensichtlich als bessere Erfolgsstrategie aus. Die Pause macht den Erfolg. Die Sportwissenschaft weiß mittlerweile, dass die Regenerationsfähigkeit für Unterschiede zwischen Spitzensportlern verantwortlich ist, weniger ein exzessives Training.30 Und auch bei längeren sportlichen Wettbewerben, wie zum Beispiel einem Marathonlauf, ist offensichtlich das Erfolgsgeheimnis, nicht zu viel zu wollen, sich eher zu mäßigen und zu bremsen und sich vor allem nicht von anderen pushen zu lassen.31

Werbung: back-to-normal. Marketing und Werbung spielen vermutlich eine ganz maßgebliche Rolle, unseren Selbstoptimierungstrieb immer weiter anzustacheln. Ob in Zeitschriften, Fernsehen oder im Internet, Werbung versteht es auf ganz subtile Weise, den unlöschbaren Durst unseres Egos nach Vollkommenheit jeden Tag aufs Neue zu befeuern und uns zu animieren, unsere Grenzen grenzenlos zu verschieben. Umso erstaunlicher, dass sich auch hier eine Verschiebung von perfekt gestyltem Hochglanz zur lebendig unordentlichen Imperfektion abzuzeichnen scheint. Zurückhaltung statt Verblendungstaktik scheint also als Erfolgsstrategie auch im Marketing und der Werbung wieder im Kommen.

Während wir früher mit Superlativen überzeugt werden sollten, hören wir heute auch schon mal Sätze wie: «Es geht nicht ums Gewinnen. Es geht nicht darum, der Beste zu sein. Ich snowboarde, weil es mein Leben ist.»32 Mit dieser Anti-Wettbewerbs-Formel scheint Samsung genauso den Zeitgeist zu treffen wie Schöffel mit seiner «Ich bin raus»-Werbung33 oder Mercedes mit der Frage: «Wann haben Sie das letzte Mal gemacht, was sie wollten – nicht, was sie sollten?»34

Das prominenteste und konsequenteste Beispiel einer Produktwerbung, die bereits seit einigen Jahren auf den Antitrend zur hysterischen Statussymbollogik setzt, ist wohl die Automarke Dacia. Mit Sätzen wie «Alle die, die ganz nach oben wollen, die nach Bewunderern suchen, um mit ihrem Erfolg zu glänzen, die haben hier nichts verloren» wird hier sogar versucht, das Nichtprestigeträchtige selbst zum neuen Statussymbol zu erheben.35

Am liebsten aber würde ich es der Firma Valser Wasser aus dem Valser Tal in der Schweiz zuschreiben wollen, die mutigen Pioniere in der Propagierung der Gegenthese zum Optimierungstrend gewesen zu sein. Bereits 1990 bewarb die Firma ihr Wasser mit dem Slogan «Alles wird besser – Valser bleibt gut».36 Jüngste Bemühungen, im Valser Tal nun das höchste Hotel der Welt als Luxusurlaubsdomizil der Superlative für Superreiche zu erbauen,37 stimmen mich allerdings nachdenklich, ob nicht vielleicht doch eher mein Wunsch Vater des Gedankens war, in diesem jahrhundertealten Bergdorf den weisen Propheten eines gesellschaftlichen Wertewandels sehen zu wollen.

Anders? Ja, normal!

Klingt ja alles schön und gut. Das Normale scheint also doch nicht ganz so unattraktiv, wie wir das gemeinhin denken. Aber jetzt mal ehrlich: Ist es nicht ziemlich gewagt, daraus ein Lebensideal abzuleiten? Können wir es uns überhaupt leisten, ein normales Leben zu führen? Was passiert, wenn wir tatsächlich akzeptieren, nur normal, nur Mittelmaß zu sein? Landen wir dann nicht aussortiert auf dem Ausverkaufstisch der Nation und verkommen zum Ramsch, zur zweiten Wahl, zum Auslaufmodell der Gesellschaft? Sind wir dann nicht automatisch die Ewiggestrigen, gehören zu jenen, die hinten runtergefallen und raus aus dem Spiel sind, wie es Heinz Bude in Gesellschaft der Angst so treffend umschreibt?38 Diese Frage muss am Ende jeder für sich selbst beantworten, denn jeder Mensch und jedes Leben ist einzigartig und verdient auch eine individuelle Antwort.

Ich hatte das wunderbare Privileg, Menschen zu treffen, für die sich der Mut zum Normalsein ausgezahlt hat. Es war nicht ganz einfach, diese Menschen und ihre Lebensgeschichten zu finden, denn es liegt in der Natur einer normalen Lebensführung, dass sie ohne großes Aufmerksamkeitspotenzial auskommt, wenig auffällig, unaufgeregt und unscheinbar ist.

Die Geschichten, die ich aufgespürt habe und auf den folgenden Seiten erzähle und kommentiere, beherbergen für mich alle den Sound eines bemerkenswert normalen Lebens. Mit ihrer Hilfe durfte ich lernen, wie sich «bemerkenswert normal» im konkreten Leben Ausdruck verleiht. Bei großen Lebensentscheidungen genauso wie in ganz alltäglichen kleinen Dingen. Ich durfte nachvollziehen, wie sich diese Menschen gerade in auswegloser Lage oder angesichts größter Versuchungen zu einem Bekenntnis zum Normalen, zum Gemäßigten durchgerungen haben. Für sie alle hat sich das Wagnis «Normalsein» gelohnt.

Ihre Geschichten können uns vielleicht inspirieren, darüber nachzudenken, wie es gelingen kann, sich dem Optimierungsprimat zumindest ein bisschen unwilliger zu unterwerfen.

Bemerkenswert normal

Подняться наверх