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Kapitel 2 – November 2017
ОглавлениеMittlerweile konnte Martin die Polizeiprotokolle von Lindingen im Schlaf herbeten. Wieder und wieder hatte er sie intensiv studiert. Er war sich nun sicher, dass es sich um einen Fall von Anomie handelte. Das Leben in Lindingen – auch damit hatte er sich eingehend beschäftigt – war von einer Vielzahl sozialer Probleme belastet: Die Arbeitslosigkeit lag bei in diesen Zeiten ungewöhnlichen 20 Prozent, viele Menschen lebten im Elend. Es gab zahlreiche heruntergekommene Wohnviertel, in denen fast niemand von seinem Job existieren konnte oder eine Perspektive besaß. Entsprechend hoch war die Kriminalität. Die soziale Verelendung traf bei Weitem nicht nur die Menschen mit geringer Qualifikation. Gerade auch studierte Fachkräfte hatten keine Chance. Von ihnen gab es in der Stadt viele. Die meisten kamen zum Studieren und blieben anschließend. Oft gelang es ihnen, sich einige Jahre mit Behelfsjobs mehr oder weniger gut über die Runden zu retten. Doch die lokale Wirtschaft war miserabel. In Lindingen gab es kaum Industrie und produzierende Zweige. Die Stadt lebte im Wesentlichen von der Kreativwirtschaft, Kultur und Medien, Handel und Dienstleistungen. Als sich die ökonomische Lage verschlechterte, brachen diese Zweige ein. Kein Wunder also, dass das zivilisierte Verhalten unter diesem Druck zu bröckeln begann und barbarische Angewohnheiten hervorbrachen.
Norbert Elias erklärt in seinen Werken: Die Verflechtungen der Menschen haben sich im Laufe der Zeit immer mehr verdichtet. Die Beziehungen, in die ein Bürger eingebettet ist, sind heute um ein Vielfaches umfangreicher als noch in vergangenen Jahrhunderten. So wurde aufgrund der zunehmenden Konkurrenz eine Arbeitsteilung und Differenzierung der Gesellschaft unerlässlich. Das erhöht wiederum die Abhängigkeit des Einzelnen von anderen. Funktionieren kann das komplexe Gebilde nur, wenn alle mit Bedacht und Rücksicht aufeinander handeln. „Das Verhalten von immer mehr Menschen muss aufeinander abgestimmt, das Gewebe der Aktionen immer genauer und straffer durchorganisiert sein, damit die einzelne Handlung darin ihre gesellschaftliche Funktion erfüllt“, schreibt Elias (Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation 2, S. 327). Heftige emotionale Ausbrüche oder abweichendes Verhalten müssen vermieden werden. Der Einzelne ist gezwungen, sein Verhalten zu regulieren, zu vereinheitlichen und zu stabilisieren. Auch das Bewusstsein ändert sich von einem magisch-traditionellen hin zu einem rationalen, wissenschaftsorientierten Denken. Die Regulierung des Verhaltens geschieht meist unbewusst. Der Mensch bekommt von Kind an Zwänge zur Unterdrückung von unmittelbaren Gefühlen auferlegt. Im Laufe seines Lebens werden diese erzieherisch vermittelten Fremdzwänge zu kaum wahrnehmbaren, aber tief verinnerlichten und allgegenwärtig greifenden Selbstzwängen, die Teil des eigenen Wesens sind. Elias schreibt, dass die gleichmäßige Selbstbeherrschung des Menschen „wie ein fester Ring, sein ganzes Verhalten umfasst“ (Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation 2, S. 339). Dieser bindende Ring wird gebildet durch das Wissen um die Folgen des Handelns – und die deshalb erforderliche Selbstzähmung. Der Wandel von Fremd- zu Selbstzwängen lässt sich zum Beispiel am Verhältnis des Menschen zur Sauberkeit und dem Waschen erkennen. Früher wusch man sich nur spartanisch und immer dann, wenn man einem Höhergestellten begegnete. Heute ist Sauberkeit eine tief verinnerlichte Gewohnheit. Auch wenn man niemanden trifft, wäscht oder rasiert man sich – einfach aus einem inneren Verlangen nach Sauberkeit heraus oder, wie Elias es nennt, einem Selbstzwang, der sich im Laufe des Zivilisationsprozesses herausgebildet hat.
Dabei meint Elias nicht, dass in der Vergangenheit keine Zwänge auf den Menschen gelastet hätten. Ohnehin spricht er sich gegen Begriffspaare wie „unzivilisiert“ und „zivilisiert“ oder Wertungen der verwendeten Begriffe aus. In früheren Gesellschaften wirkten Zwänge überwiegend von außen auf den Menschen. Der stärkste stellte die permanente Bedrohung durch körperliche Gewalt dar. Jederzeit musste man fürchten, Opfer der Affekte eines Anderen zu werden. Heute ist diese Gefahr gering. Die Zwänge, die nun auf dem Menschen lasten, sind subtiler und in sein Inneres verlagert. Elias bringt das Beispiel einer Straße, um den Wandel der auf den Menschen ruhenden Zwänge zu beschreiben: Früher hatte man auf der Straße Angst vor einem Überfall, heute aufgrund des komplexen Verkehrs davor, überfahren zu werden. Man muss aufpassen – also sein Verhalten regulieren – um sicher über die Straße zu kommen.
Die Selbstzwangapparatur des modernen Menschen ist laut dem klassischen Sozialwissenschaftler sehr wichtig für die heutige Gesellschaft. Besteht die Hauptgefahr doch heute darin, dass jemand innerhalb des vielschichtigen Getriebes der Gesellschaft seine Selbstkontrolle verliert. Die Kämpfe und Auseinandersetzungen sind aber nicht verschwunden. Sie wurden vielmehr – wie die wirkenden Zwänge – nach innen in den Einzelnen hinein verlegt. Spannungen und Leidenschaften, die früher unmittelbar im Kampf zwischen den Menschen geklärt wurden, muss der Einzelne nun in sich selbst austragen. Seine Selbstbeherrschung kämpft gegen seine unmittelbaren Gefühle. Nicht immer enden diese inneren Auseinandersetzungen gut. Das System der Selbstkontrolle ist störanfällig und der permanente innere Druck lastet schwer auf dem Menschen. Er kann Spannungen erzeugen, die zu ständiger Unruhe oder Unzufriedenheit führen. Im schlimmsten Fall bahnt sich der innere Druck einen Weg nach draußen und äußert sich auf für Mensch und Gesellschaft destruktive Weise. Durch die Zivilisationskonflikte können Wunden in der Psyche entstehen, die entweder langsam heilen – oder sich nie schließen und immer wieder zerstörerisch aufbrechen.
Alles passte gut – Martins Recherchen und die Theorie dazu. Doch letztendlich kam der Soziologe zu der Erkenntnis: Er konnte nur Ergebnisse erhalten, wenn er sich von der Lage in Lindingen selbst ein Bild machte. Und so beschloss er, in einer kalten Novemberwoche in die ominöse Stadt zu fahren.
