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2. Kapitel
ОглавлениеChefinspektor Oskar Stern lenkte den Audi A6 auf der Leonfeldner Straße zurück nach Linz, auf der Rücksitzbank saßen seine beiden Enkel. Beide waren gutgelaunt, und Tobias erzählte Melanie alles, was sich vor gut einer Stunde zugetragen hatte. Die Zwölfjährige hatte aufgrund eines Handyspieles nicht viel von Tobias’ Fund mitbekommen und lauschte gespannt den aufgeregten Worten ihres Bruders.
Stern hatte Tobias ein Eis versprochen, und dieses Versprechen wollte er nun einlösen, am besten im Café Jindrak am Pöstlingberg. Anschließend ging es zum Zwergerlschnäuzen in die Grottenbahn. Das war bestimmt gut für die Kinder. Denn warum der Neunjährige derart gute Laune versprühte, war dem Chefinspektor noch immer ein Rätsel. Der Anblick des Kopfes hätte ihn eigentlich traumatisieren müssen, war sich Stern sicher. Wie es aussah, reagierte Tobias nicht wie ein normales Kind auf Derartiges. Der Junge hatte ihn sogar gefragt, ob er ein Foto von dem Schreckgespinst aller Kinder machen dürfe, was Stern natürlich abgelehnt hatte. Heutzutage posteten die Kids doch alles auf Twitter oder Instagram. Da fehlte es ihm noch, dass, bevor die Kriminalpolizei wusste, wer das Opfer war, eines seiner Körperteile die Runde in den sozialen Netzwerken machte.
Endlich erreichten sie die Landeshauptstadt. Der Audi erklomm gemächlich den Pöstlingberg, der sich über das linke Donauufer von Linz emporhob. Wie jedes Mal, wenn Stern hierherfuhr, genoss er die Aussicht über die Stadt und die Umgebung. Tobias quäkte aufgeregt am Rücksitz, dass Stern sich beeilen solle, da er endlich in der Grottenbahn eine Runde auf dem Rücken des Drachen, an den Zwergen vorbei, drehen wolle, doch der Chefinspektor ließ sich nicht drängen. Er parkte den Wagen gut hundert Meter unter der Basilika zu den Sieben Schmerzen Mariä, der barocken, römisch-katholischen Pfarr- und Wallfahrtskirche auf der Kuppe des Pöstlingbergs. Dann stieg er gemächlich aus und spazierte zu der Aussichtsplattform. Tobias hüpfte aufgeregt neben ihm her, Melanie hingegen wirkte eher gelangweilt. Weder konnte sie die Aussicht auf Linz beeindrucken, auf das Kunstmuseum Lentos, das Ars Electronica Center oder die Donaulände, welche ergeben zu ihren Füßen lagen, noch jene auf den Besuch der Grottenbahn. Für Zwerge und Märchen sei sie zu alt, hatte sie während der Fahrt mehrmals bekundetet, was an Sterns Plänen jedoch nichts geändert hatte. Die Kinder brauchten einen Gegenpol zu dem eben Erlebten, redete er sich ein, und da war die Linzer Grottenbahn genau das Richtige. Mit ihrer Märchenwelt in einem der Befestigungstürme des Maximilianischen Befestigungsrings der Stadt und dem elektrisch betriebenen Zug in Drachengestalt, der durch den äußeren Ring des Wehrturms fuhr, vermochte sie jedes Kinderherz zu begeistern.
»Komm, Opa! Lass uns endlich das Eis essen und dann in die Grottenbahn gehen!«, forderte Tobias Sterns Versprechen vehement ein.
»Das machen wir ja gleich«, sagte Stern lachend und löste seinen Blick von der wunderbaren Aussicht über die Landeshauptstadt. Er folgte seinen Enkelkindern zum Café Jindrak, zu dem sie den Weg bereits kannten. Diese Attraktion hier oben auf der Spitze des Pöstlingberges besuchten sie jedes Jahr. Bei diesen Gelegenheiten kamen sie allerdings mit der Pöstlingbergbahn her, einer der steilsten Adhäsionsbahnen der Welt, die vom Linzer Hauptplatz direkt herauffuhr.
