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Kapitel 3
ОглавлениеAuf dem Laufenden hielt Sina ihre Freundin tatsächlich, manchmal mehr, als der lieb war. Jörg verbrachte inzwischen fast jeden Abend und die Wochenenden bei ihnen. Und jedes Mal schwärmte Sina ihr hinterher was vor. Jenny musste sich ausführliche Berichte darüber anhören, was er gesagt, gemacht, getan, gefragt und wie er ausgesehen hatte.
„Gibt’s eigentlich noch ein anderes Thema für dich als Jörg?“, erkundigte sie sich einmal spitz.
Sina war bisher nicht aufgefallen, dass sie dermaßen oft von ihm sprach.
„Ich bin mal gespannt“, sagte Jenny, „ob ich ihn genauso sensationell finde wie du, wenn ich ihm mal begegne.“
„Du bist bestimmt hin und weg“, antwortete Sina im Brustton der Überzeugung. „Du kannst gar nicht anders. Jeder muss Jörg cool finden.“
Je länger sie ihn kannte, desto mehr hing sie an ihm. Sie wartete abends auf ihn, freute sich, wenn er kam, und kaum dass er wegging, fehlte er ihr bereits.
„Ich kann mir nicht mehr vorstellen, wie es ohne Jörg war“, sagte sie einmal zu ihrer Mutter.
„Das möchte ich mir gar nicht vorstellen“, erwiderte die.
Jörg war unglaublich herzlich zu ihr. Er fragte jeden Abend, wie es ihr ging, und Sina wusste, das war nicht nur so dahergeredet, er wollte es wirklich wissen. Er merkte auch immer sofort, wenn sie etwas bedrückte. Dabei war er keineswegs aufdringlich, er bohrte nie nach, trotzdem schaffte er es, dass sie sich ihm anvertraute. Sie erzählte ihm beinahe alles, was sie bewegte. Sogar mehr als ihrer Mutter.
Zum Beispiel, dass Jenny sich in den Nachbarsjungen verknallt hatte und der sich in sie. Darüber war Sina alles andere als glücklich. „Jenny ist meine beste Freundin“, klagte sie. „Und jetzt zähle ich kaum noch für sie. Ich höre nur noch „Daniel, Daniel“, den ganzen Tag. Und sie hat nachmittags nie mehr Zeit für mich.“
Jörg legte den Arm um sie. „Ich denke, das ist normal, wenn man frisch verliebt ist. Das ändert sich bestimmt bald wieder.“
„Meinst du?“ Sie schaute ihn zweifelnd an.
Er drückte sie kurz an sich. „Ich bin doch auch verliebt“, fügte er lächelnd hinzu. „Und trotzdem habe ich ein gutes Verhältnis zu meinen Freunden.“
Einen winzigen Moment – nur den Bruchteil eines Augenblicks – stellte Sina sich vor, er wäre in sie verliebt. Schnell verscheuchte sie den Gedanken wieder.
Erst hinterher begann sie zu überlegen: War dieser Einfall wirklich so abwegig? Manchmal hatte sie nämlich den Eindruck, dass Jörg mehr zu ihr hielt als zu ihrer Mutter und sie gegen sie in Schutz nahm.
Wie neulich zum Beispiel. Da bekam sie einen Eintrag ins Klassenbuch, weil sie zum dritten Mal zu spät zum Unterricht erschien. Möglicherweise würde ein schriftlicher Tadel folgen, das stand noch nicht fest. Ihrer Mutter verschwieg sie die Angelegenheit zunächst und sie fragte Jörg, ob sie beichten sollte oder ob es klüger wäre, erst mal abzuwarten.
„Ich würde es ihr sagen“, antwortete er. „Danach fühlst du dich bestimmt besser. Außerdem musst du sie vorwarnen, damit sie nicht aus allen Wolken fällt, falls plötzlich ein Tadel ins Haus flattert.“
„Aber wie soll ich ihr verklickern, dass ich dreimal zu spät gekommen bin? Darüber regt sich bestimmt furchtbar auf.“
„Hm.“ Jörg dachte kurz nach. „Was hältst du davon, wenn ich es ihr schonend beibringe? Nachher, wenn wir entspannt zu zweit bei einem Glas Wein im Restaurant sitzen?“
Dankbar nahm Sina sein Angebot an. Eine Last war ihr von der Seele genommen. Jörg würde das schon hinkriegen!