Der Wind war schneidend. Er fuhr Martin rau durch alle Glieder, als er seinen Wagen verließ, den guten alten, mattgrünen VW, dessen Dellen an den Türen und der Stoßstange von einem bewegten Auto-Leben zeugten. Hierzu zählten mehr als eine Tempoüberschreitung und gelegentliche Begegnungen mit einer Leitplanke oder einer Säule in der Tiefgarage. Trotz Mantel fror Martin. Es war eindeutig zu kalt für diese Jahreszeit. Und zu still für eine Großstadt, fand er. Der Forscher hatte sich in einer kleinen, etwas abseits gelegenen Pension eingemietet, unweit jener legendären Straße, in der die Ausschreitungen stattgefunden hatten. Martin war schon früh am Morgen losgefahren. Lindingen lag ein ganzes Stück entfernt. So dunkelte es bereits, als er die Metropole erreichte, obwohl die Uhr erst um vier am Nachmittag anzeigte. Die einsetzende Finsternis verstärkte in dem Doktoranden das Gefühl, am Ende der Welt zu sein. Zwar war Lindingen nicht wesentlich kleiner als Randhausen, aber es gab deutlich weniger Leben. Auf den Straßen – selbst im Zentrum, das konnte Martin bei der Durchfahrt erspähen, – hasteten nur vereinzelt Menschen durch die Gegend. Sie wirkten verloren auf den unbelebten Straßen. Die meisten Geschäfte hatten die Schaufensterjalousien heruntergelassen, obwohl sie geöffnet waren. Hier und da schossen einige Autos durch die Straßen. Sie hatten es offensichtlich eilig, ans Ziel zu gelangen. „Liegt sicher am Wetter“, dachte Martin, ohne sich weiter den Kopf über seinen ersten Eindruck von der Stadt zu zerbrechen. Gerade fing es an zu nieseln. Der 32-Jährige ging zum Kofferraum und hob die Reisetasche heraus. Dabei machten sich die Bücher darin unangenehm bemerkbar. Martin kam der Gedanke, er müsste mal wieder mehr trainieren statt sich nur hinter dicken Wälzern in der Bibliothek zu verschanzen.
Als Martin die Pension betrat, schlug ihm eine angenehme Wärme entgegen. „Wenigstens hier scheint es freundlich zu sein“, dachte er erleichtert. Eine kleine, rundliche Frau Mitte 50 erschien an der Rezeption. „Wunderbar Herr Gehring. Wir haben uns schon Gedanken gemacht, ob Sie es noch bei vernünftigem Wetter schaffen. Heute Nacht soll es schneien und einen ordentlichen Wind haben diese Wetterfritzen angesagt. Aber nun sind Sie ja angekommen. Gerade noch rechtzeitig. Sie scheinen ein Glückskind zu sein. Ich rufe gleich meinen Sohn. Der bringt Ihre Sachen hoch. In einer halben Stunde gibt es Abendessen.“ Munter plauderte die Frau weiter. Martin stand schweigend daneben und ließ den Wortschwall gern über sich ergehen. Er fühlte sich in dem Moment gut aufgehoben. Die Pensionsbesitzerin schob ihn fürsorglich in Richtung Treppe und rief derweilen lauthals nach ihrem Sohn: „Karl, los komm her! Es gibt zu tun!“ Dieser, ein hagerer Kerl nicht viel älter als der Doktorand, kam eilig angesprungen und folgte der Aufforderung seiner Mutter. Widerstandslos ließ sich Martin in sein Zimmer führen, einen liebevoll, antik eingerichteten Raum. Nachdem der zum Tragen beorderte Karl die Reisetasche schnaufend abgestellt hatte und gegangen war, ließ sich Martin auf sein Bett fallen. Ohne es zu wollen, fiel er sofort in einen tiefen Schlaf. Er hatte in letzter Zeit viel über dem Fall von Lindingen gebrütet und sich kaum eine Pause gegönnt. Das kostete ihn mehr Kraft, als er vermutet hätte. Und so schlief er selig bis zum Morgen, ohne Abendessen und komplett bekleidet.
Frisch erholt fühlte sich Martin an dem ersten Morgen in Lindingen zu allen Taten bereit. Er schälte sich aus seinen alten Sachen – wenigstens Mantel und Schuhe hatte er sich des Nachts abgestreift – und duschte. Dann schlüpfte er in frische Kleidung und ging zum Frühstück. Im Speisesaal saßen drei Gäste. Dazu zählte eine junge Frau mit ihrer zehnjährigen Tochter. Offenbar waren sie auf der Durchreise, denn ihre Taschen standen schon gepackt an der Treppe. Außerdem hörte Martin das Gespräch der beiden mit, in dem die Mutter ihre Tochter immer wieder zur Eile antrieb. Der andere Anwesende war eine merkwürdige Gestalt. Es handelte sich um einen Mann um die Anfang 40. Er trug ein abgewetzten, schwarzen Regenmantel und einen tief ins Gesicht gezogenen Hut. Der Fremde saß zusammengesunken in einer Ecke des Raumes, halb versteckt hinter seiner Zeitung. „Das erste Mal in Lindingen?“, fragte der Mann plötzlich mit knarziger Stimme. Er hatte wohl gespürt, dass Martin, immer noch am Eingang des Speisesaals stehend, ihn musterte. Die Stimme erklang so abrupt und derb, dass sogar Mutter und Kind ihr Zwiegespräch unterbrachen und aufschauten. „Ja, ich bin gestern angekommen. Scheint eine hübsche Stadt zu sein“, entgegnete Martin. Er versuchte die eigenartige Situation zu überspielen. Doch der düstere Mann schwieg nun eine kleine Ewigkeit, so dass es fast wieder peinlich wurde. „Setzen Sie sich doch zu mir. Was immer Sie in Lindingen suchen, ich kann Ihnen weiterhelfen“, sprach der merkwürdige Typ schließlich. Martin nickte mechanisch. Dann setzte er sich in Bewegung und holte sich vom Buffet Kaffee, Brötchen und etwas Brotbelag. Mit seinem Frühstück setzte er sich wie aufgefordert zu dem Mann in der Ecke.
„Schmidt, nennen Sie mich einfach so“, begann der Fremde, als sich der junge Soziologe niedergelassen hatte. „Äh, angenehm, Herr Schmidt. Mein Name ist Martin Gehring. Ich komme aus Randhausen“, entgegnete Martin immer noch leicht verlegen. Aus der Nähe konnte er erkennen, dass sein Gesprächspartner deutlich älter war, als es zunächst schien. Die 50 hatte er definitiv überschritten. Sein mittellanges, schmieriges Haar quoll unter dem Hut hervor und fiel ihm in Locken ins Gesicht. Es verdeckte seine wettergegerbte Haut. Alles an Schmidt wirkte alt und schäbig. Nur seine hellblauen Augen waren lebhaft. Sie schienen Martin zu durchdringen. Unter ihnen fühlte sich der Forscher aus Randhausen unbehaglich. Am liebsten wäre er aufgestanden und gegangen. „Bleib locker. Das scheint ein Einheimischer zu sein. Er kann dir bei deiner Recherche sicher helfen“, ermahnte sich Martin innerlich. Mit seiner Vermutung behielt er Recht. Schmidt stammte aus Lindingen und kannte sich bestens in der Stadt aus. Er war bei der Stadtreinigung, fuhr eines jener kleinen Fahrzeuge, die mit ihren rotierenden Bürsten die Gehwege sauber hielten. Nach kürzester Zeit wusste Martin, warum dieser Job abenteuerlich war und er das städtische Leben überhaupt zusammenhielt. Der Alte erzählte: „Wissen Sie, Sie müssen ständig auf der Hut sein. Menschen geben niemals Acht. Zumindest nicht auf uns Reinigungsfahrer. Die Leute rennen die ganze Zeit von einem Ort zum nächsten. Kopf runter, Hals tief in die Jacke hineingezogen. Da müssen Sie ständig aufpassen, dass Ihnen niemand unter die Bürsten kommt.“ Bei dieser Formulierung gluckste Martin leicht und versuchte diesen Anflug von Lachen schnell mit einem Husten zu überspielen. Komische Vorstellung, unter die Bürsten des Alten zu geraten. Der Rest von Schmidts Vortrag war wenig erheiternd. Denn der kauzige Mann ließ weder die dreckigen Details weg, was alles auf der Straße lag, noch welche merkwürdigen Gestalten sich nachts durch die Gegend trieben. Erstaunlicher war schon seine Idee, dass „seine“ blitzblanken Gassen wesentlich zum gesellschaftlichen Leben beitrugen. Gelassen und selbstsicher erklärte Schmidt: „Wenn es sauber ist, verkriechen sich die dunklen Gestalten und die Menschen bemühen sich darum, selber für Ordnung zu sorgen. Ohne Sauberkeit keine Ordnung im Leben.“ Damit lag der kauzige Alte gar nicht so weit weg von der Wissenschaft. Auch die Soziologen hatten einen Erklärungsansatz in diese Richtung entwickelt.