Vor dem Eingang des Cafés warteten die Kinder. Stern zog für sie die Tür auf und ließ sie ein. Sie setzten sich auf die gemütliche Sommerterrasse und bestellten einen Bananensplitt, einen Früchtebecher und einen Eiskaffee.
»Erzähl noch mal, wie hat er ausgesehen?«, fragte Melanie zum wiederholten Mal ihren Bruder. Wahrscheinlich bereute sie es längst, dass sie wie üblich auf ihr Handy geglotzt hatte und dadurch das wahre Leben an ihr vorbeigezogen war wie Nebelschwaden, die man nicht aufzuhalten vermochte. Stern hingegen würde gern mal das Thema wechseln. Er rechnete noch immer mit einem spät einsetzenden Schock bei seinem Enkel.
»Er hat mich angestarrt, als wäre ich der Geist und nicht er«, sagte Tobias mit monotoner Stimme, um es spannender für seine Schwester zu machen. Sein Körper war jedoch derart vollgepumpt mit Adrenalin, dass es ihm offensichtlich schwerfiel, ruhig zu sitzen. Er rutschte auf dem Stuhl hin und her und wusste nicht, wohin mit den Händen. Er war ständig in Bewegung. »Er hatte die Augen so weit aufgerissen.« Tobias deutete die Größe der angesprochenen Organe an und versuchte, den Blick des Opfers zu imitieren. Dabei formte er den Mund zu einem entsetzten »Oh« und verharrte derart eine Weile.
»Und du hast ihn dir echt angesehen?« Melanie wollte nicht glauben, was ihr Bruder ihr erzählte. Es war nicht zu erkennen, ob sie Bewunderung für ihn hegte oder Abscheu, weil er sich dermaßen für den abgetrennten Kopf eines Menschen begeisterte.
»Ja, hab ich.« Tobias strahlte.
»Du bist echt krank!«, stieß Melanie angewidert aus, lachte aber.
Das Eis wurde serviert und Tobias rammte seinen Löffel so brutal in die oberste Eiskugel, dass Stern Angst bekam, der Junge könnte vielleicht doch einen Schaden durch die Sache erlitten haben. Dann würden keine Zwerge mehr helfen, kein Drachenzug und ebenso keine Märchen. Melanie pickte zuerst die Obststücke aus ihrer Schale und Stern schlürfte seinen Eiskaffee mit dem Strohhalm, ohne die Kinder aus den Augen zu lassen.
»Wenn ich das meinen Freunden erzähle …«
»Oh, oh, oh, warte!« Stern hätte sich fast am Eiskaffee verschluckt. »Du darfst niemandem davon erzählen. Das ist Teil einer laufenden Ermittlung …«
»Aber Opa! Da ist endlich mal was los und ich darf nicht darüber reden? Das kann nicht dein Ernst sein!« Das Adrenalin schien schlagartig aus Tobias’ Körper zu weichen wie die Luft aus einem zerplatzten Luftballon. Der Junge ließ die Schultern hängen und sah seinen Großvater enttäuscht an.
Mist, fluchte Stern innerlich. Wie alle Großeltern ertrug er es nicht, wenn eines seiner Enkelkinder traurig war oder ihm ein Wunsch verwehrt blieb. Natürlich ein vernünftiger Wunsch, wobei die Definition von vernünftig zwischen Großeltern und Eltern noch nicht ausjudiziert war. Weshalb sonst stopften so viele Omas und Opas ihre Enkelkinder mit allerlei Süßigkeiten voll, dass sich die Eltern der Kinder oftmals grün und blau ärgerten? Genauso war es mit den Regeln, die die Eltern zu Hause aufstellten und mühevoll bei den Kindern durchzusetzen versuchten, die aber beim Überschreiten der Schwelle in das Heim der Großeltern außer Kraft traten, als durchschritte man ein Tor in eine andere Welt. Um diesem Schema voll und ganz zu entsprechen, fragte Stern: »Willst du noch ein Eis haben?«
Tobias sank in seinem Stuhl zurück, schob den restlichen Bananensplit von sich und sagte: »Nein, mir ist der Appetit vergangen.« Dann verschränkte er die Arme vor seiner kindlichen Brust und in Sterns fing es augenblicklich zu stechen an. Doch er konnte an der Situation nichts ändern. Es war, wie es war. Es war ein Mordfall.
