Читать книгу Auf der Suche nach dem Ich - Eva Link-Nagel - Страница 25
Оглавление29.03 1977
Es ist komisch: Zum ersten Mal befällt mich ein einigermaßen „brauchbarer“ Aktivitätsdrang, das heißt, ich stehe um elf Uhr nachts auf, bin hellwach und zum ersten Mal, seit sehr langem habe ich das Gefühl, dass es im meinem Kopf intensiv gearbeitet hat.
Das Ergebnis meiner Denkarbeit war, dass ich festgestellt habe, dass ich mich von meinem früheren Ich distanziert habe, dass ich mit vielem, was ich damals tat und wovon ich damals überzeugt war, nicht mehr identifizieren könnte, insgesamt ist es ein Gefühl des farblos geworden seins. Ich habe festgestellt, dass das eine Angst vor der Anonymität ist.
Ich erinnere mich an die Warnung, den Faden nicht zu verlieren, etwas, was ich allerdings laufend tue. Ich habe keinen „Faden“ und es ist meine Aufgabe mir einen zu spinnen und mich an ihm zu halten. Ich darf mich nicht auflösen. Ich möchte ein kompaktes Etwas, oder besser gesagt Jemand sein, der seine Einstellung und Flexibilität hat und zu Aktion befähigt ist. Ich muss meiner Freiheit gewahr werden und sie genießen lernen. Vielleicht wird es in Ulm leichter sein. Wovor ich mich fürchte, ist meine Zeit nutzlos zu verbringen.
Dieses Haus bietet keine Rückzugsmöglichkeit, oder ich habe von einer solchen noch kein Gebrauch gemacht, keine Exkursionen, alles plangemäß und unter Kontrolle. Immerhin habe ich meine Eltern etwas mehr kennengelernt, ich habe ihre Grenzen erkannt. Möglicherweise bin ich etwas realistischer geworden.
In meiner Jugendzeit war intellektueller Anspruch nicht verpönt, und so konnte ich mich mit dessen Hilfe meiner zwischenmenschlichen Problematik annehmen. Ich hatte literarisches Talent, ein Vermögen Stimmungen einzufangen, in Worte und Melodien zu kleiden.
Mein Streben galt der Eindeutigkeit. Zwar schöpfte ich meine Ideen aus der Umwelt, aber mich in die Lage eines anderen zu versetzen blieb mir versagt. Ob das, was ich sagte, je in die Seele eines Anderen drang, und zwar so wie ich es meinte, nicht als Schmerz, vermag ich nicht zu beantworten.
Die Suche nach Liebe ist ein Prozess, der ein Leben lang dauert. Idealerweise begegnet einem Gutes wie ein Licht am Ende des Tunnels, eines Tunnels der Einsamkeit und Alleinseins (Hermann Hesse).
In meinem Leben gab es nur eine Periode, wo ich in den besagten Tunnel mit einer Halogentaschenlampe unterwegs war. Ich fühlte mich wiedererstarkt nach einer Periode der Depression. Ich hatte den Zweifel an meinen geistigen Fähigkeiten überwunden und wollte des Lebens Fülle anteilig werden.
Vor mir selbst empfand ich keine Scham, eher Stolz auf meine strotzende Kraft, meine Verse und Liebeslieder repetierte ich allabendlich in meiner Studentenbude, mir zum Trost und zur Bestärkung. Die Worte berauschten mich, waren sie doch eindringlich genug, aber ihr Adressat war nur der Intellekt. Sie rüsteten mich für den alltäglichen Kampf in einer Realität, für deren größten Teil ich blind war.
Selbstvertrauen ist eine Schaukel, aus der man auch herausfallen kann, wenn man übermütig wird. Nichts übereilen, ruhig Zeit lassen, zum Genießen, Spannungen auskosten, auch Abschalten können, Mut zeigen. Ja. Ja zum Leben, zum Mensch sein, ja zu den Problemen, Schwächen, Stärken, Freuden, Launen. Ja zu den Zweifeln, aber zweimal ja zur Hoffnung.
Und ich hatte Freunde, Freunde die meine Spontaneität und grundtiefe Ehrlichkeit (oder war es Dummheit) zu akzeptieren wussten, die Anteil nehmen konnten an einer Lebensfreude, die eine kräftige rosa Brille war.Meine Eltern liebten mich wie eh und je, und ich wusste noch nicht, was es heißt Sorgen zu haben.
1.6.1977
Zeitungsnotiz, die ich heute gelesen habe, sinngemäß ging es darum, dass man mit bzw. gegen sich kämpfen soll. Es hat mich angesprochen, es hat mir eingeleuchtet, dass ich nicht länger ein „Waschlappendasein“ fristen darf, dass ich an mir selbst aktiv arbeiten sollte. Nicht auf irgendwelche Wunder warten darf, die mir Energie einflössen werden, sondern selber Schritt für Schritt weiterkommen muss, und zwar aus meinem Antrieb. Ich will mein Ich selber gestalten, es soll von meinem Es unabhängiger werden. Die Erlangung eines zusätzlichen Freiheitsgrades, nicht Pflicht, nicht Gewohnheit sollen mein oberstes Gebot sein, sondern meine freie Entscheidung.