Die in den USA entstandene Broken-Windows-Theorie beschreibt, wie aus einem intakten Wohngebiet ein Problemviertel wird. Der Prozess beginnt mit einigen harmlos wirkenden Zerstörungserscheinungen – zum Beispiel einem zerbrochenen Fenster. Diese einzelnen verwahrlosten Ecken ziehen, wenn sie nicht sofort beseitigt werden, weitere Verwüstung nach sich. Denn sie signalisieren den Menschen, dass Sittenverfall und abweichendes Verhalten nicht geahndet werden. Stück für Stück wird das Wohnviertel immer verwahrloster. Damit trägt der sichtbare Verfall wesentlich zum Niedergang eines Wohngebietes bei.
„Nun erzählen Sie mal, was zieht Sie denn von Randhausen nach Lindingen? Nicht gerade der nächste Weg“, wollte Schmidt wissen. Martin beschrieb sein Anliegen. Dass er Soziologe wäre und sich mit Massenphänomenen beschäftigte. Etwas umständlich erklärte er seine Theorie der Anomie, wie es sich eben berichten lässt, wenn man statt der gewohnten Berufssprache die des Laien verwenden musste. „Deshalb“, der junge Forscher räusperte sich kurz, „interessiere ich mich für die Geschehnisse im Juli 2013 in Lindingen.“ Darauf reagierte Schmidt scheinbar gar nicht. Er saß zusammengesunken da, blickte nach unten. Es wirkte, als wäre der Alte eingeschlafen. Ahnend, dass das Thema heikel war, ergänzte Martin unbeholfen: „Sind Sie damals zufälligerweise dabei gewesen?“ Schmidt blickt bei diesen Worten auf und heftete seine stechenden Augen auf den jungen Mann. „Irgendwie waren wir damals alle dabei“, entgegnete er. Nach einer ganzen Weile fügte er hinzu: „Sie sollten das Thema vergessen. Fahren Sie wieder zurück in Ihre schöne gemütliche Welt in Randhausen. Vergraben Sie sich hinter Büchern und halten Sie Vorträge in Ihrem wissenschaftlichen Elfenbeinpalast. Sie verstehen nichts von Lindingen. Das Leben hier ist anders als bei Ihnen. Was können Sie schon über die Menschen in Lindingen wissen? Nichts. Und erst recht nicht beurteilen. Sie sollten verschwinden. Mit Ihren merkwürdigen Theorien werden Sie sich hier viele Feinde machen. Also los, gehen Sie, lassen Sie mich in Frieden.“ Barsch gab Schmidt mit einigen Gesten zu verstehen, dass Martin den Tisch verlassen sollte. Völlig verdattert erhob sich der Soziologe und verließ den Frühstücksraum, obwohl er keineswegs fertig mit Essen war. An der Rezeption begegnete ihm die Wirtin. Sie bemerkte sein verstörtes Gesicht: „Sie haben mit Schmidt geredet, nicht wahr? Vergessen Sie ihn. Er ist nicht mehr wirklich beisammen, wenn Sie verstehen. Vielleicht haben Sie davon gehört“, dabei senkte die ältere Dame ihre Stimme und schaute sich um, ob sie jemand hören konnte, „Vor einigen Jahren gab es hier einen Zwischenfall. Eine ordentliche Randale. Schmidt war damals dabei. Davon hat er sich nie erholt. Die Stadt hat ihn rausgeworfen, weil er wunderlich wurde. Seitdem kommt er jeden Tag her und trinkt morgens einen Kaffee. Viel mehr gibt es nicht in seinem Leben. Familie hat er nicht. Also seien Sie nachsichtig mit ihm. Und: Erzählen Sie bloß nichts von dem, was ich Ihnen gesagt habe. Die Leute hier denken nicht gern an das Ereignis.“ Bei den Worten der Wirtin fröstelte Martin – mehr als durch Schmidts seltsamen Vortrag. Irgendwas war in der Stadt geschehen. Es hatte das Leben der Menschen von Grund auf verändert, eine andere Art von Gesellschaft geschaffen. Der Doktorand ersparte sich zu sagen, weshalb er in Lindingen war, und ging auf sein Zimmer.
Wenig später hatte Martin sich wieder gefasst und die düsteren Worte vergessen. Draußen schien die Sonne, von dem angekündigten Schnee fehlte jede Spur und er war voller Tatendrang. Er wollte endlich mit seiner Arbeit beginnen. Der Soziologe schnappte sich den Laptop, Schreibzeug und einige Bücher. So bewaffnet fuhr er zu seiner ersten Station: dem städtischen Archiv. Das Gebäude hatte den typischen Charme altehrwürdiger Häuser. Es handelte sich um ein weißes Gründerzeitgebäude, das an der Außenfassade über und über mit schmucken Ornamenten und Figuren verziert war. Auch im Eingangsbereich sah es nobel aus. Breite, ausladende Treppen, die von mehreren Skulpturen verziert wurden, führten zu den Lesesälen. Ein uralter, riesiger Kronleuchter thronte über der weitläufigen Eingangshalle. Martin verbrachte einige Minuten damit, das Gebäude auf sich wirken zu lassen. Dann ließ er sich von der verschrobenen Archivarin alles zeigen. Die Frau war sicher nicht viel älter als 35 Jahre, doch sie wirkte verbraucht. Missmutig führte sie den Gast erst zu den Garderoben und anschließend an seinen Arbeitsplatz, eine kleine, dunkle Schreibtischecke hinter reihenweisen Regalen. Vom Tageslicht fehlte in den Tiefen des Archivs jede Spur. „Kein Wunder, dass man bei der Arbeit hier mürrisch wird“, dachte Martin und erinnerte sich an die helle, moderne Lesehalle in Randhausen.
