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Kapitel 6

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„Ich will mitkommen“, rief Leo sofort, „ich will selbst bestimmen, welche Speisen ihr kauft, was auch immer dieses Wort zu bedeuten hat.“

„Nein, das ist unmöglich“, winkte ich ab, „du kannst nicht mitkommen, das ist ein Ort voller Menschen, die dich alle sehen würden. Das ist viel zu gefährlich. Das geht auf keinen Fall.“

„Nichts ist unmöglich, lasst mich nur machen“, sagte Anna großspurig, „ich werde dir alles erklären, Leo. Was ein Geschäft ist und was einkaufen bedeutet, wie und warum man bezahlt, aber zuerst brauche ich ein bisschen Zeit. Geht ihr nur nach Hause und holt euer Geld, ich erledige den Rest. In einer Stunde treffen wir uns wieder hier. Leo, du kannst ja inzwischen im Baumhaus ein Schläfchen machen. Wendel, du kommst mit mir mit, ich brauche deine Hilfe.“

Der Angesprochene schnitt eine Grimasse in unsere Richtung, die wohl so was wie „Mein Gott, ist die wieder anstrengend!“ bedeuten sollte. Anna war schon losmarschiert und er lief ihr hastig nach.

Wir anderen machten uns auch kopfschüttelnd auf den Weg. „Das war nötig, dass die mitmacht! Lasst irgendwo ein Mädchen dazu und es wird alles kompliziert“, machte Georg seinem Ärger Luft.

Als wir nach ungefähr einer Stunde wieder bei der Lichtung ankamen, war von Wendel und Anna keine Spur zu sehen.

„Vielleicht hat sie kalte Füße bekommen?“, fragte ich hoffungsvoll.

„Jetzt im Sommer?“, fragte Benni ernst.

„Das ist doch nur eine Redewendung und bedeutet, man gibt auf, weil man eingesehen hat, dass es nicht funktioniert“, erklärte ich ihm.

„Leo schläft?“, wollte Georg wissen.

„Keine Ahnung! Schau nach!“ Ich hatte das eigentlich nicht ernst gemeint, doch Georg kletterte schon die Leiter hinauf.

Kurze Zeit später kamen er und die Elfe wieder herunter. „Wo bleibt mein Essen?“, wollte Leo sofort wissen.

„Äh, das dauert noch ein bisschen. Wir warten auf Anna und Wendel.“

„Das darf doch nicht wahr sein!“, schrie Georg in diesem Augenblick und schlug sich vergnügt aufs Knie.

Wir blickten in dieselbe Richtung wie er und da sahen wir die beiden kommen. Anna schob einen Puppenwagen und Wendel trottete mit hängendem Kopf neben ihr her. Das Ganze war ihm offensichtlich so peinlich, dass auch ich zu lachen anfing.

„Was habt ihr denn da?“, grinste Benni.

„Das ist mein alter Puppenwagen, den ich eben vom Dachboden geholt habe.“

„Was du nicht sagst. Und was bitte schön willst du mit dem?“

„Na, da packen wir Leo rein, so kann sie bequem mitkommen und niemand wird sie sehen.“

„Das ist nicht dein Ernst? Niemals lasse ich mich mit diesem Ding im Dorf sehen!“, entrüstete sich Benni. Wir anderen nickten zustimmend.

„Ich hab ihr das auch gesagt, aber sie hört nicht auf mich“, stöhnte Wendel.

„Ich finde die Idee sehr gut“, erklärte nun Leo. „Ich werde alles sehen und keiner kann mich sehen.“

„Genau meine Rede. Außerdem nehme ich den Wagen“, sagte Anna. „Ihr braucht euch also nicht so blöd anzustellen. Das werdet ihr schon überleben. Was, wenn ihr später einmal Väter werdet? Da könnt ihr jetzt gleich mal üben.“

Wir verdrehten die Augen, doch Anna half Leo bereits dabei, in den Puppenwagen zu klettern, der sich sofort bedenklich senkte. „Das ist ein stabiles Ding, der hält das schon aus“, erklärte Anna, noch bevor wir etwas sagen konnten. Dann schob sie den Wagen mit offensichtlicher Mühe und doch wild entschlossen aus dem Wald hinaus.

Wir gingen in gebührendem Sicherheitsabstand mit besorgten Blicken hinterher.

Ich glaube, es war mir noch niemals vorher in meinem Leben etwas so peinlich. Selbst Anna, deren glorreiche Idee es ja gewesen war, wurde immer langsamer, je näher wir dem Dorf kamen.

