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Kapitel 1

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»Machista«, stößt Rosa-Li verächtlich aus, und Roberto schaut sie gequält an: »Was um Himmels willen habe ich denn jetzt schon wieder falsch gemacht?«.

»Du? Gar nichts. Der Kerl am Tisch hinter mir beschließt einfach, dass seine Begleiterin Fisch bestellen soll, weil der besser für die Figur ist. Unverschämt so was. Das sollte der mal mit mir machen! Mit Sicherheit ist er selbst zu fett.«

Wie so oft, spricht Rosa-Li eine Spur zu laut. Der Tischnachbar dreht sich um und tippt ihr mit dem Finger auf die Schulter. »Sie halten sich wohl...« In diesem Moment wendet auch Rosa-Li ihm das Gesicht zu. »Das ist doch nicht möglich! Rosa-Li! Du hier?«.

»Jorge! Na, so was, die Welt ist wirklich klein.«

Sie stehen auf und umarmen sich lachend. »Und kämpferische Feministin bist du auch immer noch!«.

Rosa-Li druckst, doch sie fängt sich sofort. »Jorge, darf ich dir meinen Freund und Kollegen Roberto Pavón aus Kolumbien vorstellen?«.

»Angenehm, freut mich wirklich, Sie persönlich kennenzulernen. Ihre Sendung läuft ja auch im peruanischen Fernsehen. Hut ab, Sie treffen genau den Ton, der junge Leute heute anspricht.«

»Ja, Roberto ist wirklich ein Genie vor der Kamera«, bestätigt Rosa-Li und klärt Roberto auf, dass sie vor einigen Jahren eine Reportage über Jorge Tovars Familienplanungsprojekt für arme Frauen in abgelegenen Gebieten gemacht hat und dass sie damals gemeinsam durch verschiedene peruanische Provinzen gereist sind. Jorge stellt seine Tischnachbarin als Alejandra Prieto vor.

»Kann es sein, dass ich Ihren Namen aus La Nación kenne?«, fragt Rosa-Li, und die elegante Mittdreißigerin nickt. »Ich bin da die Frau fürs Grobe. Korruption, politische Intrigen, uneheliche Kinder unserer Minister, Sie wissen schon.«

Machu Picchu scheint an diesem Wochenende eine besondere Anziehungskraft auf Journalisten auszuüben.

Nach dem Essen gesellen sich Jorge und Alejandra auf einen Kaffee zu ihnen. Sie halten Händchen und himmeln sich an. Frisch verliebt, konstatiert Rosa-Li, und fragt sich, was wohl aus Laura geworden sein mag. Als sie Jorges Frau zuletzt sah, war die engagierte Anwältin zur Präsidentenberaterin für Menschenrechte avanciert. Eine gute Entscheidung, wie Rosa-Li fand, denn Laura gehört zu den Leuten, die die Demokratie mit Zähnen und Klauen verteidigen, wenn ein Präsident sie mal wieder mit Füßen tritt.

Als Rosa-Li vom Klo kommt, fängt Jorge sie vor der Tür ab. »Rosa-Li, sei ein Schatz, und sag Laura nichts, falls du sie treffen solltest. Sie weiß nichts von meiner Affäre mit Alejandra und wenn sie davon erführe... Sie glaubt, ich hätte beruflich in Cusco zu tun.«

Sie werde schweigen wie ein Grab, versichert Rosa-Li, doch sie kann es sich nicht verkneifen, zu fragen, ob ihn nun auch die Midlife-Crisis ereilt habe.