Im selben Augenblick läutete sein Handy. Stern sah auf das Display: Grünbrecht.
»Stern«, brummte er in das Smartphone.
»Chef, wo stecken Sie so lange?«, drang es vorwurfsvoll aus dem Lautsprecher. »Wir warten auf der Dienststelle auf Sie.«
»Äh … ja, ich bin mit meinen Enkelkindern noch ein Eis essen gegangen«, erklärte Stern mit gedämpfter Stimme.
»Was? Jetzt? Gibt es dafür keinen besseren Zeitpunkt?« Das Unverständnis war Grünbrecht deutlich anzuhören.
Das konnte nur von jemandem kommen, der selber keine Kinder hatte, dachte Stern. Denn natürlich hatte er mit dieser Aktion nur das Wohl der Kids im Auge gehabt. Und natürlich wusste er, dass er als leitender Ermittler in diesem Moment bei seinem Team sein und nicht auf einer sonnendurchfluteten Terrasse eines Cafés am Pöstlingberg sitzen sollte, auch wenn die Sonne noch so wunderbar vom Himmel schien und endlich mal kein Wölkchen am Horizont heraufzog. »Ich komm ja schon«, sagte er.
»Heißt das, wir gehen nicht in die Grottenbahn?«, kam es sogleich vorwurfsvoll von der anderen Seite des Tisches.
»Geht leider nicht, das müssen wir verschieben«, antwortete Stern und schlürfte seinen Eiskaffee zu Ende, allerdings mit weniger Genuss als zuvor, wie er schmerzlich zur Kenntnis nahm. Ebenso drückte die schweigsame Stimmung auf sein Gemüt. Trotzdem aß er auch noch die Reste von Tobias’ Bananensplitt – wäre doch wirklich schade drum – und verlangte anschließend die Rechnung.
»Fahren wir jetzt nach Hause?«, fragte Melanie.
»Wir fahren auf die Dienststelle. Ich hab noch was zu erledigen«, erwiderte Stern. Als er bezahlt hatte, stand er auf und verließ das Café Jindrak. Die Kinder folgten ihm wie Gänseküken ihrer Mutter zum Wagen.
»Können wir nicht doch noch mit Lenzibald fahren?«, bettelte Tobias vor der geöffneten Autotür. Auch wenn die Aussicht, mit seinem Großvater ins Landeskriminalamt fahren zu dürfen, ansonsten Begeisterung bei ihm auslöste, so war das heute nicht der Fall. Lenzibald war nämlich der Name des Drachenzuges am Pöstlingberg. Bei seinen Rundfahrten durch den Wehrturm wurden abwechselnd die Nischen beider Seiten beleuchtet, in denen sich Szenen aus dem Zwergenreich befanden. Bei der letzten Fahrt drang sogar Rauch aus Lenzibalds Nasenlöchern.
»Wir holen das nach, Tobias«, sagte Stern. »Das verspreche ich dir!«
Tobias murrte. Zu oft hatte sein Großvater schon etwas versprochen, es aber nicht gehalten. Einmal war ein aktueller Mordfall schuld daran, ein anderes Mal waren neue Beweise in einem alten Mordfall, die er unbedingt bearbeiten musste, der Grund dafür. Irgendetwas kam Stern immer dazwischen. Enttäuscht kletterte Tobias in den Wagen, schnallte sich an und starrte stumm aus dem Fenster.