Normalerweise mochte sie es nicht, wenn er und ihre Mutter allein ausgingen. Sie fühlte sich dann ganz elend, von aller Welt verlassen und grenzenlos einsam.
Auch jetzt, trotz Jörgs Angebot, pikste dieser Stachel wieder. Warum konnten sie nicht entspannt zu dritt bei zwei Gläsern Wein und einem Glas Mineralwasser im Restaurant sitzen? Oder noch besser im Wohnzimmer?
Am allerschönsten wäre es ja, wenn sie allein mit Jörg entspannt irgendwo sitzen könnte, wenn es sein musste, sogar in einem Restaurant, obwohl sie nur ungern hinging, weil es dort immer so schrecklich nach Essen stank.
Was den Tadel anging, schaffte es Jörg, ein Drama abzuwenden. Am nächsten Morgen sagte ihre Mutter nur: „Stell deinen Wecker demnächst auf zehn Minuten früher“, und damit war die Sache erledigt.
Sina atmete auf. „Danke, wegen des Tadels“, flüsterte sie ihm später in einem unbeobachteten Moment ins Ohr, und er zwinkerte ihr zu.
„Wann guckst du dir Jörg an?“, fragte sie ihre Freundin, als die ausnahmsweise einmal nicht von ihrem Daniel redete, und erstaunlicherweise antwortete Jenny: „Ich kann nachher bei dir vorbeikommen.“ Im selben Atemzug fügte sie hinzu: „Daniel muss nämlich zum Handballtraining.“
Jörg war wirklich unheimlich nett zu Jenny. Er begrüßte sie herzlich mit: „Hi, Jenny!“, und es klang wie: „Endlich lerne ich dich mal kennen!“ Als ob er schon ewig darauf gewartet hätte und sich riesig darüber freuen würde! Dabei kannte er Jenny doch bloß vom Hörensagen! Vielleicht interessierte er sich für sie, weil sie ihre Freundin war?
Sina wartete begierig darauf, Jennys Meinung über Jörg zu hören. Als sie später in ihrem Zimmer hockten, überfiel sie sie sofort: „Und? Wie findest du ihn?“
„Wirklich ein cooler Typ!“, antwortete Jenny.
Sofort fing Sina wieder an zu schwärmen: „Der ist sooo nett! Und lustig. Und fair. Und immer gut gelaunt. Dazu sieht er noch klasse aus!“
„He, he, he!“ Jenny grinste. „Pass bloß auf, dass du dich nicht in ihn verguckst!“
Sina schwieg verdutzt.
Jenny hatte das mehr zum Spaß gesagt, aber ihre Bemerkung ging Sina nicht mehr aus dem Kopf. Wäre es möglich, dass sie sich in Jörg verliebte? Oder – ihr wurde ganz flau – war es am Ende schon passiert?
„Nein, nein“, beruhigte sie sich selbst, „das ist kompletter Blödsinn.“
War es das wirklich? Sina lag im Bett und dachte nach. Jörg und ihre Mutter waren ins Kino gegangen. Sie gingen oft donnerstags hin, wenn die neuen Filme in die Kinos kamen. Sie stellte sich Jörg vor, wie er aussah: seine Augen, seinen Mund, sein dunkles Haar. Und wie er sie anlachte. Sie in den Arm nahm und an sich drückte. Leider nur, um sie zu trösten. Zum Beispiel neulich, weil sie wegen einer Fünf in Mathe fix und fertig war. Sie versuchte, sich dieses Ereignis in allen Einzelheiten ins Gedächtnis zu rufen. Wie seine Arme sich angefühlt hatten, der Druck seiner Hand. Plötzlich wünschte sie sich heftig, sie könnte ihren Kopf an seine Brust legen.
Sina überlegte, wie sie ihn unauffällig dazu bewegen könnte, sie in den Arm zu nehmen. Sollte sie einfach den ersten Schritt tun und ihn umarmen? Wer weiß, möglicherweise würde ihm das sogar gefallen.
Da hörte sie, dass Jörg und ihre Mutter zurückkamen. Sie tuschelten und lachten leise auf dem Flur. Jetzt oder nie! Sina schwang die Beine aus dem Bett. Sie würde beide mit einer Umarmung begrüßen. Plötzlich wurde es draußen ganz still. Sicher küssten sie sich gerade. Nein, das musste sie nicht haben! Schnell schlüpfte Sina wieder unter die Bettdecke.