„Hoffentlich treffen wir keinen aus der Schule“, seufzte Georg hinter mir. „Ich kann mich da nie mehr blicken lassen, wenn das rauskommt, noch dazu in meinem Alter.“

„Ja, nicht einmal im Kindergarten hätte ich mich für so etwas hergegeben. Es ist schon erstaunlich, wozu uns die Weiber bringen“, murmelte Wendel.

„Na, du musst es ja wissen, schließlich ist sie deine Schwester“, sagte Benni.

„Wenn nur nichts schiefgeht“, meinte ich besorgt. „Alles andere ist halb so schlimm.“

„Ja, für dich schon, du bist schließlich nur zu Besuch. Aber wir leben hier, wir gehen hier zur Schule, jeder kennt uns, wir haben einen Ruf zu verlieren.“ Georg war ganz aufgebracht.

„Hört auf jetzt! Da vorne steht die alte Agnes, die Frau unseres Pächters Günther Baumann“, fauchte Anna.

Und wirklich, da stand ebenjene an der Bushaltestelle vor der Post und blickte uns neugierig entgegen.

„Hallo, Frau Baumann!“, grüßten wir im Chor.

„Ah ja, hallo, Kinder! Was hast du denn da Schönes, Anna? Für Puppen bist du ja wohl eigentlich schon zu groß, oder?“, wollte sie wissen und ging zielstrebig in Richtung Puppenwagen.

„Gar nix!“, erwiderte Anna ziemlich unwirsch, machte einen großen Schlenker, sodass der Wagen fast umkippte, und versuchte dann, ihn so schnell wie möglich an der alten Frau vorbeizuschieben.

Wir anderen liefen eilig hinterher, aber Agnes versperrte uns den Weg. Dann ging alles sehr schnell, denn sie beugte sich so rasch vornüber und schaute in den Wagen hinein, dass wir es nicht verhindern konnten. Anna zerrte das Gefährt prompt von ihr weg auf die Straße und lief wie von Wölfen gehetzt davon.

Als ich kurz zurückblickte, sah ich Frau Baumann, die uns kopfschüttelnd hinterhersah. Sicher murmelte sie jetzt etwas wie: „Ts, ts, ts, diese Jugend von heute.“

„Gerade noch mal gut gegangen“, seufzte ich erleichtert.

„Aber sie hat Leo gesehen. Ich bin ganz sicher. Sie haben sich angelächelt wie alte Bekannte“, keuchte Anna atemlos.

„Du kennst die verrückte Pächtersfrau?“, wollte Georg von Leo wissen.

Die schüttelte trotzig den Kopf und murmelte: „Sie ist nicht verrückt!“

Wir hatten jedoch keine Zeit, über diese Aussage groß nachzudenken, denn nun passierte genau das, wovor sich meine Freunde am meisten gefürchtet hatten. Zwei ihrer Schulkollegen bogen um die Ecke.

„Schreck, lass nach! Das sind Franz und Jo, die wildesten Typen der ganzen Schule!“, keuchte Georg. „Jetzt können wir unser Testament machen. Im Ort können wir uns jedenfalls nicht mehr blicken lassen und in der Schule schon gar nicht!“

„Halt!“, schrie Anna, es klang fürchterlich. „Halt, keinen Schritt weiter!“

Franz und Jo, die gerade von der anderen Straßenseite zu uns herüber hatten wechseln wollen, blieben wirklich überrascht stehen. Ihr schadenfrohes Grinsen gefror.

„Ihr dürft auf keinen Fall zu uns kommen, das ist gefährlich!“ Anna zitterte am ganzen Körper und war kreidebleich. „Wir haben da drin ein verletztes Tier. Das hier ist die einzige Möglichkeit, es zu transportieren.“ Sie deutete auf den Puppenwagen. „Es hat vielleicht Tollwut. Mich hat es schon gebissen.“

Zeitgleich ertönte aus dem Wagen ein grauenerregendes Fauchen und Knurren. Hätte ich nicht gewusst, dass Leo darin saß, ich hätte an eine räudige Wildkatze gedacht.

„Aua, dieser Schmerz!“, brüllte Anna und hielt sich ihren Arm.

Franz und Jo tuschelten miteinander, dann deuteten sie einen Gruß an und gingen etwas steif weiter. Wir hatten ungläubig und staunend zugesehen.

„Nie wieder werde ich über ein Mädchen lästern“, murmelte Georg. „Das war so was von cool!“

„Du solltest Schauspielerin werden“, rief ich.

