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Erstes Rendez-vous

Wie es zu diesem Buch kam

Es war ein sonniger und heißer Sommertag im Juli, als ich, ohne es zu wissen – geschweige denn zu wollen – den Stein für dieses Buch ins Rollen brachte. Es war der Tag, an dem der Notar beim Handelsregisteramt um exakt 17:10 Uhr mit voller Wucht seinen Stempel auf die Gründungsurkunde meiner neuen Beratungsfirma pfefferte. Was für ein kraftvoller Startschuss in meine Zukunft als Selbständige! Endlich. Beflügelt von grenzenloser Euphorie machte ich mich mit Vollgas ans Werk, meine kleine Managementberatungs-Boutique aufzubauen. Wild entschlossen, alle Manager dieser Welt zu retten, nein, was sage ich – die ganze Wirtschaftswelt!

Was folgte, waren zwölf Monate, die mir auch heute noch – mit mehr als sechs Jahren Abstand – in schmerzvoller Erinnerung sind. Erschreckend schnell machte die anfängliche Euphorie einer bitteren Ernüchterung Platz. Insbesondere immer dann, wenn ich mein Bankkonto betrachtete. «Du musst erst mal deine USP entwickeln», riet mir ein Kollege. Aha. Eine Unique Selling Propostion also. Damit ist gemeint, was mich von anderen Beratern unterscheidet, was ich außergewöhnlich gut kann, wo ich einen speziellen Wert stifte etc.

Ich verbrachte Wochen damit, nach dem Einzigartigen in meiner Beratung zu suchen. Aber irgendwie kam ich nie zu einer befriedigenden Antwort. Von der Kleidergröße bis zu den Schulnoten war bei mir immer alles normal gewesen. Gut, aber eben nicht herausragend gut. Was konnte ich also als außergewöhnlich in meiner Beratung anführen? Zunächst versuchte ich, mit speziellen thematischen Angeboten meiner Besonderheit Ausdruck zu verleihen. Dann mit meinen Publikationen und schließlich mit Referenzen – selbstverständlich von Rang und Namen … Aber egal wie viele Anstrengungen ich unternahm, mit etwas Außergewöhnlichem zu punkten, es gelang mir nicht.

Natürlich war die Lage nicht ganz aussichtslos. Es gab mal hier und da einen Auftrag, was zu einem kleinen plätschernden Taschengeld führte, aber wirklich Land in Sicht war da nicht. Und zu allem Elend streuten Freunde und Kollegen mit ihren wohlmeinenden Fragen zusätzlich Salz in die Wunde: «Na, wie läuft’s? Wie sieht die Auftragslage aus? Bist du ausgelastet?» Da verkrampfte sich bei mir regelmäßig alles und ich entwickelte eine zweifelhafte Kreativität, meine Antworten möglichst ausweichend, nichtssagend und unverfänglich zu gestalten.

Was machte ich falsch? Ich führte Gespräche mit anderen selbständigen Beraterkollegen. Aber es schien, dass ich offensichtlich die Einzige auf diesem Planeten war, die das nicht hinkriegte. Bei allen lief es immer super – nein, quatsch, ihr Laden brummte förmlich! Insbesondere bei meinen männlichen Kollegen. Es war erschütternd. Selbstzweifel packten mich und mit jedem Gespräch schwand meine Zuversicht ein Stückchen mehr. Wer sie nie erlebt hat, dem ist sie schwer zu beschreiben, diese schleichende Gewissheit, gescheitert zu sein, versagt zu haben. Ich muss gestehen, ich wollte in dieser Zeit aufgeben. Mehrmals sogar.

Es ist wohl vor allem meinem Mann, ein bisschen auch den Toten Hosen, aber letztlich einem Akquisegespräch fast genau zwölf Monate nach dem Gründungstag zu verdanken, dass es nicht so weit kam.