Sie schloss die Augen. Ihre Mutter, die Glückliche, hatte es gut! Es musste herrlich sein, von Jörg geküsst zu werden! Ehe sie es sich versah, fing sie an zu träumen: Sie schmiegte ihre Wange an sein Gesicht, Jörg sagte: „Mein Liebling!“ Und dann ...
Stopp! Erschrocken riss sie die Augen auf. Das ging zu weit! Entschieden zu weit! Sie durfte keinesfalls vergessen, dass er der Freund ihrer Mutter war! Wohlgemerkt: ihrer Mutter! Sie knipste das Licht an, um noch ein wenig zu lesen.
Am nächsten Morgen war Jörg noch da. „Ich muss übrigens am Samstag zu einer Fortbildung“, teilte die Mutter ihnen beim Frühstück mit.
Es machte Sina nichts aus, einen Tag allein zu sein. Im Gegenteil, sie fand es ganz angenehm, wenn sie tun und lassen konnte, was sie wollte: im Bett liegen, stundenlang mit Jenny telefonieren, Mahlzeiten ausfallen lassen – und niemand war da, der ihr Vorschriften und Striche durch irgendwelche Rechnungen machte oder Sachen sagte, die sie nicht hören wollte.
„Jörg hat angeboten ...“, begann die Mutter.
Sina horchte auf.
„... sich am Samstag um dich zu kümmern.
„Natürlich nur, wenn du einverstanden bist“, setzte Jörg hinzu.
„Ich bin einverstanden“, antwortete Sina hastig. Es klang ganz gequetscht, weil sie verbergen wollte, wie überwältigt sie von diesen Aussichten war. Einen ganzen Tag lang allein mit Jörg! Das war beinahe zu schön, um wahr zu sein!
„Nett, dass du mir Gesellschaft leisten willst“, sagte Jörg. „Dann können wir gemeinsam auf deine Mutter warten.“
„Mm“, murmelte Sina und hoffte, dass sie sehr, sehr lange auf sie würden warten müssen.
In den folgenden Tagen dachte sie oft an diese Verabredung. Dabei ging ihr einiges durch den Kopf. Zum Beispiel, dass es Jörgs Idee gewesen war, die Zeit mit ihr zu verbringen. Das war der Beweis, dass er sie gut leiden mochte. Nur gut leiden? Oder bedeutete sie ihm mehr, als er sich eingestehen wollte?
Einerseits konnte sie den Samstag kaum noch erwarten, andererseits war sie ziemlich aufgeregt. Hoffentlich langweilte er sich nicht mit ihr! Hoffentlich passierte ihr kein Missgeschick! Hoffentlich kam nichts dazwischen. Hoffentlich ...
„Hör auf, dir ständig Sorgen zu machen“, rief sie sich selbst zur Ordnung. „Kümmere dich lieber darum, dass es ein Erfolg wird!“
Zunächst mal das Wichtigste: Was sollte sie anziehen? Es musste etwas Schickes sein. Er hatte neulich gesagt, dass ihm ihr rosa T-Shirt mit der großen, schwarzen Blume vorne drauf und den Pailletten gefiel. Das würde sie nehmen. Und Jeans. Die passten zu jeder Gelegenheit. Er trug ebenfalls meistens Jeans.
Als der Samstag endlich kam, wachte Sina vor lauter Aufregung schon gegen fünf auf. Jörg würde sie erst gegen Mittag abholen, deshalb versuchte sie wieder einzuschlafen. Es klappte nicht. Notgedrungen stand Sina kurz vor halb sieben auf.
Je mehr es auf zwölf Uhr zuging, desto zappeliger wurde sie. Dem Badezimmer musste sie mehrere brandeilige Besuche abstatten.
Als es um fünf vor zwölf klingelte, klopfte ihr Herz zum Zerspringen.
„Hi, Jörg“, begrüßte sie ihn atemlos.
Zum Glück schien er ihre Aufregung nicht zu bemerken. „Hast du Lust, mit mir essen zu gehen?“, fragte er. „Ich habe nämlich Hunger.“
Sina musste daran denken, wie oft sie sich das schon gewünscht hatte.
„Oder ist das eine schlechte Idee?“, fügte er hinzu. „Ich weiß ja, was du von Essen und von Restaurants hältst.“
„Nein, nein“, stammelte sie, „das geht schon in Ordnung.“
„Prima. Such dir aus, wohin wir gehen.“
Es gab ein Gericht, das sie gern aß, oder genauer gesagt, weniger ungern als alles andere: Pizza. „Sollen wir ins San Marco gehen?“, schlug sie deshalb vor.