„Und was ist mit mir?“, kam es aus dem Puppenwagen.

„Du natürlich auch!“

Schließlich waren wir beim Supermarkt angekommen, der ein bisschen außerhalb des Ortes liegt. Es war erst einige Monate her, dass er eröffnet worden war. Vorher hatte es im Dorf nur einen Laden gegeben, der einer alten Frau gehört hatte. Dort hatte es alles gegeben, angefangen von Milch, Butter und Brot bis hin zu Stoffen. Man bekam bei ihr Nadeln und Zwirn, bunte Wolle, ja, sogar Nägel und Werkzeug. Und für uns Kinder gab es Spielsachen und Zuckerzeug, es war einfach alles da, was man sich nur vorstellen konnte. Der Geschäftsraum war vom Boden bis zur Decke vollgestopft mit Kram und Sachen und man musste nur kommen und sagen, was man wollte, schon lief die alte Frau zwischen den Regalen hin und her und brachte das Verlangte. Es roch immer ganz komisch bei ihr, aber irgendwie gut, und ich fand es in dem Laden immer sehr schön.

Als die alte Frau starb, gab es niemanden, der ihr Geschäft übernehmen wollte, und so kam eine Supermarktkette und baute ein neues großes Gebäude.

Eigentlich hat mich das immer traurig gemacht, ich mochte den alten Laden und die Frau, der er gehört hatte, aber jetzt war ich froh darüber, denn es wäre unmöglich gewesen, Leo vor ihr zu verstecken. Im Supermarkt hingegen war man anonym, keiner kümmerte sich um einen, man konnte durch die Gänge laufen und es war jedem egal.

Bevor wir hineingingen, machten wir aus, wer das Zahlen übernehmen sollte, und gaben Georg anschließend das Geld aus unseren Spardosen. Benni steckte eine Münze ein und nahm sich einen Einkaufswagen, doch bevor wir den Supermarkt betraten, schaute ich noch einmal nach, ob mit Leo alles in Ordnung war. Sie starrte mir mit finsterem Blick aus dem Puppenwagen entgegen.

„Bitte, verhalte dich ruhig, halt den Mund und bleib unter der Decke, sodass dich niemand sieht, sonst können wir für gar nichts garantieren“, ermahnte ich sie.

„Ich habe großen Hunger und es ist hier drunter schrecklich warm. Wie lange dauert denn das eigentlich noch?“, war ihre Antwort.

Voll schlimmer Vorahnungen ging ich gemeinsam mit den anderen in das Geschäft. Zum Glück waren fast keine Leute da. Eine Verkäuferin räumte gerade Milch und Butter ins Kühlregal, da konnten wir also nichts nehmen. Benni schob den Einkaufswagen zielstrebig in den Gang mit den Knabbereien, Keksen und Süßigkeiten. Anna folgte ihm mit dem Puppenwagen.

Als er haufenweise Süßkram in den Wagen packte, fing sie an zu schimpfen: „Was soll das? Sie kann sich doch nicht nur von Schokolade ernähren, vielleicht sollte man auch etwas Vernünftiges einkaufen!“

„Bitte schön, dann mach es selber!“ Damit ließ Benni beleidigt den Wagen stehen.

Anna blickte Hilfe suchend zu uns, doch wir schüttelten die Köpfe, den Puppenwagen würden wir unter keinen Umständen schieben.

„Kann vielleicht einer der Herren wenigstens den Einkaufswagen übernehmen?“, fauchte Anna. „Wendel, was ist los, kommst du bitte?“

Zögernd trottete jener zu seiner Schwester und nach einem kurzen Blick in das Regal vor ihm warf er eine Großpackung Müsliriegel in den Wagen. „So“, knurrte er, „jetzt bist du hoffentlich zufrieden!“

Anna blies die Wangen auf und verdrehte die Augen, da ertönte aus dem Puppenwagen laut und deutlich eine laute und sehr schrille Stimme, die uns allen das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Ich bin noch lange nicht zufrieden, ich will endlich so viele Speisen, dass sie mich satt machen können.“

„Psst, sei still!“, flüsterte ich und blickte mich ängstlich um, aber es schien keinem aufgefallen zu sein, dass eine Stimme aus dem Puppenwagen drang.

In höchster Eile sausten wir nun durch die Gänge und packten die verschiedensten Lebensmittel ein. Dann beeilten wir uns, an die Kasse zu kommen. Es war nur ein älterer Mann vor uns, der eine Kiste Bier gekauft hatte. Georg stand ganz vorne. Dann kamen Wendel und ich, wir packten die Sachen auf das Laufband, Anna stand hinter uns.

