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Nachtbus
ОглавлениеWie lang ist die Sache jetzt her? Fünfundzwanzig Jahre, schätze ich, wenn nicht länger. Und noch immer muss ich ab und zu daran denken. Manchmal grundlos. Manchmal, weil mich etwas daran erinnert. So wie gestern, als ich allein in einer finsteren Straße auf den Nachtbus wartete. Genau wie damals.
***
Es war an einem Freitag, kurz vor Mitternacht. Meine Freunde zogen weiter durch die Diskos, aber ich war todmüde und wollte nach Hause.
Während ich auf den Nachtbus wartete, fiel es mir schwer, wach zu bleiben. Ich rieb meine brennenden Augen und kniff die Lider ein paar Mal zusammen. Alles um mich herum kam mir so unwirklich vor, als ob ich träumen würde. Die Luft schien zu flimmern. Von Weitem hörte ich leise Geräusche, die ständig auf- und abschwollen.
Endlich sah ich wie durch blindes Glas zwei runde Lichter – der Nachtbus kam.
Ich stieg ein. Im ersten Augenblick glaubte ich, ich wäre der einzige Fahrgast. Aber dann bemerkte ich im bleichen Neonlicht ein Bündel Mensch auf der Rückbank. Der kahlköpfige Mann, der dort lag, trug einen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd mit einer silbergrauen Krawatte. Die Kleidungsstücke waren ihm viel zu weit.
Ich ließ mich auf einen Sitz fallen und beobachtete ihn. „Wahrscheinlich ein Betrunkener“, dachte ich.
Bis zur nächsten Haltestelle hatte er sich nicht ein einziges Mal gerührt. Ich wurde unruhig. Er war doch nicht etwa tot?
Ein paar Jugendliche stiegen mit lautem Hallo ein. Der dürre Mann stöhnte leise. Aus dem Ärmel seines Jacketts ragte eine knochige Hand, mit der er sich über die Stirn fuhr. Seine Augen blieben geschlossen.
Ob er krank war? Vielleicht brauchte er Hilfe. Ich rang mit mir. Dann stand ich auf.
Der Bus fuhr ziemlich schnell. Ich versuchte das Gleichgewicht zu halten, während ich nach hinten durchging. Plötzlich bremste der Fahrer und ich konnte mich gerade noch rechtzeitig abstützen, sonst wäre ich auf den Mann gefallen. Er zuckte zusammen und setzte sich auf.
„Entschuldigung“, murmelte ich.
Er schaute sich um, als ob er nicht wüsste, wo er sich befand. „Guten Morgen“, sagte er und reichte mir seine blaugefrorene Hand.
Nach kurzem Zögern ergriff ich sie. „Der ist ja vollkommen übergeschnappt“, schoss es mir durch den Kopf.
Er machte eine einladende Bewegung und ich setzte mich neben ihn. Gesund sah er wirklich nicht aus: bleiches Gesicht mit Augen, die so tief in den Höhlen lagen, dass sie kaum zu erkennen waren. Er saß zusammengekrümmt, als hätte er Schmerzen.
„Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte ich. „Kann ich Ihnen helfen?“
„Vielleicht.“ Er sprach sehr leise, war kaum zu verstehen. „Ja, wenn ich Glück habe, können Sie mir helfen.“
Er schwieg und blickte aus dem Fenster.
Als ich gerade fragen wollte, was ich für ihn tun könnte, wandte er mir sein Gesicht zu. Die blutleeren Lippen bewegten sich kaum, als er hinzufügte: „Ich fahre diese Strecke nun schon zum dritten Mal. Und wenn es sein muss, fahre ich sie auch noch mal, wieder und wieder, immer rund, immer im Kreis ...“ Er brach ab.
Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. „Wohin möchten Sie denn?“
Er lächelte schwach. Seine Zähne erschienen mir ungewöhnlich groß. „Ich möchte nirgendwohin“, flüsterte er. „Ich will hier im Bus jemanden treffen.“
Um nicht aufdringlich zu erscheinen, wartete ich, bis er weiterredete.