Es war wieder ein Tag im Juli. Diesmal allerdings bedeckt und drückend. Genau wie meine Stimmung nach bereits zwei enttäuschend verlaufenen Vorstellungsgesprächen. Eigentlich hätte ich mich ja glücklich schätzen sollen, dass ich überhaupt von Firmen eingeladen wurde. Das machte mir mein Gegenüber im letzten Gespräch an diesem Tag auch gleich doppelt unterstrichen klar. «Wissen Sie, bei uns rufen täglich mindestens zehn von Ihrer Sorte an. Ich mache da heute nur eine Ausnahme, weil unser Herr Keller mich darum gebeten hat. Und ich muss auch gleich vorwegschicken, dass ich leider nur eine halbe Stunde Zeit habe.» Na danke! Was für ein charmantes Entrée. Ich war schon völlig entnervt, bevor das Gespräch überhaupt begonnen hatte. War es die Schwüle oder diese permanente Jagd nach möglichst brillanter Selbstdarstellung, die mich so ermüdete? Ich kann es nicht sagen. Auf jeden Fall sorgte dieser Cocktail aus Erschöpfung, Frustration und Hitze dafür, dass ich mich plötzlich genau das sagen hörte, wovon alle Selbst-Branding-Ratgeber, alle Beraterkollegen und überhaupt jeglicher gesunde Menschenverstand abrät: «Okay, dann möchte ich Ihre Zeit auch nicht unnötig strapazieren – meine Geschichte ist schnell erzählt. Ich bin eine völlig normale Managementberaterin, von denen Sie da draußen so viele finden können wie Sand am Meer. Thematisch mache ich genau das, was alle anderen auch machen. Ob ich jetzt besser oder schlechter bin, kann ich Ihnen nicht sagen, das müssen Sie selbst beurteilen. Was ich Ihnen aber sagen kann, ist, was mir bei meiner Arbeit wichtig ist und wo mein Herz schlägt. Gern sage ich Ihnen dann auch noch, wo ich nicht gut bin und Sie folglich mit anderen Kollegen besser fahren.» Es war wohl der Mut purer Verzweiflung, der mich dazu getrieben hatte. Ich wollte ehrlich gesagt nur noch raus und war im Geiste schon im Auto auf dem Weg zur nächsten Tankstelle, um mich mit einem großen Kübel Karamelleis für das Ertragen dieser entwürdigenden Situation zu entschädigen.

Da geschah etwas völlig Unerwartetes. Mein Gegenüber hörte plötzlich auf, demonstrativ uninteressiert mit seinen Unterlagen zu rascheln, hob überrascht den Blick und lehnte sich entspannt in seinen Bürostuhl zurück. War da sogar ein verschmitztes Lächeln? «Das ist aber mal erfrischend ehrlich, Frau Bilhuber. Wissen Sie, Sie können es sich vermutlich nicht vorstellen, aber normalerweise fallen hier immer nur grandiose Tausendsassa ein, die alles können und in allen Themen die Besten der Besten sind! Als gäbe es nur Helden auf dieser Welt! Egal, welches Problem ich anspreche – sie haben immer eine Lösung parat und können einfach alles. Und ich frage mich immer, denken die, wir sind blöd?» Er gestikulierte dabei theatralisch, als hätte er schon lange auf den Moment gewartet, seiner Empörung endlich mal Luft machen zu können. «Sie sind die Erste, die sich traut, auch mal unverblümt zu sagen, was Sie nicht können. Das gefällt mir.»

Vielleicht war es Zufall. Es wurde zwar nichts mit einem Auftrag – das wäre wohl auch zu kitschig gewesen. Aber ab diesem Gespräch lief es dann mit meiner Firma und ich habe seither weitaus mehr sonnige als wolkig-drückende Tage als selbständige Managementberaterin erlebt.

Auf jeden Fall markierte dieses Gespräch aber mein erstes Rendezvous mit dem verkannten Potenzial des Normalseins. Es war jener Moment, in dem ich anfing, bewusst darüber nachzudenken, ob das häufig so verpönte Normalsein vielleicht doch besser war als sein Ruf. Konnte es tatsächlich sein, dass im Normalen eine Quelle zur Einzigartigkeit schlummert? Oder sind wir nicht automatisch zum Verlieren verdammt, wenn wir in einer Gesellschaft, die nach dem «Immer-besser-klüger-erfolgreicher»-Prinzip funktioniert, wagen, nur normal zu sein? Das Thema fing an, mich zu interessieren, und ich begab mich mit diesen Fragen – mehr intuitiv als systematisch – auf die Suche nach dem Normalen in unserer Superlativ-Gesellschaft. Als Quelle wählte ich das Leben selbst: Menschen und ihre alltäglichen persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen.