Er zuckt die Schultern. »Weißt du, wenn man so lange zusammen ist wie Laura und ich... Aber sag mal, du warst doch auch verheiratet, wenn ich mich recht erinnere, mit einem Landsmann von dir!«. Er feixt. »Wer im Glashaus sitzt, meine Liebe...«

Sie hakt sich bei ihm ein. »Ich gebe zu, es war ein schlechter Scherz.«

Gemeinsam gehen sie zum Tisch zurück. Rosa-Li stellt fest, dass Roberto heftig mit Alejandra flirtet. Es versetzt ihr einen kleinen Stich, doch sie lächelt tapfer. Ein schönes Wesen, diese Alejandra, das muss der Neid ihr lassen. Hinreißend sieht sie aus, mit ihrer blauschwarzen Mähne und den Mandelaugen. Und bestimmt ist sie fünfzehn Jahre jünger als sie. Kein Wunder, dass Roberto von ihr angetan ist.

Sie beschließen, am nächsten Morgen gemeinsam das viel gepriesene Naturschauspiel zu erleben. Nirgendwo soll der Sonnenaufgang so überwältigend sein wie auf dem Machu Picchu.

Als Roberto ihr vorschlug, die Nacht in diesem Hotel auf dem Berg gleich neben dem Ruinenareal zu verbringen, war Rosa-Li sofort begeistert. Sie würden sich die Inkastätte ansehen, bevor die ersten Busse eintreffen, und Machu Picchu zumindest ein halbes Stündchen in aller Ruhe genießen können. Von ihren Honoraren als freie Journalistin hätte sie sich den sündhaft teuren Öko-Schuppen nie leisten können, doch für Roberto spielt Geld keine Rolle mehr, seit er sein Fernsehprogramm in ganz Lateinamerika verkauft. Für die erste gemeinsame Nacht nach drei Monaten sei dies genau der richtige Rahmen, meinte er, und sie konnte ihm nicht widersprechen.

Rosa-Li reibt sich den Schlaf aus den Augen, als Roberto sie weckt. »Komm, du Schlafmütze, wach werden. Kultur auf nüchternen Magen ertrage ich nicht, zumindest nicht nach einer Nacht mit einem liebestollen Weib. Ich brauche ein anständiges Frühstück.«

Sie wälzt sich aus dem Bett. Wo er nur die Energie hernimmt? Sie schaut auf die Uhr. Es ist gerade mal sechs, mehr als drei Stunden haben sie nicht geschlafen.

Als sie in den Frühstücksraum kommen, sitzt Jorge bereits dort. Alejandra sei noch mit ihrer Schönheit beschäftigt, entschuldigt er seine Freundin, sie werde später zu ihnen stoßen. Rosa-Li wirft Roberto einen triumphierenden Blick zu. Hat sie es sich doch gleich gedacht. Niemand sieht von Natur aus so perfekt aus.

Als sich draußen die Dunkelheit allmählich lichtet, unterbricht Rosa-Li die beiden Männer, die sich über Jorges Projekt unterhalten. »Also, ich gehe jetzt. Auch wenn mir kaputte Steine normalerweise ziemlich egal sind - den Sonnenaufgang hier oben will ich nicht verpassen. Wer weiß, ob ich in diesem Leben noch mal hier rauf komme.«

Auch Jorge schließt sich ihnen an, obwohl Alejandra noch immer nicht aufgetaucht ist. Es scheint ihn nicht zu wundern.

Während der indianische Führer von seinen Vorfahren und ihrer Art zu leben berichtet, schiebt sich die Sonne langsam hinter den Ruinen zum Himmel empor. »Ein goldener Ball, der einen Berg hinauf rollt«, flüstert Rosa-Li Roberto ins Ohr und hakt sich bei ihm unter, als der Führer eine Pause einlegt. Sie neigt selten zu Sentimentalitäten, und ihr historisches Interesse hält sich gewöhnlich in Grenzen, doch der Gedanke, dass sich hier, wo sie jetzt stehen, vor fünfhundert Jahren ein Inka-Pärchen beim gleichen Anblick umarmt haben könnte, hat schon etwas Romantisches. Roberto zieht sie an sich. »Schön, dich...«

Ein langgezogener Schrei zerreißt jäh die Stille, jemand will gar nicht mehr aufhören zu kreischen. »Eine Frau«, konstatiert Roberto. »Komm, lass uns nachschauen. Es klingt, als sollte jemand am Spieß gebraten werden.«

»Da hat sich jemand verletzt«, vermutet Rosa-Li und läuft hinter ihm her. Jorge und der Führer schauen einigermaßen verdutzt. »Wir sind gleich wieder da, macht ruhig weiter«, ruft sie ihnen noch zu. Neugier scheint nicht Jorges hervorstechendste Eigenschaft zu sein. Aber schließlich ist er Frauenarzt und nicht Reporter.