„Ich muss meinen Sohn sehen. Am Wochenende fährt er regelmäßig mit Freunden in die Stadt. Um einen draufzumachen, wie er sich ausdrückt. Irgendwann nimmt er dann immer den Nachtbus nach Hause.“
„Wie heißt Ihr Sohn denn?“, unterbrach ich ihn. „Vielleicht kenne ich ihn.“
Er musterte mich. „Ich glaube nicht.“
Alles Mögliche ging mir durch den Sinn. Warum musste der Mann seinen Sohn treffen? Wieso im Nachtbus und nicht zu Hause? Und auf welche Weise sollte ich ihm helfen?
Ich wollte ihn gerade fragen, als der Bus an der nächsten Haltestelle hielt. Die Jugendlichen standen auf und schwankten zum Ausgang. Sie lachten und johlten. Einer von ihnen wäre beinahe die hohen Stufen hinuntergestürzt.
„Die haben bestimmt mehr als nur ein Bier intus“, bemerkte ich.
„Ach, na ja“, erwiderte er. „Sie sind eben jung.“ Dabei schüttelte er den Kopf. Was er mit dieser Bewegung ausdrücken wollte, war mir nicht klar.
Danach riss der dünne Gesprächsfaden wieder ab. Der Fremde saß zusammengesunken auf seinem Platz und starrte vor sich hin. Ich schaute in die Nacht hinaus.
Der Bus hielt erneut. Mit einem Mal richtete sich der Mann auf. „Da ist er!“, flüsterte er und deutete mit zittrigem Zeigefinger auf eine Gruppe, die in den Bus hineindrängte. „Der Junge mit den grünen Haaren, das ist mein Oliver.“
„Oh“, sagte ich. Kaum zu glauben, dass dieser kraftstrotzende junge Mann in der schwarzen Lederkleidung mit dem überdimensionalen Hahnenkamm der Sohn dieses korrekt gekleideten, schwächlichen Mannes sein sollte.
Die Blicke des Vaters hingen an Oliver, als wollte er sich sein Bild für die Ewigkeit einprägen.
Ich war gespannt, wie es nun weitergehen würde. Aber nichts geschah. Nach einer Weile fragte ich: „Warum gehen Sie nicht zu Ihrem Sohn hin?“
Der Mann schaute mich an. „Sie haben doch gesagt“, wisperte er, „dass Sie mir helfen würden.“ Er wühlte in einer Tasche seines Jacketts und drückte mir etwas in die Hand. „Geben Sie ihm das. Es gehört ihm.“ Der Anflug eines Lächelns huschte über sein Gesicht. „Ich danke Ihnen.“
Ich betrachtete den kleinen Gegenstand. „Ein Siegelring!“, rief ich. „Warum geben Sie ihm den nicht selbst?“
Ich erhielt keine Antwort. Als ich hochblickte, war der Mann verschwunden.
Ich konnte es nicht fassen, sah sogar unter dem Sitz nach, aber er hatte sich in Luft aufgelöst.
Verwirrt lehnte ich mich zurück. Hatte ich geschlafen und geträumt?
Doch der Ring war noch da. Wenn ich die Finger darum schloss, bohrte sich der blaue Stein mit dem eingravierten Wappen in meine Handfläche.
Eine Gänsehaut lief mir über die Arme. Ich wollte das Ding so schnell wie möglich loswerden. Aber würde dieser Oliver mich nicht für verrückt erklären, wenn ich ihm mir nichts, dir nichts einen Ring überreichte?
Der Bus steuerte die nächste Haltestelle an. Dort musste ich aussteigen.
Teils mit Schrecken, teils mit Erleichterung sah ich, dass der Sohn des merkwürdigen Mannes ebenfalls aufstand und den anderen zum Abschied zuwinkte.