Kaum hatte der Doktorand seine Arbeit vor sich, vergaß er das muffige Umfeld und brannte nur noch für seine Forschung. Stundenlang wälzte er alte Aufzeichnungen, hauptsächlich aus den Tageszeitungen von vor vier Jahren. Im Wesentlichen deckten sich die Informationen mit denen, die ihm der Polizist Steffen Weimar gegeben hatte. Besonders faszinierte Martin der Erlebnisbericht, den er in einem kleinen – und wohl eher unbeachteten – Anzeigenblatt fand. Dort schilderte ein Journalist eindrucksvoll, was er gesehen hatte: „Ich schreibe sonst über Wirtschaftsthemen, habe mit Politik oder Kriminalität wenig zu tun. In dieser Nacht war ich auf dem Weg nach Hause, als ich die Menschenmenge in der Meiner Straße beobachtete. Es war eine Gruppe von vielleicht 30 bis 50 Leuten. Ich dachte erst, es handelt sich um zwei Banden, die gegeneinander kämpften, weil sich die Menschen untereinander attackierten. Aber dann fiel mir das Durcheinander auf. Ich konnte nicht erkennen, wer wem etwas Böses wollte. Jeder schien für sich zu handeln. Und dann diese Schreie, halb wimmernd, halb hysterisch. Die meisten waren unverständlich. Ich hörte nur so was wie, ‚halte das nicht aus‘, ‚alles zerstören‘, ‚kein Sinn in dieser Welt‘. Das hat mich zutiefst erschreckt. Was konnte das nur sein, dachte ich bei mir. Was haben diese Menschen? Ich habe mich ein Stück näher ran geschlichen, das Geschehen hinter einem Container beobachtet und alles mechanisch notiert, was mir auffiel. Einmal kam eine Gruppe dieser wütenden Menschen sehr nah an mein Versteck heran. Das Krasseste waren aus meiner Sicht die Augen der Leute. Sie wirkten hohl und unpersönlich. Ich hatte ernsthaft das Gefühl, dass es sich nicht um Menschen handelte. Nicht mal um Tiere. Es fehlte ihnen, wie soll ich sagen, die Seele, ein Bewusstsein. Mit der Zeit wurden die Schreie durch die zuströmenden Personen lauter. Nach etwa einer halben Stunde kam die Polizei und riegelte das Gebiet ab. Sie drängten mich raus aus der Gefahrenzone und ich konnte nichts mehr sehen.“
Noch mehr als diese Schilderungen interessierten Martin die Informationen aus der Zeit vor den Ausschreitungen. Der anomische Zustand musste sich angekündigt haben. Ganz aus dem Nichts konnte er nicht kommen. Und tatsächlich. Nach einer Weile Suchen fiel ihm auf: Ähnliche Ausschreitungen hatte es in Lindingen schon früher gegeben, verstreut über das ganze Stadtgebiet. Meist handelte es sich um Gruppen bis zu 20 Mann, die plötzlich, schnell und hemmungslos aggressiv auf alles einschlugen, was es gab – Menschen, Tiere, Autos, Container, Häuser. Und überall die Augen, wie nicht von dieser Welt: starr, wahnsinnig, unmenschlich. Das Ungewöhnliche an den Aktionen war, dass sich die Beteiligten gar nicht kannten, sondern nur zufällig aufeinanderstießen. Einige wiegelten sich gegenseitig auf, gingen erst aufeinander und dann auf alles andere los. Der Mob war äußerst mitreißend. Außenstehende, die des Weges kamen, beteiligten sich spontan und beinahe ungewollt daran. Dass es gerade in der Meiner Straße zu solch einer riesigen Ansammlung kam, war nahe liegend. Es handelte sich um die zentrale Achse Richtung Süden. Jeder, der vom Zentrum lief, ging diesen Weg. Es war zwar spät am Abend, aber ein Samstag. Viele Leute hatten vermutlich in der Stadt gefeiert und befanden sich auf dem Heimweg. Oder machten sich gerade auf den Weg zum Feiern. Unter diesen Gruppen von Menschen nahmen die Geschehnisse ihren Lauf. „Das muss eine Stufe von Anomie sein. Alles deutet darauf hin“, überlegte Martin. Immer stärker dämmerte die Wahrheit in ihm. Die Aufhebung der Zivilisation nach Elias, sie gab es wirklich. Und sie war verdammt nah.
Nach einer Weile blickte Martin erschöpft von seiner Arbeit auf. Dabei erschrak er. Kaum zwei Meter von ihm entfernt stand die Archivarin. Regungslos verharrte sie neben einem Regal und starrte den jungen Forscher an. Auch als sie seine Blicke bemerkte, rührte sie sich nicht. Erst eine Weile später drehte sie sich um und ging, ohne etwas zu sagen. Etwas ratlos sah Martin ihr nach. „Eine gruslige Begegnung jagt die nächste“, dachte er. Mit seiner Arbeit war er fertig. Alles, was er an Daten finden konnte, hatte er gesichtet. Er machte Kopien von dem Gelesenen. Dann packte er seine Sachen und ging. Als er die Vorhalle passierte, hastete er so schnell wie möglich an der seltsamen Archivarin vorbei. Doch diese beachtete ihn gar nicht. Zumindest scheinbar.
Am nächsten Tag hatte Martin einen Termin an der Universität in Lindingen. Er traf sich mit einem Soziologie-Professor, der sich wissenschaftlich mit den Vorfällen im Juli 2013 beschäftigt hatte. Nach seinem ersten Tag in Lindingen besaß Martin im Vorfeld kein besonders gutes Gefühl. Er fragte sich, auf welch groteske Erscheinung von Mensch er diesmal stoßen würde. Aber Professor Ulf Schmollenbrück widerlegte seine Befürchtungen. Das Urgestein von einem Forscher war fast 70 und ein Hüne, mindestens 1,95 Meter groß mit einem mächtigen Bauchumfang. Diesen Mann schien so schnell nichts zu erschüttern. Und in der Tat hatte er ein unerschrockenes, sachlich nüchternes Gemüt. „In Chicago haben Sie schon geforscht, so so“, meinte der Riese mit brummender Stimme. Hinter seinem Eichenschreibtisch thronte er auf einem großen Chefsessel, der seine stattliche Figur geradeso abfedern konnte. Bei Professor Schmollenbrück handelte es sich um einen Afrika-Fan. Sein Büro war über und über mit Holzfiguren, Zeremonie-Gegenständen und Bildern des heißen Kontinents bedeckt. Besonders stach die Holzgiraffe mit dem langen, dünnen Hals hervor. Sie reichte bis fast an die Decke. „Ja, man kommt so herum“, bemerkte der Professor, als er Martins Blicke sah. „Damals, im Juli 2013 war ich auch unterwegs, auf Exkursion in Afrika. Ich interessiere mich für die einfachen Formen von Zivilisation. Ein bisschen wie Sie, nur eben auf einer anderen Stufe.“
Norbert Elias haben die Vorstufen der modernen abendländischen Kultur ebenfalls interessiert. Er untersuchte die geschichtliche Entwicklung in Europa und die Veränderungen der sozialen Strukturen anhand von historischen Quellen. Zentral für die Entwicklung zu den heutigen, komplexen Strukturen ist für ihn die Verhöflichung der Krieger. Der höfischen Gesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert kommt für Elias eine Schlüsselrolle zu, weil sie die Eigenheiten des Zivilisationsprozesses offenbart. Im Mittelalter konnten sich die Ritter ohne Konkurrenzdruck frei ausleben. Starre Standesgrenzen garantierten den Status. Eine Unterdrückung von unmittelbaren Gefühlen brauchte man nicht. Gewalt war damals allgegenwärtig. Es gab keine engen Verflechtungen wie heute, Triebe und Affekte wurden ungehemmt und direkt geäußert. Das änderte sich im Laufe der Jahrhunderte. So stieg mit der Zeit der auf den Kriegern lastende finanzielle Druck. Dadurch verloren sie ihre wirtschaftliche und militärische Unabhängigkeit. Dem Adel war Arbeiten als Quelle zum Geldverdienen aber untersagt. Steigende Lebenshaltungskosten führten zu einer Verarmung des Adels. Zumindest ein Teil der Ritter beziehungsweise des Adels waren gezwungen, am Hof des Königs zu leben. Durch dessen Gunst konnten sie weiter in gehobenen Kreisen verkehren. Körperliche Gewalt gab es dort nicht. Doch ganz andere Zwänge ruhten fortan auf den verhöflichten Kriegern. Die Konkurrenz war groß. Intrigen und Kämpfe mit Worten dienten dazu, den eigenen Status zu erhalten. In dem Zuge veränderte sich das Verhalten der Menschen. Sie begannen damit, wie Elias sagt, sich gegenüber sich selbst zu differenzieren. Gefühle wurden verborgen, Triebe nicht mehr offen gezeigt, sondern in harmloser Form geäußert. Einzig gegenüber von Untergebenen konnten Emotionen gefahrlos ausgelebt werden. Zugleich entwickelte sich die Menschenbeobachtung zu einer wichtigen Kunst. Vielseitige Betrachtungen, das Erkennen von Verflechtungen untereinander und die Langsicht auf Mensch und Natur gewannen an Bedeutung. Die Anpassungen des menschlichen Seelenhaushalts beruhten dabei auf der Angst vor Prestigeverlust – nach Elias einer der stärksten Mechanismen, um Fremd- in Selbstzwänge zu verwandeln. Erstmalig zeigten sich diese neuen Gesellschafts- und Verhaltensstrukturen am absolutistischen Hof in Paris in ihrer vollendeten Form.