Sie müssen nicht lange suchen. Auf einer der Terrassen, die den Blick auf den Hang freigeben, auf dem die Inkas vor gut fünfhundert Jahren vermutlich ihr Gemüse anbauten, kniet ein Mann, dessen grau meliertes Haar im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden ist. Vor ihm liegt bäuchlings jemand auf dem Boden. Rosa-Li sieht nur die leicht angewinkelten Beine, die in Jeans stecken. Als der Mann sich aufrichtet, schlägt sie sich vor Schreck die Hand vor den Mund. Alejandra. Jemand hat ihr eine Plastiktüte über den Kopf gezogen und auf der Höhe des Halses zugebunden, doch die blauschwarze Haarpracht quillt darunter hervor.

»Sie ist tot«, erklärt der Mann. »Vermutlich erstickt. Da kommt jede Hilfe zu spät.«

»Sind Sie Arzt?«, will Rosa-Li wissen, und der Mann nickt.

»Wer hat sie denn gefunden? Ich bin Journalistin.«

Der Arzt deutet auf eine kleine, kugelrunde Frau in einer knallbunten Flatterhose, die auf einem Mäuerchen sitzt, und immer wieder den Kopf schüttelt. Während Roberto ein paar Worte mit dem Arzt wechselt, setzt sich Rosa-Li neben die Frau. »Haben Sie sonst noch jemanden gesehen?«. Die Frau schaut sie fragend an. Rosa-Li versucht es auf Englisch und hat damit mehr Glück.

»Sie lag einfach nur da, es war sonst niemand zu sehen. Und da habe ich geschrien, so laut ich konnte. Dann kam gleich der Mann da und sagte, er sei Arzt. Ich war auf der Suche nach meiner Freundin, sie ist nach dem Frühstück schon mal vorgegangen. Ich brauche morgens immer...« Rosa-Li legt ihr die Hand auf den Arm, um den offensichtlich bevorstehenden Redeschwall zu verhindern. »Thanks a lot, Madam

Nachdem der Arzt sich verabschiedet hat, kniet sich Roberto neben die Tote und durchsucht ihre Taschen. Nichts. Nur ein zerknülltes Taschentuch. Ihr Presseausweis steckt in der Gesäßtasche. Auch eine Handtasche ist nirgends zu sehen. Merkwürdig, eine Frau ohne Handtasche, denkt Rosa-Li. Eine Journalistin noch dazu. Die hat doch zumindest immer etwas zu schreiben bei sich, ein Handy, ein Aufnahmegerät, Visitenkarten. Und Schminkzeug natürlich, für den Fall, dass sie auf den Mann ihres Lebens stößt.

»Wir müssen Jorge Bescheid sagen!«.

»Rosa-Li, das machst du am besten, ich laufe ins Hotel und alarmiere den Sicherheitsdienst. Womöglich weiß der noch nicht, was passiert ist. Die Polizei in Aguas Calientes muss gerufen werden. Bis die Jungs hier oben sind, kann ich noch schnell einen Blick in Alejandras Zimmer werfen. Für alle Fälle. Wir treffen uns später im Restaurant, okay?«.

Er drückt sie kurz und spurtet los in Richtung Ausgang. Gerade sind die ersten Busse aus Aguas Calientes eingetroffen, und Roberto muss sich durch die Massen kämpfen, die auf die Ruine strömen. Für den Rest des Tages ist es vorbei mit der Beschaulichkeit auf dem Machu Picchu.

