Читать книгу Anomie - Teil 1 - Eva Kirilow - Страница 3
Prolog – Juli 2013
Оглавление„Die Zivilisation ist noch nicht abgeschlossen. Sie ist erst im Werden.“
(Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation 2, S. 465)
Die Luft war drückend schwül. Doch von einem Gewitter, das der meteorologischen Anspannung ein Ende bereitet hätte, fehlte jede Spur. Joachim ging mit schnellen Schritten durch die aufgeladene Julinacht. Die letzten Tage war es in der Stadt ungemütlich gewesen. Es schien, als würden die Menschen mit jedem Tag Hitze aggressiver werden. Aber wahrscheinlich hatte das Wetter damit nichts zu tun. Schon lange lebten die Bewohner voller Unzufriedenheit. Es ging ihnen nicht gut und zunehmend äußerten sie ihren Unmut öffentlich. Und wen traf das als Ersten? Ihn natürlich. Joachim, Polizist im Einsatz. Wenigstens war für heute Schluss und er konnte heimkehren zu Klara. Seine blonde Freundin mit den tiefdunklen Augen sah in letzter Zeit noch hagerer aus als sonst und ihre Augenringe wurden täglich größer. Bei dem Gedanken an sie fühlte sich Joachim schuldig. Er ließ sie viel zu oft allein. Zum Baby kamen die Sorgen um ihn. Klara sah wirklich nicht gut aus in letzter Zeit.
Endlich erreichte er das Wohngebäude, eilte rasch das Treppenhaus hoch. Vor der Tür verharrte Joachim kurz, steckte den Schlüssel vorsichtig ins Loch, um seine Angebetete und das Baby nicht zu wecken. Nur noch eine Umdrehung und er war zu Hause. Da knarrte das Funkgerät. Wie ein Schrei hallte es durch die dunkle, stille Nacht. „Alle Einsatzpolizisten sofort auf dem Revier melden. Das ist ein Notfall. Ich wiederhole, alle Polizisten sofort zum Einsatz melden. Wir haben es hier mit einem gigantischen Massenauflauf zu tun.“ Fieberhaft kramte Joachim nach dem Gerät und brachte es zum Schweigen. Er lauschte kurz. Drinnen blieb es still. Dann drehte er sich schweren Herzens zum Gehen um, bereit seiner Pflicht nachzukommen.
Beim Laufen grübelte Joachim. Warum hatte die Stimme von Revierleiter Schmidt so heißer, beinahe hektisch geklungen? Es war sonst nicht seine Art, sich irgendeine Rührung anmerken zu lassen. Vielleicht lag es nur an der Funkverbindung. Oder Joachim war einfach übermüdet. Er seufzte. Wahrscheinlich sollte er langsam mal Schluss machen mit diesen ständigen Einsätzen. Sie zerrten an seinen Kräften und an denen von Klara. Und immerhin ging er straff auf die 40 zu. Da sollte man es langsam etwas ruhiger angehen. Egal. Für den Augenblick wischte der Polizist die Gedanken an die Zukunft weg. Er konzentrierte sich auf seinen Einsatz. Massenrandale mitten in der Nacht bei immer noch 25 Grad im Schatten. Seltsame Zeit.
Bei seiner Ankunft ging alles drunter und drüber. So eine Hektik hatte Joachim noch nie auf dem Revier erlebt. Schmidt war komplett durch den Wind. Die weißen Haare des 60-Jährigen wirkten abgestumpft, seine Stirn war mit einem dünnen Schweißfilm überzogen. „Ahrendts, wo haben Sie so lange gesteckt?“, raunzte er Joachim an. „Hier bricht gerade alles zusammen. Sowas ist mir in meiner ganzen Zeit als Polizist noch nicht untergekommen. Unsere Streifen melden eine Ansammlung von tausenden Menschen. Die halbe Stadt scheint auf den Beinen zu sein. Ein wütender, aufgebrachter Mob, der nur noch randalieren will. Unglaublich!“ Joachim sagte nichts. Doch innerlich zweifelte er am Verstand des Alten. Das konnte ja wohl kaum sein. Klar, die Menschen waren unzufrieden – Arbeitslosigkeit, finanzielle Not, keine Zukunftsperspektiven. Das hieß aber noch lange nicht, dass sie sich zusammenrotten und die ganze Stadt zu Kleinholz verarbeiten würden. Und Anzeichen für eine organisierte Aufwiegelung gab es nicht. Das überprüften sie akribisch in regelmäßigen Abständen. Mechanisch streifte Joachim die Uniform und die schussfeste Weste an und packte die Ausrüstung zusammen. Gemeinsam mit seiner Truppe nahm er in dem gepanzerten Einsatzwagen Platz. Während es in halsbrecherischem Tempo durch die Nacht ging, döste Joachim vor sich hin. Die Unruhe seiner Kollegen bekam er nicht mit.