„Wenn Sie also Informationen über die genauen Vorgänge suchen, sind Sie bei mir falsch“, fuhr Schmollenbrück fort, „Die reinen Fakten haben mir meine Studenten zusammengetragen. Ich habe mich erst im Nachgang mit dem Thema beschäftigt, aber dann mit ganzer Energie. Wozu ist man denn Soziologe? Nur abgeschottet von der Welt zu forschen wie viele Kollegen, nur Theorien aufzustellen statt Lösungsvorschläge zu unterbreiten, das ist nichts für mich.“ Diese Worte machten den Kollegen für Martin unglaublich sympathisch und er war froh, in dieser seltsamen Stadt eine gleichgesinnte Person getroffen zu haben. „Zugegebenermaßen sind meine Erkenntnisse über diese Randale äußerst bescheiden.“ Nachdenklich kratzte sich der Professor an seinem grauen Dreitagebart, „Im Wesentlichen handelt es sich um Beschreibungen der Geschehnisse. Erklären kann ich sie nicht. Ich habe versucht, das Verhalten mit der gängigen Kosten-Nutzen-Theorie zu begründen, bin damit aber nicht weit gekommen. Wissen Sie, es war beziehungsweise ist eine merkwürdige Zeit in Lindingen. Es ist Ihnen vielleicht aufgefallen: Die Menschen leiden immer noch unter dem Ereignis.“ Martin bestätigte das mit einem Nicken. Schmollenbrück redete gedankenverloren weiter: „Niemand hier versteht, was passiert ist. Es war ein unvergleichbarer Schock. Von heute auf morgen hörte das normale Leben der Menschen auf zu existieren. Sie müssen sich vorstellen: Gestern war die Welt noch heil, wenigstens einigermaßen sicher. Die Aussichten waren für viele nicht berauschend, aber die Leute wussten, was auf sie zukommt. Als Soziologe ist es Ihnen bekannt: Menschen brauchen ein Gefühl von Sicherheit und vertraute, stabile Grundpfeiler, um zu leben, und sind diese auch noch so unecht. Doch wenn plötzlich das Fundament unserer Gesellschaft dermaßen stark erschüttert wird, dass von heute auf morgen ohne große Vorwarnungen nichts mehr so ist, wie es war, damit können Menschen schlecht umgehen und auf Dauer nicht leben. In meiner Forschung konzentriere ich mich auf die Folgen der Randale. Zumindest seit dem ‚Besuch‘, wie ich es nenne.“ Professor Schmollenbrück grinste und erklärte in seiner unerschütterlichen Art: „Ich hatte meine Theorie über die Randale in der Stadt ohnehin nicht weiter publik gemacht, sondern nur überregional in der Fachwelt. Trotzdem standen eines Tages drei Herren in schwarzen Anzügen vor meiner Tür. Sie sagten, sie seien von der städtischen Polizei, aber das kam mir seltsam vor. Jedenfalls erklärten sie mir in einem vertraulichen Gespräch, dass die Lage in der Stadt stabilisiert werden müsste. Und dass, es könnte zwar merkwürdig klingen, alles getan werden müsste, um Ruhe zu bewahren. Die Menschen bräuchten jetzt einen festen Rahmen. Meine Forschungen sollten besser, rieten sie mir, im Verborgenen bleiben. Einfach der Menschen wegen. Sie waren so übertrieben freundlich, wollten mich wie ein kleines Kind einlullen. Aber es war klar: Würde ich nicht aufhören, ständen das nächste Mal weniger nette Leute vor der Tür. Ich dachte mir, dann ist es eben so. Das Thema stellt ohnehin nicht mein Schwerpunkt dar und ich kam nicht voran mit dieser Studie. Ich habe mich in der Folge auf andere Bereiche konzentriert. Nur noch ab und zu beschäftige ich mich mit dem Vorfall, privat sozusagen. Aber glauben Sie mir, ich werde mich hüten, irgendetwas publik zu machen. Wenn der Zeitpunkt heran ist, dann habe ich einiges parat. Doch mehr nicht dazu an dieser Stelle. Sie können sich denken, was ich Ihnen sage, ist vertraulich. Ich will Ihnen aber meinen Fall schildern, um Sie zu Vorsicht zu mahnen. Ich finde Ihre Forschungen gut, aber seien Sie behutsam, solange Sie hier sind.“ Die väterliche Besorgnis rührte Martin. Zugleich gingen ihm tausend Gedanken durch den Kopf. Nach diesen eindringlichen Worten plauderten die beiden Fachkollegen über weniger Brisantes. Schmollenbrück bot dem Nachwuchsforscher an, er könnte während seines Aufenthalts in der Unibibliothek forschen und die offiziellen Dokumente des Professors studieren. Martin nutzte diese Möglichkeit gern.
In den nächsten beiden Tagen vergrub sich der junge Wissenschaftler hinter Büchern und tauchte ganz in seine bekannte und geliebte Fachwelt ein. Das wieder düstere Novemberwetter nahm er nicht wahr, ebenso wie das bedrückte Leben in Lindingen. Auch den seltsamen Reinigungsfahrer Schmidt bekam er kaum mit. Er sah ihn jedes Mal zum Frühstück, doch der abgehalfterte Alte ignorierte ihn beständig.