„Du, Oliver, ich habe was für dich“, begann ich zögernd, während wir am Ausstieg warteten.
Misstrauisch sah er mich an. „Woher weißt du, wie ich heiße?“
„Dein Vater hat es mir gesagt.“
Oliver riss die Augen auf.
Die Türen öffneten sich mit einem schmatzenden Laut.
„Alles klar, Olli?“, grölten seine Freunde.
Er warf mir einen abschätzenden Blick zu. „Jepp.“
Wir sprangen die Stufen hinunter. „Und was hast du für mich?“, fragte er.
Der Bus blinkte und zog vom Bordstein weg.
Ich hielt Oliver den Siegelring hin.
Er nahm das Schmuckstück, trat unter eine Straßenlaterne und betrachtete es. „Das ist ja das Wappen unserer Familie!“, rief er aus. „Woher hast du den Ring?“
„Dein Vater hat ihn mir gegeben.“
Oliver wich ein paar Schritte zurück. „Wann?“
„Gerade eben, im Bus.“
Er ließ sich auf die Bank im Wartehäuschen fallen und ich setzte mich neben ihn. Stumm starrte er auf den Ring.
„Was ist los?“, fragte ich beunruhigt.
Es dauerte eine Weile, bis er zu sprechen begann: „Dieser Ring wird in unserer Familie von Generation zu Generation vererbt. Der Vater gibt ihn an seinen ältesten Sohn weiter, und zwar an dessen 21. Geburtstag.“ Er stockte.
„Du bist also 21 geworden?“, hakte ich nach.
„Ja. Gestern.“
Oliver schluckte ein paar Mal, dann fuhr er fort: „Mein Vater wollte nie, dass ich den Ring bekomme. Er sagte, ich wäre nicht würdig, ihn zu tragen.“
Unwillkürlich ließ ich meinen Blick zu seiner Frisur wandern.
„Du hast es erfasst“, fuhr er mit rauer Stimme fort. „Stacheln statt Kurzhaarschnitt, mit Kumpeln um die Häuser ziehen statt auf Familie zu machen, Motorräder und Feten statt Abi ... Mein Vater konnte sich nie damit abfinden. “
„Immerhin hat er es sich jetzt anders überlegt“, warf ich ein.
Oliver schüttelte den Kopf. „Es kann nicht derselbe Ring sein.“ Er nagte an seiner Unterlippe. „Mein Vater ist nämlich tot. Er hatte Krebs. Vor ein paar Wochen haben wir ihn beerdigt. Mit seinem Siegelring.“
Der Schreck, der mich durchfuhr, war eisig. Ich konnte kaum weitersprechen. „Ich ... muss dich was fragen“, stammelte ich. „Es klingt makaber – aber ... weißt du, was dein Vater anhat? Im Sarg, meine ich.“
Eine Träne lief Olivers Wange hinunter. Hastig wischte er sie fort. „Ja, das weiß ich“, antwortete er heiser. „Ich habe das Zeug selbst zum Beerdigungsinstitut gebracht. Einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine Krawatte.“
„Eine silbergraue?“
Er nickte. „Immer korrekt, wie du siehst, bis zum bitteren Ende.“
Jetzt war ich mir sicher. „Diesen Ring hat mir dein Vater für dich gegeben“, erklärte ich mit fester Stimme.
Fast zärtlich strich Oliver mit dem Zeigefinger über das Wappen. Dann streifte er den Ring über.
„Danke“, sagte er und stand auf.
„Mach’s gut!“, rief ich ihm nach.
„Du auch.“ Damit verschwand er in der Dunkelheit.
***
Ich bin Oliver niemals wieder begegnet.
Manchmal frage ich mich, was aus ihm geworden ist. Hat er einen Lebensweg eingeschlagen, mit dem sein Vater einverstanden wäre? Oder wäre sein Vater mit jedem Lebensweg einverstanden, den sein Sohn gewählt hat?
Ich werde es wohl nie erfahren.