Während der Fahrt zur Dienststelle grübelte Stern über die Ereignisse der letzten Stunden nach. Vor allem, wie er es anstellen sollte, gleichzeitig den Mordfall zu bearbeiten und die Kinder seiner Tochter zu hüten. Barbara kam erst morgen Abend aus Graz zurück, so lange musste er auf seine Enkel achtgeben. Das hatte er seiner Tochter versprochen. Er konnte sie nicht anrufen und bitten, dass sie früher kommen sollte. Dann müsste er ihr erklären, warum, und auch, dass er die Kinder mit zum Tatort genommen hatte. Barbara würde ihm die Hölle heißmachen! Bis morgen musste ihm etwas einfallen, um das heute Geschehene vor ihr geheim zu halten. Er würde seine Seele erneut an die Kinder verkaufen müssen. Natürlich hatte er nicht wissen können, dass ausgerechnet an diesem Wochenende jemand einen Mann an den Schienen festband, um ihn vom Zug enthaupten zu lassen. Eine blutige Angelegenheit für die Ermittler, für den Täter hingegen eine wohlüberlegte und saubere Sache. Was mochte das Opfer angestellt haben, dass es in den Augen des Mörders so einen Tod verdiente?
»Opa?«, unterbrach Tobias Sterns Grübeleien.
»Ja?« Der Chefinspektor blickte in den Rückspiegel. Auf der ansonsten so glatten, kindlichen Stirn des Neunjährigen befanden sich zwei tiefe Furchen. Ob der Junge jetzt realisierte, was geschehen war?
»Äh …« Es war Tobias anzusehen, dass ihm die Angelegenheit, die er seinem Großvater mitteilen wollte, unangenehm war.
»Schieß los!«, ermutigte Stern ihn auszusprechen, was ihm auf der Seele brannte.
»Ich muss aufs Klo … Schon wieder«, flüsterte Tobias. Melanie sog neben ihm genervt die Luft ein.
»Wieso bist du nicht im Café gegangen?«, fragte Stern.
»Da hab ich nicht gemusst.«
»Hältst du es noch bis zur Dienststelle aus?«
»Wenn du weiterhin wie eine Schnecke fährst, wahrscheinlich nicht«, warf Melanie ungerührt ein und blickte seitwärts aus dem Fenster, wo die noblen Wohnsiedlungen des Pöstlingberges langsam an ihnen vorüberzogen.
Stern brummte. Dass er nicht gerade als Raser bekannt war, wusste er. Aber wenn seine Enkelin ihn mit einer Schnecke verglich, schmerzte das schon ein wenig. Er stieg aufs Gaspedal und beschleunigte das Tempo auf die erlaubte Höchstgeschwindigkeit. Gleichzeitig hoffte er, dass der Stadtverkehr zu dieser Zeit nicht so dicht war und sich kein Stau gebildet hatte, damit sie es rechtzeitig aufs Landeskriminalamt schafften, bevor Tobias’ Blase platzte.
Nach 15 Minuten stieß Stern die Eingangstür zur Dienststelle auf und zeigte Tobias den Weg zur Toilette. Der Chefinspektor und Melanie warteten davor, bis Tobias sein Geschäft verrichtet hatte, was mindestens genauso lang dauerte wie die Fahrt hierher, dachte Stern und blickte wiederholt auf seine Armbanduhr. Die Kollegen warteten seit geraumer Zeit auf ihn. Gemeinsam wollten sie in einer Dienstbesprechung die weiteren Schritte durchgehen und die Aufgaben unter den Kollegen verteilen. Melanie und Tobias sollten sich derweilen in seinem Büro beschäftigen.
Endlich ging die Tür der Herrentoilette auf.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Stern. Er hatte noch immer Angst, dass sich Spätfolgen des heutigen Tages bei seinem Enkel einstellen könnten.
»Ja, Opa, alles bestens.« Tobias lächelte seinen Großvater an. »Und? Was machen wir jetzt?« Er schien das alles viel zu aufregend zu finden, als dass er die Füße still halten konnte. Den verschobenen Besuch der Grottenbahn hatte er anscheinend vergessen.
»Ich rede mal mit den Kollegen, und ihr beide bleibt so lange in meinem Büro.«
»Darf ich denn nicht mitkommen? Mama hat gesagt, ich soll dir nicht von der Seite weichen«, offenbarte Tobias eine weitere geheime Anweisung der Mutter.