Sechs Geschichten von sechs Menschen habe ich aufgespürt, die mich entdecken ließen, dass in einer Selbstoptimierungsgesellschaft wie unserer ein normales Leben kein Makel ist. Im Gegenteil. Ihre Geschichten haben mich gelehrt, dass Normalsein etwas Einzigartiges in sich trägt, das im global zelebrierten Blitzlichtgewitter unserer Bling-Bling-Manie schlicht aus dem Blickfeld geraten ist. Indem diese Menschen wagen, ihr Normalsein zu leben, haben sie auch mich inspiriert, Normalität in meinem Leben nicht als etwas zu betrachten, was dauernd eine Kampfansage braucht, sondern im Gegenteil etwas sehr Schätzenswertes ist. Es vermehrt anklingen zu lassen, kann das Leben ungemein bereichern.

Ich bin diesen Menschen sehr dankbar, dass sie mir erlaubt haben, ihre inspirierenden Erlebnisse hier in ihrer Essenz, anonymisiert und mit diversen fiktiven Details angereichert, zu erzählen und meine persönlichen Reflexionen dazu anzustellen. Sie finden diese Geschichten im Hauptteil dieses Buches, jeweils gefolgt von einem Abschnitt mit meinen Gedanken, was ich daran für bemerkenswert normal halte. Für diejenigen, die interessiert sind, die bemerkenswert normale Seite in ihrem persönlichen Leben wieder etwas mehr anklingen zu lassen, gibt es am Schluss jedes Kapitels noch ein paar Ideen dazu. Eingerahmt wird dieser Hauptteil von einem Einführungskapitel, in welchem ich meine Wieder-Entdeckung des Normalen anhand von Alltagsbeobachtungen schildere, sowie einem Schlusskapitel, in dem ich die Essenz aus allen sechs Geschichten zusammenfasse und die verschiedenen Konturen einer bemerkenswert normalen Lebensgestaltung nochmal gesamthaft beschreibe.

Wer meint, damit nun einen weiteren Ratgeber in den Händen zu halten, der vorgibt zu wissen, wie man ein besseres Leben lebt, der wird enttäuscht sein. Auch ich weiß es nicht besser. Meine Absicht war eine andere. Ich wollte unser heutiges pulsierendes, farbiges, facettenreiches, pralles und reiches modernes Leben verstehen und mit all seiner Widersprüchlichkeit, Vagheit, Unvollkommenheit und Unschärfe aufzeigen. Mit Respekt vor jedem Einzelnen wollte ich auf einer ganz persönlichen Ebene nachvollziehen, wie es uns damit gefühlsmäßig geht und wie wir damit umgehen.

Dieses Buch hat folglich keinen Anspruch auf verallgemeinerbare Wahrheiten. Und so mag der Untertitel Von der Kunst, ein normales Leben zu führen in einer überdrehten Gesellschaft vielleicht etwas irreführend oder gar anmaßend erscheinen. Er rechtfertigt sich wohl lediglich durch meine beiden Hoffnungen, von denen ich beim Schreiben beseelt war. Einerseits hoffe ich, dass diese erfrischend lebendigen Geschichten aus dem Lebensalltag uns auf unterhaltsame Weise berühren und ermutigen, über Gegenentwürfe zum Imperativ unseres heutigen Selbstoptimierungs-Lebensideals nachzudenken. Mit einem gewissen Augenzwinkern hoffe ich darüber hinaus, dass ich damit zur Ehrenrettung der verpönten Kategorie des Normalen in unserer Gesellschaft beitragen kann und es vielleicht gelingt, eine neue Anerkennungskultur jenseits unserer vielzitierten «Winner-take-all»-Kultur zu etablieren. In diesem Sinne sind die folgenden Seiten als persönliches Essay und engagiertes Plädoyer zu verstehen, das dem Lebensgefühl aller bemerkenswert Normalen in unserer Gesellschaft gewidmet ist, die uns durch ihre Lebensweise Inspiration und Ermutigung schenken, unser einzigartig normales Leben zu wagen und zu feiern.

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