Jorge dreht Rosa-Li den Rücken zu und lauscht dem Führer, der sein Programm abspult. Offensichtlich haben die beiden noch nicht bemerkt, was geschehen ist. Sie bittet den Führer mit einer Handbewegung, innezuhalten, und fasst Jorge am Arm. »Jorge, es ist etwas Schreckliches passiert. Alejandra... sie ist tot. Jemand hat sie ermordet.«

Der Gynäkologe schaut sie an, als verstehe er nicht, was sie gesagt hat.

»Ermordet?«, fragt er schließlich.

Rosa-Li nickt.« Sie liegt auf der Terrasse da drüben. Komm, ich bringe dich hin, wenn du willst.«

Er nickt nur, und sie zieht ihn hinter sich her. Zwei Männer des Sicherheitsdienstes in braunen Uniformen eilen ebenfalls gerade herbei und bemühen sich sofort, die Menschen von der Leiche fernzuhalten, denn immer mehr Leute drängen sich um den Tatort. Rosa-Li zeigt den Wachmännern ihren Journalistenausweis, und sie lassen sie vorbei. Jorge starrt mit versteinertem Gesicht auf die Leiche. »Lass uns gehen. Du kannst ihr nicht mehr helfen«, sagt Rosa-Li und zieht ihn weg.

Schweigend laufen sie zum Hotel. Rosa-Li dreht sich am Ausgang noch einmal um und schaut auf die Ruinen der Inkastadt. Viel hat sie nicht davon gesehen, aber das ist nun auch egal. Machu Picchu ist ihr offensichtlich nicht vergönnt.

Im Restaurant des Hotels bestellt sie zwei Cognacs. Jorge nimmt dem Ober den Schwenker aus der Hand, leert ihn in einem Zug und ordert gleich einen zweiten.

»Kanntest du sie schon lange?«, will Rosa-Li wissen.

Er schüttelt den Kopf. »Nein, erst seit ein paar Wochen.«

»Und eine Idee, wer sie auf dem Gewissen haben könnte, hast du nicht?«.

Jorge zuckt die Schultern. »Natürlich nicht. Aber Feinde hatte sie genug. Das gesamte Kabinett hat sie ebenso gehasst wie die übrige Prominenz dieses Landes. Ihr Job war es schließlich, schwarze Flecken auf weißen Westen zu entdecken und sie dann der Öffentlichkeit zu präsentieren. Selbst der Präsident war stocksauer auf sie. Sein uneheliches Kind war eines ihrer Lieblingsthemen.«

»Woran arbeitete sie denn zuletzt?«.

»An irgendeiner Korruptionsgeschichte. Doch sie hat mir so gut wie nichts darüber erzählt. Angeblich hat wieder mal ein Kabinettsmitglied irgendwo abgesahnt, das Übliche eben. Ich weiß nur, dass sie sich heute Morgen mit einem Informanten vor dem Hotel verabredet hat. Er wollte ihr irgendwelche Papiere geben. Aber was? Keine Ahnung.« Wieder zuckt er mit den Schultern.

»Und wer es war, hat sie dir auch nicht verraten?«.

Wieder nur Kopfschütteln. »Bevor ich zum Frühstück ging, hat sie mir nur gesagt, dass sie etwas später zu uns stoßen würde, weil sie dieses Treffen habe, aber es dauere nur ein paar Minuten.«

»Der Informant war womöglich ihr Mörder. Doch er wird im wahrsten Sinne des Wortes über alle Berge sein, denn es hat bestimmt niemand den Zufahrtsweg abgesperrt. Wenn der Mörder den ersten Bus ins Tal genommen hat, ist er längst untergetaucht. Womöglich ist er auch zu Fuß runter, da entdeckt ihn erst recht niemand.«

