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Kapitel 1

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Sina Paulsen fand Freitage blöd. Freitags hatte sie morgens eine Doppelstunde Mathe und nachmittags Sport und kam erst gegen Viertel vor fünf nach Hause. Davon abgesehen war Sportunterricht in ihren Augen die reinste Zumutung. Man musste sich unheimlich anstrengen für nichts und wieder nichts, wie zum Beispiel heute beim Fußballspielen. Von dem hohen Verletzungsrisiko ganz zu schweigen!

Außerdem machte es wenig Spaß, Sport zu treiben, wenn man so wenig auf den Rippen hatte wie sie. „Man kann deine Knochen kilometerweit klappern hören“, flachsten ihre Klassenkameraden gern. Beliebt war auch die Feststellung: „Ich dachte, Gerippe wären besonders gelenkig“, wenn Sina wie ein nasser Sack an irgendeinem Turngerät hing. Zuerst hatte sie noch mitgelacht, doch auf die Dauer nervten solche Bemerkungen.

In dieser Sportstunde war ihnen was Neues eingefallen. Der Barren wurde hervorgeholt. Als Sina sagte: „Ich hasse den Barren. Ich habe immer Angst, auf den Arsch zu fallen“, rief jemand: „Du kannst gar nicht auf den Arsch fallen. Weil du nämlich keinen hast!“ Die meisten fanden das wohl witzig, dem Gegröle nach zu urteilen, das danach ausbrach. Sina musste ebenfalls grinsen, aber sie hatte schon mal mehr gelacht.

„Ach, lass sie quatschen“, meinte Thomas und legte tröstend den Arm um sie.

„Kein Problem“, erwiderte Sina und machte sich los.

Es störte sie tatsächlich nicht, wenn man sie ein bisschen foppte, zumal sie wusste, dass sie bei ihren Klassenkameraden gut angesehen war.

Als sie nach Hause kam, war sie dennoch heilfroh, dass sie nun alles hinter sich hatte: den Sportunterricht, den Tag, die ganze Schulwoche. Ihre Mutter rumorte bereits in der Küche. Sie schien bester Laune zu sein, rührte in einem Topf herum und summte dabei vor sich hin.

„Hi, Mama!“ Sina ließ sich auf einen Stuhl fallen. Sie bemerkte, dass ihre Mutter ein neues, ziemlich enges T-Shirt trug, das ihr sehr gut stand.

„Hallo, Sinchen! Wie war’s in der Schule?“

Diese Frage stellte sie oft. Zu oft. „Gut“, brummte Sina.

Das war allerdings stark übertrieben. Die Mathearbeit zum Beispiel hatte überhaupt nicht geklappt. Aber darüber hielt sie besser den Mund, wenn sie das Wochenende retten wollte.

Da fragte ihre Mutter schon weiter: „Und wie war die Mathearbeit?“

Es hatte keinen Zweck, sie würde es ja eh erfahren. Also Augen zu und durch. Sina räusperte sich. „Ich hoffe, ich kriege noch eine Vier.“

„Noch eine Vier?“, wiederholte ihre Mutter aufgebracht. „Das hoffe ich für dich mit. Eine Drei wäre mir wesentlich lieber.“

„Mama! Ich bin schlecht in Mathe, wie du weißt. Und die Witter verlangt viel zu viel. Das sagen alle.“

„Dass du Schwierigkeiten in Mathe hast, ist mir klar. Ob Frau Witter zu viel verlangt, kann ich nicht beurteilen. Aber keinesfalls darfst du dich darauf ausruhen. Du müsstest mehr tun, dann würde es bestimmt besser laufen in der Schule.“

Diese alte Leier schon wieder! Sina unterdrückte einen Seufzer. „Die Arbeit war zu schwer“, verteidigte sie sich. „Alle sagen, sie haben ein schlechtes Gefühl.“

„Was alle sagen, interessiert mich nicht“, gab ihre Mutter zurück. „Nur du interessierst mich, und du bist faul. Du solltest dich jeden Tag nur ein halbes Stündchen hinsetzen ...“

Sina schaltete ab, sie wusste ohnehin, was jetzt kam: von Anfang an am Ball bleiben, bei Schwierigkeiten gleich die Lehrerin fragen oder jemanden in der Klasse, der gut in Mathe war, weniger mit Jenny abhängen, blablabla. Ein Glück, dass nicht aufgefallen war, dass sie ihre Hausaufgaben für Deutsch vergessen hatte – das heißt, sie hatte sie gemacht, aber das Heft zu Hause liegen lassen. So etwas war schon häufiger passiert, und bestimmt hätte der Lehrer eine Benachrichtigung nach Hause geschickt. Das Theater stellte sie sich lieber gar nicht erst vor ...