Plötzlich bemerkte ich eine kleine, schmutzige Hand, die sich blitzschnell eine Tafel Schokolade aus dem Regal neben der Kasse griff und gleich darauf wieder verschwand. Dann hörte ich laute Mampfgeräusche aus dem Puppenwagen. Ich spürte, wie ich eine Gänsehaut bekam, ich konnte gar nichts tun. Ich versuchte, mich möglichst natürlich zu benehmen und nicht irgendwie schuldbewusst oder verlegen auszusehen.

Die Kassiererin beäugte uns misstrauisch. Fünf Kinder mit einem Rieseneinkauf und einem Puppenwagen.

Ich packte in Windeseile alle Sachen, die sie eingescannt hatte, wieder in den Einkaufswagen zurück, als es laut und deutlich für jeden hörbar aus dem Puppenwagen tönte: „Hihihi, was ist das nur für ein lustiges Gepiepse?“

Anna täuschte einen Hustenanfall vor und raste dann mit dem Puppenwagen zum Ausgang. Die Kassiererin blickte ihr kopfschüttelnd nach. „Ist sie nicht schon viel zu groß für solche Spiele?“

Wir nickten beflissen und Georg beeilte sich zu zahlen.

Als wir alle wieder vor dem Supermarkt standen, schlug mir immer noch das Herz bis zum Hals. Ich werde den Anblick dieser kleinen, schmutzigen Hand, die aus dem Inneren des Puppenwagens schnellt und nach einer Tafel Schokolade greift, niemals vergessen. Es ist ein reines Wunder, dass niemand etwas bemerkt hat.

Wir waren schwer mit Einkaufstüten bepackt und beeilten uns, so rasch wie möglich wieder ungesehen in den Wald zu kommen. Zum Glück hing der Himmel voller dunkler Wolken, es würde ein Gewitter geben, so war der Ort um drei Uhr nachmittags wie ausgestorben.

Den ganzen Weg zurück schimpfte Anna mit Leo, die fröhlich kauend im Puppenwagen saß, das ganze Gesicht mit Schokolade beschmiert, und so tat, als ginge sie das alles gar nichts an. „Das kannst du vergessen, ich nehme dich sicher niemals wieder irgendwohin mit. Du bist unmöglich!“, keifte Anna.

Wir hielten erneut einen Sicherheitsabstand zu den beiden ein und erst im Schutz der Bäume schlossen wir erleichtert zu ihnen auf. Vom Schleppen der schweren Einkaufstüten taten uns schon die Arme weh. Schließlich hatten wir das Baumhaus erreicht, und nachdem wir die Lebensmittelvorräte verstaut hatten, gönnten wir uns zur Abwechslung selbst mal etwas zu essen, zwar verfolgt von Leos strengen Blicken, aber diesmal ließen wir uns nicht von ihr einschüchtern.

„Ich glaube, da braut sich ein ziemlich schlimmes Gewitter zusammen“, meinte Benni und schaute besorgt zum Himmel hinauf.

„Ja, ich schätze, wir müssen heim, sonst machen sich die Erwachsenen Sorgen um uns“, sagte ich.

Anna hatte mit Leo vereinbart, dass der Puppenwagen im Baumhaus bleiben sollte, weil Leo ihn so gemütlich fand. So verabschiedeten wir uns von der Elfe und beeilten uns, nach Hause zu kommen. Aber Anna trennte sich offensichtlich nur schweren Herzens von ihrer neuen Freundin und auch Leo schien der Abschied heute nicht ganz leicht zu fallen.

Wendel ermahnte seine Schwester ständig, endlich mitzukommen, und als die ersten Regentropfen fielen, rannten wir schließlich im Dauerlauf zum Hof meiner Großeltern, weiter kamen wir nicht mehr. Kurze Zeit nachdem wir zu Oma in die Küche gekommen waren, ging das Unwetter so richtig los. Es war die letzten Tage über schon drückend schwül und heiß gewesen und nun entlud sich die aufgestaute Hitze in einem schrecklichen Gewitter. Wir standen am Küchenfenster und schauten hinaus in den prasselnden Regen. Der Sturm peitschte die Wiese und die Bäume bogen sich wie Grashalme. Blitze zuckten über den Himmel, gefolgt von ohrenbetäubenden Donnerschlägen.