Jorge kippt bereits seinen dritten Cognac, als Roberto sich zu ihnen gesellt. Die Polizei sei gerade eingetroffen, berichtet er. »Du wirst mit ihnen reden müssen, Jorge. Schließlich war Alejandra in deiner Begleitung hier oben.«

Doch Jorge schlägt vor, den nächsten Bus zu nehmen und sang- und klanglos zu verschwinden. Er fürchtet, die Angelegenheit könnte an die Presse gelangen. »Dann kann ich meinen Job an den Nagel hängen. Ich habe gerade in Deutschland neue Gelder für mein Projekt beantragt. Wenn ich mit einem Mord in Zusammenhang gebracht werde, bekomme ich die nie. Das wäre das Aus. Ich müsste Dutzende von Leuten im ganzen Land entlassen. Und meine Ehe kann ich auch vergessen, wenn Laura erfährt, dass ich mit Alejandra hier oben war.«

Rosa-Li und Roberto schauen sich erstaunt an. Roberto runzelt die Stirn, doch er sagt nichts.

»Aber vielleicht könntest du dazu beitragen, den Mörder zu finden«, wendet Rosa-Li ein.

»Ich habe dir doch schon gesagt, was ich weiß. Gar nichts. Sie ist tot, und das tut niemandem mehr leid als mir, das kannst du mir glauben. Ich mochte sie sehr. Doch was hilft es ihr, wenn ich jetzt auch noch in Teufels Küche komme? Inzwischen sind bestimmt mehrere Hundert Touristen hier oben, die Polizei wird gar nichts herausfinden. Und glaubt ihr, in diesem Kaff wissen sie, wie man einen Mordfall untersucht? Die werden ziellos ein bisschen herumstochern, und das war es dann.« Seine Stimme klingt ungehalten. »Und dass ich es nicht war, der ihr die Tüte über den Kopf gestülpt hat, könnt ihr schließlich bezeugen. Oder glaubt ihr, ich habe sie vor dem Frühstück dort auf die Terrasse geschleppt?«.

»Nein, Jorge, theoretisch wäre das zwar möglich, aber sie war noch warm, als ich sie angefasst habe. Sie lag noch nicht lange dort, das hat mir auch der Arzt bestätigt«, erwidert Roberto.

»Worauf warten wir dann noch? Lasst uns den nächsten Bus nehmen«, drängt Jorge.

»Gut, aber wir müssen noch packen«, erwidert Rosa-Li.

Jorge hat seinen Rucksack bereits vor dem Frühstück an der Rezeption abgegeben, er will auf der Plattform vor dem Hotel, auf der die Busse ankommen, auf die beiden warten.

»Du kennst diesen Jorge doch nun schon eine Weile. Findest du sein Verhalten nicht auch seltsam? Da wird seine Geliebte ins Jenseits befördert, und er will sich nicht einmal mit der Polizei unterhalten«, meint Roberto, als sie allein sind.

»Stimmt, das ist ganz schön merkwürdig. Und findest du es nicht auch seltsam, dass Polizei und Sicherheitsdienst nicht längst alles abgesperrt und die Menschen vernommen haben?«. Noch gut erinnert sie sich an die Zeiten, als der Leuchtende Pfad das Land terrorisierte, da glich ganz Peru einer Festung, es wimmelte überall von Polizisten und Soldaten. Inzwischen fühlt man sich offenbar wieder sicher, und die Wachsamkeit hat nachgelassen.

Roberto nickt. »Wahrscheinlich halten sie sich zurück, weil sie die Touristen nicht verängstigen wollen.«

Wenn Rosa-Li es recht bedenkt, liegt Jorge wohl gar nicht so falsch: Was sollen die paar Polizisten aus Aguas Calientes schon ausrichten? Sie müssten Hunderte von Menschen vernehmen und zudem überall gleichzeitig sein, an der Straße nach Ollantaytambo, am Bahnhof, am Hubschrauberlandeplatz. Damit sind sie zweifellos überfordert. Der Mörder hatte Zeit genug, um zu entkommen. Selbst zu Fuß wäre er in einer halben Stunde in Aguas Calientes gewesen.