Ihre Mutter hielt sich dran mit dem Thema Mathe. „... könnten versuchen, eine Mathenachhilfe zu besorgen“, hörte sie sie sagen.

Um Himmels willen! Das würde ihr gerade noch fehlen! Die drei Wochenstunden in der Schule waren mehr als genug! Nun wurde es höchste Zeit, das Gespräch auf etwas anderes zu bringen. „Lass uns die nächste Arbeit abwarten“, sagte sie und setzte hinzu: „Übrigens, Jenny hat die Witter gestern mit einem Mann gesehen!“

„Aha?“

„Stell dir vor: Hand in Hand!“ Sina kicherte.

„Na und? Frau Witter ist eine junge Frau. Und Lehrer sind auch Menschen. Sie verlieben sich wie jeder andere.“

Dass jemand sich in diese blöde Kuh verlieben konnte, war Sina unbegreiflich. Im Augenblick hielt sie es jedoch für klüger, solche Gedanken für sich zu behalten.

„Was ich dir schon länger erzählen wollte ...“ Frau Paulsen stockte. Neugierig schaute Sina sie an. Es sah fast aus, als wäre ihre Mutter ein wenig befangen.

„Ich habe da jemanden kennengelernt“, fuhr sie fort. „Einen sehr netten Mann ...“

Jetzt ging Sina ein Licht auf. „Ach, deshalb bist du in letzter Zeit oft spät nach Hause gekommen. Du warst mit ihm verabredet! Und ich dachte, du machst Überstunden!“

Ihre Mutter lachte verlegen und wandte ihr wieder den Rücken zu, um die Frikadellen in der Pfanne zu wenden. „Du kannst schon mal den Tisch decken“, sagte sie wie beiläufig.

„Kenne ich den?“, fragte Sina, während sie Teller aus dem Schrank holte.

„Nicht persönlich. Aber du hast sicher schon von ihm gehört. Er besitzt ein Malergeschäft hier am Ort, das er von seinem Vater übernommen hat. Der Betrieb existiert schon seit Jahrzehnten.“

„Ich weiß, wen du meinst“, fiel ihr Sina lebhaft ins Wort. „Der war neulich auch bei Jenny, als sie renoviert haben. Wagner heißt der, stimmt’s? Oder war es Wegener?“

„Wagner.“

Sina legte Besteck neben die Teller. „Und wie bist du an den gekommen?“, wollte sie wissen.

„Seine Firma hat die Renovierung unserer Büros übernommen. Er schaute zwischendurch öfter vorbei. Wir sind ins Gespräch gekommen, haben die Mittagspausen miteinander verbracht und uns nach der Arbeit getroffen.“

Sina fand die Geschichte dermaßen interessant, dass sie glatt darüber das Tischdecken vergaß. „Wie ist er denn?“, löcherte sie ihre Mutter weiter.

„Nett und lustig.“

„Und wie sieht er aus?“

„Sehr gut, finde ich. Er hat dunkle Haare, blaue Augen, ein sehr sympathisches Gesicht. Und er lächelt so lieb ...“ Sie schaute versonnen vor sich hin.

„Mama! Du bist ja richtig verknallt!“

Wie witzig, jetzt wurde ihre Mutter tatsächlich rot! Sie atmete tief durch, dann sagte sie: „Ich habe Jörg übrigens für morgen zum Abendessen eingeladen. Und danach gehen wir ins Kino. Er ist genau so ein Filmfan wie ich.“

Das wurde ja immer interessanter! „Okay“, sagte Sina. „Ich bin gespannt.“ Sie überlegte. Es war schon ein komisches Gefühl, dass ihre Mutter einen Freund hatte. Einerseits könnte man fragen: Warum nicht? Sie war nett und sah gut aus. Andererseits: in ihrem Alter? Sie war schon 39, fast 40! War das nicht viel zu alt für so was?

Nein, ihre Mutter, verliebt, das konnte sie sich nur schwer vorstellen. Hoffentlich war der Mann wirklich in Ordnung. Vorher konnte man das nie wissen ...