„Einverstanden. Eine sehr gute Wahl.“
In der Pizzeria stellten sie fest, dass sie beide am liebsten Pizza Tonno aßen. Sina fand das einigermaßen erstaunlich, wenn man bedachte, wie viele verschiedene Pizzen es gab.
Als die Pizza gebracht wurde, bekam sie einen Schreck. Du lieber Himmel, das war ja ein Wagenrad! Nie im Leben würde sie das aufessen können!
Jörg deutete ihren Gesichtsausdruck richtig. „Du brauchst nur so viel zu essen, wie du magst“, beruhigte er sie.
Sina nahm ein paar kleine Bissen, und weil sie nicht gefrühstückt hatte, rutschte es verhältnismäßig gut.
Inzwischen fühlte sie sich ein bisschen entspannter. „Du warst also schon mal verheiratet?“, erkundigte sie sich.
Erstaunt blickte er sie an. „Wie kommst du jetzt darauf?“
„Mama hat das gesagt. Es fiel mir gerade ein.“
Er nickte. „Stimmt.“
„Und wieso hast du dich scheiden lassen?“
Eine Wolke schien über sein Gesicht zu ziehen.
Sina wurde unsicher. „Entschuldige“, bat sie, „ich will keinesfalls neugierig sein.“
„Das bist du aber.“ Er lächelte ein wenig schief.
„Du ... brauchst natürlich keine Antwort zu geben, wenn du nicht willst“, stammelte Sina. „Ich dachte bloß ... Ich frage mich ... Warum lässt sich eine Frau von dir scheiden? Ich meine ... Ich würde das nie tun!“
Hilfe! Sina biss sich auf die Lippen. Zu spät. Es war ihr schon herausgerutscht.
Jörg legte sein Besteck ab. „Weder meine Ex-Frau noch ich haben Schuld daran. Wir waren nur beide der Meinung, dass es besser für uns ist, wenn wir uns trennen.“
„Wieso?“
Er schaute sie ein wenig vorwurfsvoll an. „Du willst es aber ganz genau wissen.“
Sina errötete.
„Wir waren noch sehr jung, als wir heirateten“, erklärte Jörg. „Irgendwann haben wir gemerkt, dass wir gar nicht mehr zueinanderpassen. Wir hatten uns auseinandergelebt.“
„Triffst du sie noch ab und zu?“
Er schüttelte den Kopf. „Sie ist wieder verheiratet und lebt inzwischen in der Schweiz. Wir mailen gelegentlich oder telefonieren, zum Beispiel zum Geburtstag.“
„Findest du es schlimm, dass sie einen neuen Mann hat?“
Jörg überlegte nicht lang. „Nein. Es freut mich für sie.“
„Warst du traurig, als ihr euch getrennt habt?“
Er lehnte sich zurück und blickte in die Ferne. „Die erste Zeit danach fand ich schlimm. Es ist immer bitter, wenn eine Beziehung zerbricht. Aber ich wusste, dass wir das Richtige taten.“
Ehe Sina eine weitere Frage stellen konnte, fügte er lächelnd hinzu: „Ich werde das Gefühl nicht los, dass du mich richtiggehend verhörst.“
„Tut mir leid. Ich musste bloß an Gero denken.“
„Du meinst den ehemaligen Freund deiner Mutter?“
Aha, er wusste also Bescheid. „Ja. Schrecklicher Kerl!“
„Na hör mal!“, rief Jörg empört. „Willst mich etwa mit ihm vergleichen?“
Oh je! War er ihr jetzt böse? Ängstlich schielte sie zu ihm hinüber. Gott sei Dank, nein. Er grinste. Sie lachte erleichtert auf. „Das würde mir nicht im Traum einfallen, denn du bist viel, viel netter als er.“
„Na, dann bin ich ja beruhigt!“
Sie unterhielten sich noch über alles Mögliche. Es ging wie von selbst, nie musste man überlegen, was man als Nächstes sagen könnte.
Fast ohne es zu merken, verdrückte Sina ein Viertel ihrer Mammutpizza. Jörg verputzte seine und noch den größten Teil von Sinas. Er konnte wirklich unglaublich viel essen.
„Wie kommt es, dass du so schlank bist?“, fragte sie ihn.