»Damit hat sie nicht gemeint, dass du mir Schritt auf Tritt folgen sollst. Ich muss schließlich mal aufs Klo. Willst du da etwa auch mit?«
»Nein!«, antwortete Tobias entschieden. »Aber …«
»Kein Aber! Ihr beide wartet in meinem Büro auf mich, und damit basta!«
»Dürfen wir wenigstens mit dem Handy spielen?«, fragte Melanie. Gleichzeitig schob Stern sie und ihren Bruder in sein Büro, deutete auf zwei Stühle und räumte ein paar Akten vom Tisch.
»Nur wenn ihr eurer Mutter nichts von dem verratet, was heute passiert ist.« Stern sah darin seine Chance, sich aus seinem Dilemma freizukaufen. Wenn die Kinder dichthielten, brauchte er Barbara gegenüber nicht die geringste Silbe zu erwähnen. Mahnend hob er den Zeigefinger. »Ansonsten konfisziere ich eure Handys.«
»Konfi… was?«, fragte Tobias.
»Beschlagnahmen«, erklärte Melanie ihrem Bruder.
»Und was sollen wir die ganze Zeit in deinem Büro tun? Das wird bestimmt stinklangweilig.« Tobias setzte sich schmollend auf einen Besprechungsstuhl, während Stern seine Hand nach den Mobiltelefonen ausstreckte.
»Schon gut. Wir verraten Mama nichts«, lenkte Melanie ein, die ohne Handy nicht auszukommen schien. In diesem Fall war das für Stern gut und er lächelte.
»Aber …« Tobias wollte aufbegehren, doch seine Schwester brachte ihn mit einem finsteren Blick zum Schweigen.
»Wir müssen sowieso hier warten. Dann tun wir das doch lieber mit unseren Handys, oder?«, erklärte sie Tobias.
Zufrieden über den Deal verließ Stern sein Büro und ging hinüber zu den Gruppeninspektoren. Dort surrte der Drucker und walzte ein Foto nach dem anderen vom Tatort und vom Opfer auf die Druckerablage. Grünbrecht befestigte sie der Reihe nach an der fahrbaren Magnettafel, die Mirscher zwischen ihrem und Kolanskis Schreibtisch gerollt und dort fixiert hatte. Es kam Stern vor, als deutete Mirscher einen Kuss in Richtung Grünbrecht an. Er seufzte. Seit die beiden auch offiziell ein Paar waren, quälten sie ihre Umgebung mit diesen heimlichen Liebesbotschaften. Er hoffte, dass die erste Verliebtheit bald abflaute und sich so dieses Küsschen hier und Küsschen da von selbst reduzierte, ohne dass er etwas sagen musste.
»Okay, was haben wir?«, eröffnete er die Dienstbesprechung.
»Einen toten Mann um die 40, laut Weber«, begann Grünbrecht mit dem Aufzählen der Fakten. »Er wurde von einem Zug überrollt und enthauptet.«
»Ich hab mich die ganze Zeit gefragt, wenn man so mit den Händen und Füßen an den Gleisen festgebunden ist, ob es da nicht möglich wäre, den Kopf einzuziehen und sich so zu krümmen, dass der Kopf dann zwischen den Gleisen steckt. Auf die Hände und Füße kann man ja irgendwie verzichten.« Mirscher verdeutlichte seine Überlegung, indem er körperlich nachzustellen versuchte, was er meinte. Das Ganze sah aus, als übte er für einen Tanz aus Fernost oder für eine japanische Kampfsportart.
»Du meinst, du würdest, anstatt gleich zu sterben, lieber elendig verbluten wollen?«, fragte Kolanski seinen Kollegen, der daraufhin die seltsamen Verrenkungen bleiben ließ.
»Wenn dir beide Hände und Füße gleichzeitig abgetrennt werden, verblutest du innerhalb weniger Minuten«, schloss sich Stern Kolanski an.
»War ja nur eine Idee, ob das überhaupt funktionieren würde«, verteidigte sich Mirscher.
»Die Spurweite der Schienen liegt laut den Österreichischen Bundesbahnen bei 1,4 Metern. Das müsste sich demnach ausgehen«, kam Grünbrecht ihm zu Hilfe.