Noch Monate später ärgerte sich Martin über seinen nächsten Schritt. In den letzten Tagen hatte er gemerkt, wie heikel seine Forschungen für die Menschen in Lindingen waren. Doch er wollte sich davon nicht beirren lassen. Er war Wissenschaftler. Und um seine Studien zu einem guten Resultat zu führen, brauchte er eine offizielle Quelle. Irgendjemand, der ihm seine Theorie bestätigte. Martin konnte ja schlecht die illegal erworbenen Unterlagen des Polizisten Steffen Weimar in seiner Doktorarbeit verwenden. Deshalb vereinbarte er einen Termin mit dem Polizeipräsidenten von Lindingen, den ihn Professor Schmollenbrück vermittelt hatte. Vorsichtigerweise hatte Martin sein Anliegen allgemein gehalten und als „Sozialstudie über Lindingen“ angegeben. Er wollte vermeiden, von Anfang an auf Widerstand zu stoßen. Und so empfing ihn der Polizeipräsident Frank Meyer freundlich, wenn auch verhalten. Der ranghohe Beamte hieß den Gast in seinem großen, spartanisch eingerichteten Büro willkommen. An den weißen Wänden hingen Urkunden und Bilder von Einsatzgruppen. Der Schreibtisch war ordentlich aufgeräumt. Es lagen lediglich zwei, drei Papierbögen darauf. Neben den grauen, verschlossenen Schränken und der kleinen Sitzgruppe aus vier Sesseln und einem kleinen Tisch gab es in dem Büro nichts. Frank Meyer trug eine gepflegte, aber keineswegs teure Uniform. Sein grauer Bart war ordentlich zurechtgestutzt und ging fließend in das kurze, helle Haar über. Kaum hatte Martin Platz genommen, kam sein Gesprächspartner sofort zur Sache: „Sie forschen also über Lindingen. Dabei scheinen Sie sich besonders für den Juli 2013 zu interessieren. Überhaupt haben Sie sich auf Krisen spezialisiert.“ Martin war überrascht. Woher wusste dieser Mann so genau Bescheid? Der Doktorand hatte diese Informationen vorher keineswegs erwähnt. Die Antwort lag nahe: Man hatte ihn überprüft. Doch wieso versetzten seine Forschungen die Obrigkeit der Stadt in Aufregung? „Nur zur Ihrer Information“, fuhr Frank Meyer fort und unterbrach die Gedanken des Wissenschaftlers, „Sie befinden sich mit Ihren Forschungen auf dem Holzweg. Der Massenaufstand war organisiert. Es gab Anführer, definitiv von der Mafia unterstützt, die den Aufruhr inszeniert haben. Um Lindingen zu ruinieren. Alle wurden überführt und inhaftiert.“ „Und wo sind diese Aufwiegler jetzt“, dachte Martin trotzig, blieb aber stumm. Der Polizeipräsident erzählte ihm gut eine halbe Stunde endlos viele Details über die angebliche Verschwörung. Ohne groß Fragen zu stellen oder etwas zu sagen, schrieb der Soziologe mit. Als Meyer geendet hatte, verabschiedete er den jungen Mann und beförderte ihn höflich zur Tür hinaus.
Martin trat wenig später auf die Straße und verharrte dort kurz. Es nieselte und die Dämmerung setzte bereits ein, obwohl es Nachmittag war. Dieses Gespräch hatte er sich anders vorgestellt. Statt voranzukommen, war er mit seinen Studien in eine Sackgasse geraten. Und nicht nur das, schoss es dem 32-Jährigen durch den Kopf. Er wurde beobachtet. Die Menschen hier fanden seine Forschungen überhaupt nicht gut. Bisher waren seine Arbeiten immer reine Theorien oder harmlose Studien gewesen, die niemandem wehtaten. Der Fall in Lindingen war Ernst und er war politisch äußerst brisant. Vielleicht sollte er wirklich vorsichtiger sein und die Warnungen, die er mehr als oft genug gehört hatte, berücksichtigen. Unruhig lief der Forscher eine Weile durch die Gegend und hing seinen Gedanken nach. Irgendwann wurde es ihm kalt. Er setzte sich in ein kleines Café, das etwas abseits der großen Straßen lag. Martin bestellte einen Kaffee und holte sein Laptop heraus. Nachdenklich brütete er eine ganze Weile über seinen Aufzeichnungen und vergaß die Zeit. Als er auf die Uhr sah, stellte er erschrocken fest, dass es schon nach sieben war. Das Café hatte sich geleert. Außer ihm war nur die junge Kellnerin im Raum, die die Theke sauber machte. Martin stand auf und bezahlte. Beim Hinausgehen schlug ihm die nasskalte Novemberluft entgegen. Dummerweise hatte er das Auto an der Pension stehen lassen und war zu Fuß zu dem Termin mit Meyer gegangen. Durch sein unkoordiniertes Hin- und Herlaufen hatte er sich noch weiter von seiner Unterkunft entfernt. Deshalb musste er jetzt ein ganzes Stück gehen. Eilig machte sich Martin auf den Weg. Die Sicht war schlecht und er musste sich konzentrieren, die richtige Richtung einzuschlagen. Wie immer waren kaum Leute unterwegs. Die Einsamkeit verstärkte die düstere, ungemütliche Atmosphäre. Kurz überlegte Martin, sich ein Taxi zu nehmen, doch dann entschied er sich dagegen. „Die Pension muss gleich um die Ecke sein“, motivierte er sich und lief weiter.
Irgendwann kam ihm etwas komisch vor. Er glaubte, nicht allein zu sein. Hatte es nicht eben geknackt? Wo kam plötzlich dieser Schatten her? „Dummkopf!“ schalte sich Martin. Er würde sich von dieser seltsamen Stadt nicht die Stimmung verderben lassen. Stur blickte er gerade aus und ging weiter. Das Nieseln war mittlerweile in einen regelmäßigen, trommelnden Regen übergegangen. Die Sicht reichte kaum ein, zwei Meter weit. „Was für ein grausames Wetter“, dachte Martin mürrisch. Da krachte ein harter Gegenstand auf seinen Rücken. Durch die Wucht ging Martin zu Boden. Ein zweiter Schlag erwischte ihn seitlich am Kopf. Martin war benommen. Er fühlte keinen Schmerz, doch er spürte, wie das Blut aus einer Wunde am Kopf schoss. Er merkte, wie jemand in seinem Rucksack wühlte. Es knackte ein paar Mal. Dann entfernten sich eilige Schritte. Martin blieb eine Weile reglos auf dem nassen, harten Asphalt liegen. Alles in seinem Kopf drehte sich, er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ihm war speiübel. Vor seinen Augen lag ein milchiger Schleier. Mühsam rappelte er sich schließlich auf. Die Verletzung an seinem Kopf blutete immer noch und hinterließ dicke rote Bahnen auf dem Hals und der Kleidung. Martin tastete nach seinen Sachen und raffte sie zusammen. Zu fehlen schien erstmal nichts. Aber sein Laptop war völlig zerstört. „Die Daten!“ gellte es dem Doktoranden durch den Kopf. Seine Forschung! Die Angst um seine Studie trieb ihn auf die Beine. So schnell es ging, humpelte er voran. Glücklicherweise befand sich die Pension gleich um die Ecke. Martin stolperte hinein. „Oh mein Gott, was ist mit Ihnen passiert?“ Wie unter einer Nebelglocke hörte er die erschrockene Stimme der Wirtin. Doch Martin achtete nicht darauf. Er stieg die Treppe zu seinem Zimmer hinauf. Zitternd schloss er auf und schlurfte zu seiner Tasche. Nach kurzem Suchen stellte er erleichtert fest: Die Unterlagen und die Sicherheitskopie waren noch da. Er hatte lediglich die Daten von einem Tag verloren. Dann kippte er nach vorn und verlor die Besinnung.