„Ehrlich gesagt, wundert mich das. Früher hatte ich viel mehr Bewegung. Inzwischen verbringe ich die meiste Zeit am Schreibtisch, im Auto oder bei Kundenbesuchen. Trotzdem halte ich mein Gewicht. Anscheinend habe ich keine Veranlagung, dick zu werden.“
„Du hast es gut“, seufzte Sina und meinte, dass Jörg froh sein konnte, dass es ihm leichtfiel zu essen.
Jörg verstand ihre Bemerkung falsch. „Wie meinst du das?“, hakte er nach. „Du bist doch auch nicht dick. Im Gegenteil.“
„Findest du mich zu dünn?“
„Was ich finde, ist völlig egal. Dass du gesund bist, das ist das Entscheidende. Und wie du dich selbst findest. Du musst mit deinem Äußeren zufrieden sein.
Sina überlegte. War sie mit ihrem Aussehen zufrieden? Teils – teils. Am wichtigsten war ihr, dass sie ihm gefiel. Er sollte sie hübsch finden.
„Hast du Lust, ins Kino zu gehen?“, fragte er in ihre Gedanken hinein.
Na und ob! Neben ihm im Dunkeln zu sitzen, ganz dicht beieinander ... Wie oft hatte sie sich das schon ausgemalt! „Au ja!“, rief sie und in ihrer Stimme klang Begeisterung mit. „Ich liebe Kino!“
Er lachte. „Kein Wunder. Diese Kinoleidenschaft hast du bestimmt von deiner Mutter.“
Eifrig raffte Sina ihre Sachen zusammen und stand auf.
„Willst du gar nicht wissen, was für ein Film gerade läuft?“, setzte er hinzu.
Eigentlich war Sina das egal. Nur der Ordnung halber antwortete sie: „Klar!“
„Ich dachte an die neue Vampir-Romanze, die in den USA bereits alle Rekorde gebrochen hat. So was mögen junge Mädchen, habe ich mir sagen lassen.“
Sina machte sich nicht das Geringste aus Vampirfilmen. Aber mit ihm zusammen hätte sie sich sogar vor eine vollkommen leere Leinwand gesetzt. Außerdem – wenn da ein paar grausliche Vampire auftauchten, war das unter Umständen eine gute Gelegenheit, sich ein bisschen anzukuscheln.
Hatte er ihr womöglich genau aus diesem Grund den Film vorgeschlagen? Oder war ihm gerade nach Romantik zumute? Auf jeden Fall erschien es ihr bemerkenswert, dass er ausgerechnet diesen Film ausgewählt hatte.
Sina war mit Nachdenken so beschäftigt, dass sie es versäumte zu antworten.
„Also? Was meinst du?“, fragte Jörg.
„Bin gespannt“, erwiderte sie.
Trotz der Riesenpizza Tonno kaufte Jörg sich an der Kasse eine gigantische Tüte Popcorn. „Das gehört zum Kino einfach dazu“, meinte er. Sina musste ihm da zustimmen. Selbst sie nahm sich ab und zu ein Bröckchen.
Zwei Reihen hinter ihr entdeckte sie Thomas. Sie winkte ihm flüchtig zu und vergaß ihn in dem Augenblick, als das Licht verlosch. Während Vorschau und Reklame liefen, schweiften ihre Gedanken ab. Sie stellte sich vor, Jörg würde ihre Hand halten. Auf diese Idee kam er bestimmt nicht von allein. Ob sie kackfrech nach seiner greifen sollte? Händchenhalten war doch eigentlich harmlos. Im Grunde ziemlich unverfänglich. Oder? Egal. Sie brauchte nicht länger darüber nachzudenken. Sie würde sich sowieso nie trauen, seine Hand zu nehmen.
Der Film begann. Die Geschichte war hochromantisch, wahnsinnig aufregend und unheimlich! Der Held, ein Halbvampir, und seine menschliche Freundin kämpften gegen eine Vampir-Gang. Die machte eine Großstadt unsicher, in der kaum noch Menschen lebten. Alle waren schon ausgesaugt worden. Jedes Mal, wenn urplötzlich aus dem Hinterhalt ein Vampir hervorsprang und einen Menschen anfiel, zuckte Sina zusammen. Und jedes Mal, wenn sie zusammenzuckte, umklammerte sie Jörgs Arm. Sie machte es unabsichtlich, es geschah ganz automatisch. Schließlich legte er den Arm um sie und tätschelte ihren Oberarm.
Wunderschön war das! Ganz langsam, unauffällig, rückte sie näher an ihn heran und legte schließlich den Kopf an seine Schulter. Wie gut das tat! Sie fühlte sich bei ihm so sicher, so beschützt. Von ihr aus könnte jetzt ruhig einer dieser grässlichen Vampire von der Kinoleinwand herunterspringen, sie hätte keine Angst!