»Danke, Mara«, bedankte sich Mirscher für ihre Unterstützung, und Stern befürchtete, dass gleich der nächste Kuss durch die Luft geflogen kam. Also redete er rasch weiter.
»Haben wir ihn schon identifiziert?«
»Nein, das könnte schwierig werden. Wir haben nur die linke Hand gefunden, und mit diesem Gesicht«, Mara Grünbrecht heftete ein Foto des Kopfes an die Magnetwand, und alle wussten, was sie meinte, »können wir schlecht von Tür zu Tür gehen und fragen, ob ihn wer kennt.« Aufgrund der Wucht, durch die der Kopf vom Torso abgetrennt und davongeschleudert worden war, war er mehrmals auf den Boden aufgeschlagen. Unzählige Platzwunden und Schrammen machten eine Erkennung unmöglich. Außer dass das Opfer rötliche Haare und grüne Augen hatte, war nicht viel von ihm zu erkennen, was bei einer Identifizierung hilfreich sein könnte.
»Wir müssen also darauf warten, ob die Spurensicherung etwas findet, was uns weiterbringt«, fasste Stern wenig begeistert zusammen.
»Oder die DNA-Analyse liefert ein Ergebnis«, ergänzte Grünbrecht.
Stern nickte. »Durchforstet die Vermisstenanzeigen. Vielleicht ist jemand dabei, der unserem Opfer ähnlich sieht. Ich meine nicht so, sondern … Ach, ihr wisst schon. Hat sich Weber bereits gemeldet?«
»Der hat ja noch nicht einmal die Leiche auf dem Tisch«, warf Mirscher ein. Sterns Ungeduld musste mal wieder gebremst werden.
»Ja, richtig«, brummte der Chefinspektor und beendete die Dienstbesprechung. Er stand auf und ging in sein Büro zurück. Als er dort eintrat, fand er Melanie wie gewohnt mit dem Handy spielend vor, und Tobias saß an dem kleinen Besprechungstisch und malte. Fein, wenigstens etwas schien so zu klappen, wie er sich das vorstellte.
»Was zeichnest du denn Schönes?«, fragte er seinen Enkel im Vorbeigehen.
»Den Waldgeist«, antwortete Tobias. »Damit ich ihn Mama zeigen kann und …« Tobias brach mitten im Satz ab, da ihm offenbar das Versprechen einfiel, das er seinem Großvater gegeben hatte. Demnach durfte er das Bild seiner Mutter gar nicht zeigen.
»Lass mal sehen«, forderte Stern den Neunjährigen auf. Sein Interesse galt weniger dem kindlichen Gemälde, welches Tobias ihm entgegenstreckte, sondern dem Kugelschreiber, den der Junge in der Hand hielt. Von Sterns Schreibtisch stammte dieser nämlich nicht. Zuvor betrachtete er aber den vermeintlichen Waldgeist. Aus einem ovalen Gesicht quollen Augen, die nach oben starrten. Der Mund war aufgerissen und hohl, die Zähne nicht zu sehen, als hätte der einstige Besitzer sie bei dem Unglück verschluckt. Vom Hals her verliefen Blutspritzer bis zum Haaransatz. Er sah wirklich gruselig aus, dieser Waldgeist. Stern seufzte und machte sich erneut Gedanken, ob der Junge wegen dieses Vorfalls nicht vielleicht doch mit einem Psychiater sprechen sollte. Andererseits kannte er Therapien, in denen man Kindern genau solche Zeichnungen anfertigen ließ, um in Erfahrung zu bringen, wie es um ihr Seelenheil bestellt war, ob sie traumatisiert waren oder etwas zu verdrängen versuchten.
»Was sagst du dazu?«, fragte Tobias, kniete sich auf den Stuhl und sah seinem Opa neugierig ins Gesicht.
»Mhhh …«, brummte Stern.
Aus Melanies Kopfhörer drang Musik, die die Szene im Büro des Chefs der Mordgruppe des Landeskriminalamtes Oberösterreich zusätzlich bizarr wirken ließ.