Der Einsatzwagen hielt abrupt. Schlaftrunken versuchte sich Joachim zu orientieren. Sie befanden sich südlich vom Zentrum an der großen Meiner Straße, einer der zentralen Ausfallstraßen der Stadt. Draußen tobte die Masse. Es herrschte ein wildes Tohuwabohu. Zahllose Menschen brüllten unkoordiniert durcheinander. Einer der Einsatzpolizisten riss die Tür auf. Daraufhin schlug den Männern im Wagen der Lärm des Mobs mit voller Wucht entgegen. „Das müssen wirklich Tausende sein“, schoss es Joachim durch den Kopf. Sein Herz schien sich kurz zu verkrampfen. Zum ersten Mal seit Langem spürte er einen Funken Angst auflodern. Sofort verdrängte er ihn wieder.
Stumm schoben sich die acht Kollegen aus dem Einsatzauto. Sie schnappten sich ihre Ausrüstung – Schutzschilder, Schlagstöcke und Helme. Während sich Joachim und sein Team auf den Einsatz vorbereiteten, kamen immer wieder neue Streifen dazu. In der kleinen Seitenstraße quer zur Meiner Straße wimmelte es bald von Polizisten. Es mussten schon über 500 sein, schätzte Joachim. Dann ging es los. Zusammen mit gut 20 weiteren Beamten liefen sie im Block auf die wütende Menge zu, ihre Schutzschilder wie eine Mauer vor der Brust. Als sie um die Ecke bogen, glaubte Joachim zu träumen. Die ganze Straße stand in Flammen. Alles, was brennen konnte, hatte der wütende Mob angezündet. Soweit man blickte, loderten die Feuer. Sie tauchten die Nacht in ein unnatürliches, schemenhaftes Licht. Bei der Ankunft am Gedränge stoppten die Polizisten irritiert. Krampfhaft versuchten Joachim und seine Kameraden zu verstehen, was da geschah. Tausende – junge und alte, eigentlich ganz normale Bürger – randalierten wild. Es schien keinen Anführer und kein System zu geben. Niemand schrie Forderungen, niemand hatte sich maskiert oder trug echte Waffen. Die Menschen nahmen, was sie greifen konnten und ließen daran ihre blinde, hemmungslose Zerstörungswut aus. Sie prügelten sich gegenseitig, schrieen, trampelten sich über den Haufen. Es war, als hätten sie komplett den Verstand, ja jede Art von Kontrolle über sich verloren.
„Vorwärts Männer, wir drängen sie zusammen“, brüllte der Einsatzleiter. Mit krampfhaft gewollter Entschlossenheit jagten die Polizisten voran. Sie versuchten, die Menge mit den Schildern zusammenzuschieben. Als das nichts half, setzten sie die Schlagstöcke ein. Mehr zaghaft als selbstbewusst trommelten sie auf die Unbewaffneten ein, die unter den harten Schlägen schnell zusammenkippten.
Alles in allem blieb die Aktion jedoch ein sinnloser Versuch, die Kontrolle zu erlangen. Es waren einfach zu viele Leute. Und dann gab es diesen Wahnsinn in den Augen der Menschen, der Joachim erschaudern ließ. „Die kümmern sich gar nicht darum, dass wir auf sie einschlagen“, schoss es dem Einsatzpolizisten durch den Kopf. „Es ist ihnen egal.“
Nur wenige Minuten nach Beginn der Aktion hatte sich der feste Block aus Polizisten in ein loses, konfuses Band aufgelöst. Jeder kämpfte für sich allein. Die meisten traten ungeordnet den Rückzug an, um wenigstens sich selbst in diesem aussichtslosen Kampf zu retten. „Zurück!“ hörte Joachim die hohle Stimme des Einsatzleiters undeutlich durch die Schreie der Meute hindurch. „Los, lass uns abhauen“, raunte ihm seine Kollege zu und zog ihn mit. Erst jetzt erkannte Joachim: Sie waren eingeschlossen! Zwischen ihnen und dem Einsatzteam hatte sich eine Gruppe Tobender geschoben. Mindestens 30 Mann. Einige von ihnen nahmen sie jetzt wahr und zwar als das, was sie waren: als Autorität eines in dem Moment abgrundtief verhassten Staats. Joachims Knie wurden weich, als sich der Zorn der Menge gegen sie beide wendete. „Verschwindet!“ schrie Joachims Kollege schrill. Er schlug mit seinem Schlagstock nach allem, was sich ihm näherte und schoss sogar mit seiner Waffe in die Menge. Das machte den Mob richtig wütend. Kreischend stürzten sich die Wilden auf die Polizisten. Joachim versuchte die Menschen mit aller Kraft abzuwehren. Doch die Tritte und Schläge, die auf ihn einhagelten, raubten ihm den Atem. Aus dem Augenwinkel sah er seinen Kollegen zu Boden gehen. Blut spritzte diesem aus klaffenden Wunden am Kopf und im Bauch. Dann fiel Joachim selbst. Er spürte schon gar nichts mehr. Ein Nebelschleier hatte sich vor seine Augen gelegt, die Schreie klangen gedämpfter. Kurz vor der Bewusstlosigkeit versuchte sein Verstand krampfhaft zu verstehen, was vor sich ging. Sein letzter Gedanke galt Klara. Wie sie wohl allein mit dem Baby zurecht kam?