Als der Forscher wieder zu Bewusstsein kam, lag er auf dem Bett. Ein Rettungsassistent beugte sich über ihn und versorgte seine Wunde. In der Tür standen die kreidebleiche Wirtin und ein Polizist. „Herr Gehring? Können Sie mich hören? Bleiben Sie ruhig. Wir bringen Sie in ein Krankenhaus“, sagte der Sanitäter. Unwillig schüttelte Martin den Kopf. „Kein Krankenhaus“, murmelte er immer noch benommen. Auf keinen Fall wollte er weg von seinen Unterlagen. Standhaft versuchte er sich zu wehren. „Meine Daten“, seufzte er. Dann wurde er wieder ohnmächtig.
Sie behielten ihn bis zum Mittag am nächsten Tag im Krankenhaus. Dann durfte Martin gehen. Er hatte von dem abendlichen Erlebnis eine Gehirnerschütterung, eine Prellung und eine Platzwunde davongetragen. Davon abgesehen war er unverletzt. Eilig ließ sich Martin mit dem Taxi zu der kleinen Pension fahren. Die besorgte Wirtin erwartete ihn schon: „Gott sei Dank, es geht Ihnen gut. Was sind das nur für Leute, die sich in den Gassen rumtreiben? Es ist eine schlimme Zeit. Überall Gewalt und Verbrechen. Hauptsache, Ihnen ist nichts Ernstes zugestoßen.“ Voller Ungeduld lauschte er dem Wortschwall der kleinen, rundlichen Frau. Er wollte so schnell wie möglich in sein Zimmer. Aber dann fiel der Pensionsbesitzerin noch etwas ein: „Ach übrigens. Seien Sie nicht böse. Ihre Forschungssachen habe ich in unseren Safe getan. Das schien Ihnen gestern so wichtig zu sein und deshalb bin ich auf Nummer sicher gegangen.“ Martin strahlte die ältere Dame an wie die Erlöserin in Person. „Danke, vielen Dank“, stammelte er. Doch die Angesprochene winkte ab: „Ja ja, schon okay. Ist doch eine Kleinigkeit. Jetzt legen Sie sich aber erstmal hin. Sie müssen ja völlig erschöpft sein. Und in diesen Krankenhäusern kann man sich nicht erholen. Also ab ins Bett!“ Dieser Aufforderung kam der Doktorand nur zu gern nach. Er merkte, wie müde er nach dem Erlebnis war.
Erst am nächsten Morgen verließ Martin sein Zimmer. Er hatte einen Termin bei der Polizei, um Anzeige zu erstatten. Die Beamten waren sehr bemüht. Gewissenhaft nahmen sie Martins Fall auf. Ob er etwas sehen konnte, ob er jemanden in Verdacht hätte. Nein, Martin konnte nichts erkennen, der Täter hatte ihn von hinten attackiert. Offenbar war nicht nur der Laptop kaputt, auch sein Geld fehlte. Ansonsten nichts. „Vermutlich handelte es sich um einen Gauner, der es auf Ihr Geld abgesehen hatte. Sie waren wahrscheinlich nur zufällig das Opfer“, erklärte ein freundlicher, junger Polizist. Martin sagte nichts. Für ihn sprach der zerstörte Laptop Bände. Der Diebstahl war vermutlich nur ein Ablenkungsmanöver. Doch wie hilfreich offizielle Stellen bisher für ihn gewesen waren, hatte er bereits zu deutlich erfahren. Und so behielt er seine Theorie für sich. Am Ende des Gesprächs auf dem Revier kam Polizeipräsident Meyer vorbei und erkundigte sich nach dem Wohlergehen des jungen Mannes. Er wirkte ernsthaft besorgt. „Was für ein unglückliches Ereignis und das auch noch nach unserem Gespräch“, erklärte er verlegen. Meyer entschuldigte sich mehrfach und versprach, sich persönlich für die Aufklärung des Vorfalls einzusetzen. Seine Worte klangen ehrlich. Trotzdem glaubte Martin ihm nicht. Frostig lächelnd bedankte er sich und ging. Langsam hatte er genug von Lindingen.
Aber an diesem Punkt bewies Martin, dass er sich in seinen Nachforschungen nicht beirren ließ. Hartnäckig arbeitete er weiter. Als letzten Schritt seiner Vorort-Recherche hatte er sich vorgenommen, persönlich mit Menschen zu sprechen, die in den Vorfall vor vier Jahren involviert gewesen waren. Zwar kannte der Soziologe bereits einige Namen aus den Daten des Polizisten Weimar. Doch es war ihm zu heikel, auf diese Informationen zurückzugreifen. Nicht nur wegen seiner seltsamen Erlebnisse in Lindingen. Wollte er seine Erkenntnisse veröffentlichen, musste er korrekt vorgehen. Martin entschied sich deshalb für das Klingeln. Bei den Menschen, die an der Meiner Straße lebten, standen die Chancen gut, dass irgendwer an der Randale beteiligt war. Und so machte er sich an seinen letzten beiden Tagen in Lindingen an diesen unliebsamen Dienst. Die Reaktionen der Anwohner waren erwartungsgemäß niederschmetternd. Wie sich zeigte, zog der überwiegende Teil der damaligen Mieter nach der Randale weg. Heute lebten dort vor allem einkommensschwache Menschen, meist kinderreiche Familien ohne Arbeit. Das Viertel verfiel zunehmend und drohte, sozial völlig abzustürzen. Das wiederum beunruhigte Martin. „Kaum zu glauben, was ein verhältnismäßig kleiner Aufstand bewirken kann. Wenn es flächendeckend zu solchen Ausschreitungen kommen würde…“, überlegte der Soziologe mit einem mulmigen Gefühl. Nachdenklich setzte er seine Klingel-Tätigkeit fort. Zu 90 Prozent kam er nicht viel weiter als bis zu dieser Handlung. Die meisten reagierten gar nicht, jagten ihn mit wüsten Beschimpfungen sonst wohin oder knallten ihm die Tür vor dem Kopf zu. „Abenteuer Forschung“, dachte Martin trocken und machte weiter. Zwei-, dreimal hatte er das Gefühl, jemanden vor sich zu haben, den er suchte. Die Angesprochenen wirkten nervös und ängstlich. Doch keiner von ihnen gab zu, damals auf der Straße gewesen zu sein. Nachdem Martin einen halben Tag erfolglos durch die Gegend geirrt war, wollte er zurück in die Pension kehren. Die Novemberdämmerung setzte ein und die Lust nach Ausflügen in der Dunkelheit war ihm vergangen. Er nahm sich deshalb einen letzten Hauseingang vor. Als er an die Tür trat, kam gerade jemand hinaus und der Soziologe konnte in das Gebäude schlüpfen. Die meisten Menschen waren freundlicher, wenn er ihnen von Angesicht zu Angesicht gegenübertrat und das Gespräch nicht über die Wechselsprechanlage stattfand. Viel brachte ihm das nicht. Er arbeitete sich von unten nach oben vor, sagte immer wieder sein Sprüchlein: Er wäre Forscher; er wollte wissen, wie lange die Menschen bereits dort lebten; inwiefern sie die Ereignisse des Julis 2013 mitbekommen hatten. Immer gab es die gleiche abweisende Reaktion. Schon stand Martin