»Sag schon! Wie findest du es?«, blieb Tobias hartnäckig.
»Nicht schlecht, würde ich meinen«, antwortete Stern und deutete auf den Kugelschreiber in Tobias’ rechter Hand. »Von woher hast du den?«
»Ach, gefunden«, winkte der Neunjährige ab.
»Wo hast du ihn gefunden?«
»Irgendwo.«
»Darf ich ihn mir mal ansehen?« Stern hielt Tobias die offene Hand hin, in die der Junge besagten Kugelschreiber legen sollte.
»Er ist gar nichts Besonderes«, sagte Tobias und überreichte das Schreibwerkzeug seinem Großvater. Es war ein edler Schriftzug aufgedruckt: Rechtsanwalt Dr. Jonas Belfuss.
»Denk nach! Wo hast du ihn gefunden?«
Tobias sank in den Stuhl zurück. »Dort, wo ich mal gemusst hab«, sagte er mit eingezogenem Kopf. Anscheinend war es ihm peinlich, an die Szene neben der Schnellstraße kurz vor Freistadt erinnert zu werden.
»Und der hat dort einfach so gelegen?« Stern besah sich den Kugelschreiber genauer. Das Schreibgerät befand sich in tadellosem Zustand. Der Chefinspektor war sich sicher, dass es sich nicht lange dort befunden haben konnte, wo Tobias es gefunden hatte.
»Ja. Neben ein paar anderen Sachen.«
Stern horchte auf. »Anderen Sachen? Welche anderen Sachen?«
Tobias kramte in seiner Hosentasche und fischte ein Feuerzeug heraus. »Das hier«, sagte er und hielt es Stern hin.
»Rechtsanwalt Dr. Jonas Belfuss«, las Stern laut. »Sonst noch etwas?«
»Ein Aktenkoffer, ein Taschenrechner, Papierkram und ein Handy.«
Stern schnappte seinen Enkel an beiden Ellbogen und zog ihn hoch. »Ein Handy?«
Tobias nickte.
»Wieso hast du nichts gesagt?«
»Hab ich doch. Doch du hast gemeint, dass für den Müll jemand anderer zuständig ist. Außerdem hab ich gedacht, dass du eh schon sauer genug bist, weil du anhalten musstest und wir so spät zum Tatort kommen«, antwortete Tobias ängstlich. Er wollte keinen Ärger haben.
Auch dass sie spät dran gewesen waren, hatte der Junge mitbekommen, dachte Stern und ärgerte sich über sich selbst. Er nahm sich vor, in Zukunft achtsamer zu sein mit dem, was er in Gegenwart der Kinder äußerte. Vor allem der Neunjährige schnappte gierig alles auf. Melanie hingegen steckte ihre Nase nur in die Angelegenheiten fremder Menschen in den sozialen Netzwerken und ließ sich von Musik berieseln, wie in diesem Augenblick. Von ihr ging keinerlei Gefahr aus. Neben ihr konnte er sagen, was er wollte. Sie bekäme es erst mit, wenn der Akku ihres Smartphones leer war. Deshalb fuhr sie erschrocken hoch, als er sie an der Schulter antippte und zur Tür deutete.
»Was ist?«, fragte sie und zog an dem Kabel, an dessen Enden die Kopfhörer montiert waren, die dadurch aus den Ohren flutschten.
»Dein Bruder hat uns bei den Ermittlungen geholfen …«
»Das weiß ich doch längst«, maulte Melanie über die Störung ungehalten und wollte die Kopfhörer erneut in die Ohren stöpseln, als Stern sie an der Hand festhielt.