Ach, würde dieser Film doch ewig dauern! Leider tat er das aber nicht. Als der Held und seine Heldin die Vampire vernichtet und die letzten Menschen in der Stadt gerettet hatten, ging unerbittlich das Licht im Kinosaal wieder an.
Auf dem Heimweg redeten sie kaum. Sina war innerlich zu aufgewühlt, um etwas zu sagen.
Bald jedoch begann es sie zu beunruhigen, dass Jörg die meiste Zeit schwieg. Sonst war er viel gesprächiger! Ließ er die Stunden mit ihr noch einmal an sich vorüberziehen? Möglicherweise fand er den Tag ja genauso schön wie sie. Und hatte es genossen, sie im Arm zu halten. Nun verglich er sie mit ihrer Mutter und fragte sich, wen er lieber mochte.
Oder – Sina erschrak – er langweilte sich mit ihr. Schnell, welche kluge Bemerkung könnte sie über den Film machen? Mist, ihr fiel beim besten Willen keine ein!
In dem Augenblick gähnte Jörg herzhaft und sagte: „Ich bin ziemlich müde.“
Das war es also! Erleichtert behauptete Sina, sie wäre ebenfalls kaputt.
Juhu! Ihre Mutter war noch nicht von ihrer Fortbildungsveranstaltung zurückgekommen. Sina konnte das nur recht sein. So hatte sie ihn noch ein Weilchen für sich allein.
Er schaltete den Fernseher ein, um die Nachrichten zu sehen. Sina setzte sich neben ihn aufs Sofa und guckte mit, obwohl sie sich nicht die Bohne für Nachrichten interessierte. Sie saß nah genug neben ihm, dass er wieder den Arm um sie legen könnte. Bedauerlicherweise tat er das nicht. Vielleicht fürchtete er, dass ihre Mutter jeden Augenblick hereinkommen würde. Oder wollte er mehr Abstand zu ihr halten, damit er sich nicht in sie verliebte – oder noch mehr in sie verliebte?
Kurz vor der Wettervorhersage erschien Frau Paulsen, und damit fielen alle ihre Träume in sich zusammen. Sina befiel auf der Stelle das Gefühl, abgemeldet zu sein. Jörg begrüßte ihre Mutter überschwänglich, als wäre sie jahrelang weggewesen. Er hatte nur noch Augen für sie und lauschte aufmerksam, während sie von dieser todlangweiligen Veranstaltung berichtete. Auf einmal wirkte er kein bisschen müde mehr, sondern im Gegenteil hellwach. Zu allem Überfluss legte er den Arm um sie und hielt gleichzeitig ihre Hand.
Sina konnte das nicht länger mit ansehen. „Ich geh ins Bett“, sagte sie. „Vielen Dank, Jörg, für den schönen Nachmittag.“
„Gern geschehen, Apfelsinchen.“
Er hatte sie Apfelsinchen genannt! Das Blut schoss ihr ins Gesicht.
„Ich hoffe, es hat dir Spaß gemacht“, fügte er hinzu.
„Ja, sehr“, murmelte Sina.
„Mir auch. Wenn deine Mutter demnächst mal wieder keine Zeit für uns hat, haben wir ein Date. Abgemacht?“
Immer noch verlegen nickte Sina.
Über all das grübelte sie, als sie im Bett lag und - öfter mal was Neues - nicht einschlafen konnte. Zweifellos mochte Jörg sie. Aber wie sehr? Oder genauer gefragt: auf welche Weise?
Sina war freudig erregt und unruhig, glücklich und unglücklich zugleich. Mal hoffte sie, mal empfand sie abgrundtiefe Hoffnungslosigkeit. Gleichzeitig beschlichen sie unklare Angstgefühle. Doch wovor fürchtete sie sich eigentlich?
Kurz erwog sie, Jenny anzurufen und sie um Rat zu fragen. Immerhin war die ja im Moment verliebt und konnte sich deswegen möglicherweise ein bisschen in sie hineinversetzen. Dann entschied sie sich dagegen. Daniel, diesen dummen Jungen, konnte man ja wohl kaum mit einem Mann wie Jörg vergleichen. Und sicher bestand ein himmelweiter Unterschied zwischen Jennys Gefühlen für ihn und dem, was sie selbst für Jörg empfand.