„Woran denkst du?“, fragte ihre Mutter.

„An diesen Gero. Weißt du noch?“

Michaela Paulsen schlug die Augen zum Himmel. „Erinnere mich bloß nicht an den!“

Als Sina noch in die Grundschule ging, war ihre Mutter mit Gero befreundet gewesen, einem Junggesellen. Bei dem wurde es richtig ernst. Zeitweilig war sogar von Hochzeit die Rede. Sina dachte mit Schrecken an diese Zeit zurück. Am Anfang war er ja ganz nett, sie unternahmen oft was zusammen am Wochenende. Aber dann gab es immer häufiger Streit. Er wollte alles bestimmen, hatte stets und ständig Recht und schien zutiefst getroffen, sollte es jemand wagen, anderer Meinung zu sein als er. Wenn er beleidigt war, tauchte er ab und blieb tagelang wie vom Erdboden verschluckt. Dann stand er plötzlich wieder vor der Tür, als wäre nichts gewesen. Bis ihre Mutter die Nase voll hatte und ihm den Laufpass gab.

Sina war damals sehr erleichtert. „Kein Wunder, dass der keine Frau gefunden hat“, dachte sie. „Der treibt ja jede in den Wahnsinn.“ Ihre Mutter zumindest war am Ende nur gestresst gewesen. Auch noch nach der Trennung. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie wieder die Alte war.

„War Jörg schon mal verheiratet?“, erkundigte sie sich.

„Ja.“ Ihre Mutter lächelte. „Er ist in allem das genaue Gegenteil von Gero.“

Vor lauter Jörg und Gero merkte ihre Mutter erfreulicherweise nicht, dass sie kaum etwas aß. Diesmal lag es hauptsächlich an der aufregenden Neuigkeit, dass ihr der Appetit vergangen war.

Während Sina das Geschirr in die Spülmaschine räumte, wurde ihr klar, wie sehr sie sich freuen würde, wenn Jörg Wagner tatsächlich so nett wäre, wie ihre Mutter behauptete. Sie hatte sich schon immer einen Vater gewünscht. Sina kannte ihren eigenen nicht. Er verließ ihre Mutter, bevor sie geboren wurde. Wegen ihr. Weil er auf gar keinen Fall ein Kind haben wollte.

Sina guckte sich immer die Väter von anderen an. Jennys zum Beispiel war klasse. Um den beneidete sie ihre Freundin. Die beiden hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Er verteidigte sie immer vor ihrer Mutter und machte nie Theater, wenn Jenny mal nicht das tat, was man von ihr erwartete. Sie hatten eine gemeinsame Leidenschaft: das Marathonlaufen. Fast jedes Wochenende brachen sie gemeinsam auf.

„Du hast es gut“, sagte Sina mal, als Jenny ihr davon vorschwärmte. Sie meinte, weil die einen so lieben Vater hatte, aber ihre Freundin verstand sie falsch und dachte, ihr ginge es ums Marathonlaufen. „Komm nächstes Wochenende mit uns“, schlug sie vor. „Dann laufen wir nur die halbe Strecke. Mein Papa ist bestimmt einverstanden.“

„Du bist gut! Ich kann zwanzig Kilometer nicht mal gehen, geschweige denn laufen.“

„Du musst bloß trainieren.“

„Nee! Dazu habe ich keine Lust. Du weißt doch, dass ich Sport hasse!“

Jenny schüttelte den Kopf. „Du redest wie Mama. Die will auch nie mitkommen.“

„Meinst du, dein Jörg mag Jugendliche?“, erkundigte Sina sich bei ihrer Mutter.

Frau Paulsen lachte. „Klar! Sonst hätte ich ihn nicht eingeladen.“

„Woher weißt du denn, dass er sie mag? Hat er selbst Kinder?“

„Nein. Aber er hat gesagt, dass er gern welche hätte. Und dass er sich darauf freut, dich kennenzulernen. Ich bin sicher, ihr werdet euch gut verstehen.“

Natürlich musste Sina gleich nach dem Abendessen Jenny anrufen. „Stell dir vor, meine Mutter hat einen Lover“, platzte sie heraus.

„Ziemlich spannend“, fand ihre Freundin das und fügte hinzu: „Vielleicht wird das auch für dich ganz schön.“

„Das bleibt abzuwarten“, antwortete Sina. „Liebe Güte, hoffentlich gibt das am Ende kein Drama ...“

Herzenswut

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