im obersten Geschoss, ohne Erfolg gehabt zu haben. Mechanisch klingelte er. Es öffnete eine zierliche, junge Frau, maximal 30 Jahre alt. Sie hatte hellbraunes, lockiges Haar und einen südländlichen Touch. Getrost konnte man sie als Naturschönheit bezeichnen, was durch ihre zerbrechliche Erscheinung noch verstärkt wurde. Zögernd brachte Martin sein Anliegen vor. Er rechnete damit, dass sie ihn wie alle abwimmelte. Doch die junge Frau schwieg. Dann öffnete sie ihre Wohnungstür und deutete dem Wissenschaftler an, hereinzukommen. Überrascht und ein wenig unsicher, folgte Martin der Aufforderung. Die Wohnung war winzig. Es gab nur ein Schlaf- und Wohnzimmer. In dieses führte die Fremde den Forscher. Der Raum wies eine ärmliche, aber ordentliche Ausstattung auf. Beide nahmen an dem kleinen, runden Glastisch Platz. Immer noch schweigend zündete sich die zerbrechliche Schöne eine Zigarette an. Ihre Hände zitterten. „Meinen Namen lassen Sie aber weg“, sagte sie halb fragend, halb fordernd. „Selbstverständlich“, versicherte Martin. Er zückte seinen Notizblock, wagte aber nicht, sofort loszulegen. Die junge Frau zog an ihrer Zigarette und pustete bedächtig Rauchschwaden in die Luft. Die Arme hatte sie angewinkelt und auf den Tisch gestellt. Dabei rutschten die Ärmel ihres Rollkragenpullovers nach unten und Martin konnte sie sehen: lauter entstellende Narben, die scheinbar von Brandwunden stammten. „Wissen Sie, ich habe zwei Kinder“, begann die Fremde. Ihre Stimme klang leer. „Marie und Gordon, zwölf und acht. Wir lebten damals schon in der Meiner Straße. Unsere Wohnung war nicht viel größer als die hier. Mein Mann war seit einer Weile arbeitslos. Zuvor war er auf dem Bau. Gelernt hatte er nichts Richtiges, ich auch nicht. Ich war ja immer mit den Kindern zu Hause. Und dann kam Marie nicht heim. Wissen Sie, das ist das Schlimmste für eine Mutter, wenn ihr Kind nicht kommt. Ich war verzweifelt. Ich habe alle Verwandten angerufen, die Polizei eingeschaltet und wusste nicht mehr weiter. Dann meldete sich eine Mutter aus Maries Schulklasse. Meine Kleine war bei ihr. Sie wollte dort bleiben, weil es etwas Warmes zum Abendessen gab.“ Hektisch zündete sich die Braunhaarige noch eine Zigarette an. „Sie wissen gar nicht, wie mir das in der Seele weh getan hat. An dem Punkt wusste ich nicht mehr weiter. Das Geld reichte von vorn bis hinten nicht. Von meinem Mann brauchte ich keine Hilfe erwarten. Der interessierte sich schon lange nicht mehr für die Familie. Er war oft den ganzen Tag weg. Abends stank er nach Bier. Keine Ahnung, wie ich damals in die Randale reingeraten bin. Ich wollte meinen Mann suchen. Es war mitten in der Nacht und er war immer noch nicht da. Ich hatte Angst, dass er sich in eine Schlägerei verwickeln ließ. Wenn er getrunken hatte, war er immer aggressiv. Ich habe diese ganzen verzweifelten Menschen gesehen. Sie wussten alle nicht mehr weiter. Ich dachte, denen geht es genauso wie mir. Sie haben Recht. Und irgendwie ist bei mir ein Schalter rumgekippt. Es brach alles aus mir raus. Der monatelange Ärger, die Sorgen um die Familie, die Wut auf meinen Mann, die Sache mit Marie. Ich habe einfach Rot gesehen. Alles war wie vernebelt. Ich wusste nicht mehr, was ich tat. An das Meiste kann ich mich nicht erinnern. Alles ist undeutlich. Ich sehe von der Nacht nur noch Schatten. Am nächsten Morgen wachte ich auf. Ich lag auf der Wiese neben dem Fußweg. Mein Körper brannte höllisch, ich konnte mich kaum bewegen. Ich glaube, ich lag einige Stunden hilflos da. Dann kamen Sanitäter und brachten mich ins Krankenhaus. Ich hatte Brandwunden am ganzen Körper und ein paar Prellungen. Aber ich hätte Glück gehabt, sagten mir die Ärzte. Die nächsten Wochen waren ein Albtraum. Ich musste oft zur Polizei und wurde stundenlang verhört. Das Jugendamt nahm mir die Kinder weg. Mein Mann war tot. Auf dem Heimweg geriet er in den Krawall und starb.“ Die zierliche Frau verstummte. Martin hatte automatisch mitgeschrieben. Sagen konnte er nichts. Zu sehr hatte ihn das Gehörte erschüttert. Auf solche Erlebnisse hatte man ihn als Forscher nicht vorbereitet. Meist arbeitete er mit Zahlen. Von den menschlichen Schicksalen dahinter bekam er nichts mit. „Sie müssen kein Mitleid haben. Es ist eben geschehen“, erklärte seine Gesprächspartnerin und versuchte zu lächeln, „Mittlerweile komme ich zurecht. Ich habe diese kleine Wohnung und eine halbe Stelle in einem Supermarkt. Am Wochenende darf ich meine Kinder sehen. Sie leben in einer guten Pflegefamilie ein bisschen außerhalb der Stadt.“ Martin bewunderte, wie tapfer die junge Frau war. Während der ganzen Erzählung hatte sie nicht geweint, ihre Worte klangen klar und mit einem Hauch von Zuversicht. Langsam löste sich die Anspannung des Soziologen. Er erzählte von seiner Forschung und die Braunhaarige hörte zu. Endlich erhob sich Martin, ließ seine Kontaktdaten da und verabschiedete sich von der Fremden. Zum Abschied steckte sie ihm einen Zettel zu und sagte: „Sie müssen mir unbedingt erzählen, was bei Ihrer Studie rauskommt. Ich bin neugierig auf die Ergebnisse.“ Draußen vor der Haustür angelangt, faltete der Forscher den Zettel auseinander. Darauf standen „Isabella“ und eine Telefonnummer.
Den darauffolgenden Morgen hatte es Martin sehr eilig. Nach dem Gespräch mit Isabella wusste er genug. Deshalb ersparte er es sich, einen weiteren Tag von Tür zu Tür zu ziehen. Er packte seine Sachen und bezahlte seine Unterkunft bei der kleinen, sympathischen Wirtin. Diese ließ wieder ihren Sohn Karl kommen, der die Tasche des Forschers ins Auto hievte. „Schade, dass Ihr Aufenthalt so manche Unannehmlichkeit mit sich brachte“, bedauerte die Pensionsfrau. „Vielleicht kommen Sie trotzdem mal wieder vorbei. Sie sind immer willkommen.“ Standhaft ertrug Martin einen weiteren Schwall herzlicher Worte. Dann verabschiedete er sich, setzte sich in sein Auto und fuhr los. Als er endlich das Ortsausgangsschild von Lindingen hinter sich gelassen hatte, fiel eine Last von ihm. Er war heraus aus dieser düsteren Stadt.