„Oh, sie wird furchtbare Angst haben allein da draußen!“, rief Anna und hatte Tränen in den Augen.

Wendel blickte sie finster an, als Großmutter auch schon fragte: „Wer wird Angst haben? Wer ist allein da draußen?“ Sie legte ihren Arm um Annas Schultern, die heftig zuckten.

„Na, die Amselmutter, die ihrem Kind gerade das Fliegen beibringt“, log Anna mit einer Selbstverständlichkeit, die mir fast unheimlich war.

Die Großmutter lächelte. „Tiere wissen sich sehr gut zu schützen, das hat die Natur so eingerichtet. Die spüren schon viel früher als wir Menschen, wenn ihnen Gefahr droht.“

„Wäre es nicht furchtbar dumm, wenn so ein Wesen plötzlich zu einem Menschen werden will?“, fragte Anna.

Mir war ziemlich unbehaglich zumute bei diesem Gespräch, aber wie konnte ich eingreifen? Georg schaute böse und flüsterte Wendel etwas ins Ohr, und wie ich ihn kenne, war es sicher nichts besonders Nettes.

„Ja“, lachte die Großmutter, „das wäre wahrscheinlich dumm, aber ich glaube nicht, dass die Amsel sich wünscht, ein Mensch zu sein. Die versteckt sich jetzt mit ihrem Jungen unter dem Geäst am Boden, und wenn das Unwetter vorbei ist, fliegen die beiden wieder jauchzend in den Himmel hinauf und genießen ihr Dasein.“

Anna schwieg, aber man konnte sehen, dass sie angestrengt über etwas nachdachte.

Da kam Opa zu uns herein. „Habt ihr schon zu Hause Bescheid gesagt, damit sich eure Eltern keine Sorgen um euch machen müssen?“, fragte er.

Nein, das hatte natürlich jeder vergessen und so beeilten sich Georg, Benni und Wendel, rasch zu Hause anzurufen.

Der Regen ließ langsam nach und auch das Blitzen und Donnergrollen waren mittlerweile schon weniger heftig. Oma kochte uns Kakao und dann gingen wir in mein Zimmer hinauf. Dort saßen wir eine Weile schweigend und ratlos auf meinem Bett herum, jeder in seine Gedanken versunken, und sorgten uns um Leo.

Schließlich lief Anna zum Fenster und presste ihre Nase an die Scheibe. „Wenn es aufgehört hat, gehen wir los und schauen nach ihr.“

„Wenn es aufgehört hat, gehen wir nach Hause“, erwiderte Wendel. „Mama war ziemlich grantig am Telefon, weil wir nicht rechtzeitig aufgebrochen sind. Und auch, weil ich erst so spät angerufen habe. Wieder typisch, nur weil ich der Ältere bin, bin ich immer für alles verantwortlich“, murrte er missmutig.

„Ja, ich fürchte, heute wird uns keiner mehr in den Wald lassen, dafür war das Unwetter zu heftig“, überlegte ich laut.

Von meinem Fenster aus sah ich meinen Großvater, der im nachlassenden Regen über den Hof zum Stall marschierte, um zu schauen, ob mit den Tieren alles in Ordnung war. Ich blickte besorgt zu den dicht stehenden Bäumen am Waldrand hinüber. Es war ganz dunkel dort drüben und die Hitze der letzten Tage hatte den Boden so aufgeheizt, dass jetzt nach dem Regenguss Dämpfe vom Grund aufstiegen und wie Nebelschwaden um die Stämme wallten. Und dann erschien wieder das große schwarze Tier, diesmal konnte ich es auch viel besser erkennen, denn es war ja erst später Nachmittag. Allein stand es ganz still da, den schweren Kopf hocherhoben, und es schien, als blickte es mir direkt in die Augen.

„Das ist jedenfalls kein Wolf!“ Ich erschrak fürchterlich, als ich Annas Stimme hinter mir hörte.

Prompt stürzten auch die anderen ans Fenster, aber das Wesen war schon zwischen den Bäumen verschwunden.

„Was hat das zu bedeuten, warum ist es allein gekommen? Hoffentlich ist ihr nichts passiert!“ Anna war schon wieder in Tränen ausgebrochen.

„Was ist es denn nun für ein Tier?“, wollte Georg wissen.

„Es ist nicht von dieser Welt“, behauptete Anna. Alle schauten mich herausfordernd an.

„Ich fürchte, sie hat recht“, murmelte ich.

Leo - Die Geschichte einer ungewöhnlichen Elfe

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