»Nein, schon wieder«, sagte er und wandte sich Tobias zu, der umgehend zu strahlen anfing. »Vielleicht hast du die Sachen des Toten gefunden. Wir müssen das überprüfen. Wenn wir an irgendetwas von dem, was dort im Gebüsch liegt, seine DNA finden, oder einen Fingerabdruck, dann können wir das mit der Leiche vergleichen und wissen, wer er ist. Möglicherweise dieser Dr. Jonas Belfuss.« Stern klopfte Tobias anerkennend auf die Schulter. »Kommt, Kinder, wir müssen noch mal nach Freistadt fahren. Den Kugelschreiber und das Feuerzeug behalte ich.« Stern steckte beides in eine Plastiktüte. Natürlich waren darauf nun auch Tobias’ und seine Fingerabdrücke zu finden, doch er versprach sich viel von dem Handy, das sein Enkel erwähnt hatte, und das wollte er jetzt holen.
»Was?«, rief Melanie entsetzt. »Kann ich nicht hier bleiben?«
Stern überlegte, was schon passieren konnte, wenn seine zwölfjährige Enkelin im Landeskriminalamt auf ihn wartete. Eigentlich nichts, denn sicherer war sie wahrscheinlich nirgendwo, nicht einmal in seiner Obhut.
»Okay, aber mach keinen Unsinn!« Stern drohte ihr mit erhobenem Zeigefinger, der unterstreichen sollte, dass es ihm wirklich ernst war. Melanie nickte und stöpselte die Kopfhörer wieder in die Ohren. Damit war das Gespräch beendet.
»Mädchen«, meinte Tobias achselzuckend, was Stern ein Schmunzeln entlockte. Er hielt seinem Enkel die Tür auf und bugsierte ihn in das Büro der Gruppeninspektoren Grünbrecht, Mirscher und Kolanski nebenan.
»Tobias und ich fahren noch mal nach Freistadt. Möglicherweise finden wir dort etwas, das uns bei der Identifizierung des Opfers weiterhilft.«
»Wir haben zwischenzeitlich ein rekonstruiertes Foto von ihm, wie er vor dem Mord ausgesehen haben könnte, an die Presse gegeben. Vielleicht erkennt ihn ja doch jemand«, meinte Mara Grünbrecht.
»Das passt schon. Irgendetwas führt uns zum Ziel, und doppelt hält bekanntlich besser.« Mit diesen Worten schob Stern seinen Enkel in den Flur, nahm ihn an der Hand und ging mit ihm nach draußen auf den Parkplatz, wo der Audi parkte.
»Wenn wir im Wilden Westen wären, bei den Cowboys und Indianern, bekäme ich bestimmt einen Hilfssheriff-Stern von dir, stimmt’s, Opa?« Tobias deutete auf seine Brust, wo in den Filmen der Blechstern angeheftet wurde.
»Ja, den bekämst du. Und wenn wir tatsächlich das finden, was ich vermute, dann verspreche ich dir, bekommst du wirklich so einen Stern.«
»Yeah!« Tobias hüpfte wie ein Gummiball neben Stern auf und ab. Der Chefinspektor hatte Mühe, den kleinen Rabauken nicht loszulassen. Der Junge sprang auf die Rücksitzbank von Sterns Wagen, setzte sich auf die Sitzerhöhung und legte den Gurt an. »Dieses Mal musst du aber schneller fahren«, verlangte er von seinem Großvater.
»Musst du noch auf die Toilette?«, fragte Stern, bevor er den Motor startete.
»Nein!«, rief Tobias mit vor Aufregung geröteten Wangen. »Los! Sattle die Pferde!«
Stern blickte in den Rückspiegel und lachte. Sein Enkel hielt sich am Beifahrersitz fest, den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt und die Füße gespreizt, als würde er auf dem Rücken eines Pferdes sitzen und Zügel in der Hand halten.
»Pass auf! Du hast gleich 190 Pferde unterm Hintern.« Stern startete den Motor und ließ den Audi vom Parkplatz des Landeskriminalamtes rollen.
»Hüüü!«, rief Tobias übermütig. Doch sein Eifer legte sich bereits nach wenigen Kilometern. Trotz der 190 Pferdestärken unter der Motorhaube des Audis lag die Geschwindigkeit, mit der sie aus Linz hinausfuhren, stets mindestens 20 Stundenkilometer unter der erlaubten Höchstgeschwindigkeit. Als sie an der fraglichen Stelle auf der S10 kurz vor Freistadt ankamen, war Tobias längst eingeschlafen.