»Sag mal, warum hat Jorge schon heute Morgen gepackt?«. Rosa-Li schaut von ihrem Koffer auf.

»Gute Frage. Wenn ich bösartig wäre, würde ich sagen, weil er nicht wollte, dass seine Sachen in Alejandras Zimmer gefunden werden. Dabei fällt mir ein: Auch wenn die Polizei langsam ist – irgendwann wird sie ins Hotel kommen, um nachzufragen, ob Alejandra hier gewohnt hat, und dann werden sie feststellen, dass Jorge und sie ein Zimmer geteilt haben. Dann wird er nicht mehr darum herumkommen, eine Aussage zu machen.«

»Es sei denn, das Zimmer läuft nur auf ihren Namen«, gibt Rosa-Li zu bedenken.

»Und sie hat ihn nicht angemeldet. Ich werde gleich an der Rezeption nachfragen.«

»Gute Idee. Irgendwann werden sie auch im Hotel das Personal befragen und nach Fingerabdrücken suchen. Und sie werden die von Jorge finden...«, antwortet Rosa-Li.

»Das stimmt zwar, doch wenn er noch nie straffällig geworden ist, wird es eine Weile dauern, bis sie sie zuordnen können. Im Übrigen habe ich in ihrem Zimmer eine Visitenkarte gefunden, die ich eingesteckt habe. Sie gehört einem Henry Salinas aus Lima. Den sollten wir mal aufsuchen, wenn wir in der Hauptstadt sind.«

Rosa-Li schüttelt den Kopf. »Das ist Beweismaterial, mein Lieber, und das entwendest du so einfach?«.

Er lacht. »So was würde ich doch nie tun, Rosita. Ich recherchiere, das ist alles. Und sorge dafür, dass wir die Geschichte auch wirklich exklusiv haben.«

»Und du hast natürlich auch daran gedacht, keine Fingerabdrücke zu hinterlassen?«.

»Klar, meine Süße! Was denkst du denn? Ich habe erstens nicht viel angefasst und zweitens ein Papiertaschentuch benutzt.«

»Und wie bist du an den Zimmerschlüssel gekommen?«.

Er schaut sie unschuldig an. »Bei dem ganzen Trubel war gerade niemand an der Rezeption. Und da fand ich ihn ganz zufällig.«

»Und als du ihn zurückgebracht hast, hat dich auch niemand gesehen?«.

»Du wirst lachen: Ich habe ihn einfach steckenlassen«, erwidert er.

Ächzend hebt sie ihren Koffer vom Bett und legt ihm dann die Arme um den Hals. »Ich dachte, wir wollten ein paar Tage Urlaub in Peru machen, ins Museum gehen, entspannen, ein bisschen quatschen.«

Er küsst sie. »Würde Jorge nicht auf uns warten, würde ich dich zur Entspannung auf der Stelle verführen.«

»Und du denkst, das schaffst du?«.

»Ich bin da sehr zuversichtlich.«

Sie verdreht die Augen. »Und ich hatte gehofft, du hättest in den letzten drei Monaten zumindest ein bisschen von deiner Arroganz abgelegt.«

»Ich dachte, du liebst mich so wie ich bin. So, und nun komm, wir müssen los, sonst haut dein Freund Jorge noch ohne uns ab. Und ich würde ihm zu gern noch ein bisschen auf den Zahn fühlen. Ich kann mir nicht helfen, aber irgendwas ist bei dem faul.«

»Wenn diese Alejandra tatsächlich einer großen Korruptionsgeschichte auf der Spur war – vielleicht ist da ja auch für mich eine gute Story drin.«

»Was glaubst du, woran ich, selbstlos wie ich bin, die ganze Zeit denke?«.

Abgelaufen

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