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3. Kapitel

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Chefinspektor Oskar Stern kletterte an jener Stelle über die Leitplanke der S10, wo am Vormittag Tobias ein stilles Örtchen gesucht und auch gefunden hatte – aber anscheinend nicht nur das. Die Aktentasche samt Inhalt, auf die der Neunjährige gestoßen war, könnte nach Sterns sechstem Sinn dem kopflosen Opfer gehören. Wie sie allerdings in das Gebüsch gekommen war, war Stern ein Rätsel. Vor allem, wer sie dort abgelegt hatte und weshalb, wollte ihm nicht richtig in den Sinn.

Stern folgte dem Weg, wie er ihn im Gedächtnis hatte, dass Tobias ihn genommen hatte, und achtete auf den Boden. Schließlich wollte er nicht in die Hinterlassenschaft seines Enkels treten. Bei den Büschen knapp 20 Meter hinter der Leitplanke wurde er fündig. Dort lag tatsächlich ein schwarzer Aktenkoffer. Er war aufgeklappt, deshalb hatte Tobias den Kugelschreiber und das Feuerzeug an sich nehmen können. Daneben befanden sich ein Handy und ein Notizblock, die wohl beim Aufprall des Koffers auf dem Boden herausgeschleudert worden waren. Stern trat näher, bückte sich und suchte in seiner Jacke nach einem Taschentuch. Damit legte er die herausgefallenen Gegenstände zurück in den Koffer, verschloss ihn und wickelte das Papiertuch um den Bügel, damit er ihn anfassen konnte. Abschließend ließ er den Blick umherschweifen, ob noch etwas am Boden lag, was von Interesse sein könnte. Aber zwischen Plastikflaschen und Fast-Food-Verpackungen fiel ihm nichts mehr ins Auge, was mit dem Fall zu tun haben könnte. Er trat einen Schritt zur Seite und wollte zum Wagen gehen, als ihn ein matschiges Geräusch erstarren ließ. Er richtete die Augen zu Boden, hin zu seinen sündhaft teuren Kalbslederschuhen.

»Scheiße!«, fluchte Stern, was in diesem Fall buchstäblich zutraf. Mit seinem rechten Fuß war er in eine Wurst aus Exkrementen getreten, die nur zum Teil mit braungefärbten Taschentüchern bedeckt gewesen war. Er hob das Bein und betrachtete die Misere. Die Taschentücher klebten samt Kotrückständen an seiner Sohle. Stern versuchte, alles im Gras abzuwischen, wurde aber trotzdem das Gefühl nicht los, dass zumindest ein Rest davon haften blieb, sosehr er sich auch bemühte. Er schlurfte wie jemand, der ein verletztes Bein hinter sich her schleifte, zum Pannenstreifen, überstieg die Leitplanke und öffnete den Kofferraum. Leise, wie er hoffte, um Tobias nicht zu wecken. Aus einem Karton entnahm er zwei Handschuhe, streifte sie über und untersuchte den Aktenkoffer, den er bereits nach einer Minute als Eigentum des Mannes identifizierte, dem ebenso der Kugelschreiber und das Feuerzeug gehörten: Dr. Jonas Belfuss. Mehrere Briefe und Gerichtsakten steckten in der Aktentasche, das Handy, von dem Tobias erzählt hatte, Kopfhörer, mehrere Plastikkugelschreiber, die der Anwalt anscheinend als Werbegeschenke verteilt hatte, und Visitenkarten. Auf denen stand, dass der Besitzer Dr. Jonas Belfuss hieß, Rechtsanwalt für Strafrecht, insbesondere für Scheidungen, war und in der Sonnbergstraße in Freistadt eine Kanzlei hatte. Wenn jetzt noch die DNA, die entweder am Handy durch Hautschuppen oder auf den Kopfhörern durch Ohrenschmalz zu finden war, mit jener der kopflosen Leiche übereinstimmte, kannten sie die Identität des Opfers.

Zufrieden legte Stern die Aktentasche in den Kofferraum, zog die Handschuhe aus, warf sie hinterher und knallte den Kofferraumdeckel zu. Erst dann fiel ihm wieder ein, dass Tobias noch immer auf der Rücksitzbank schlief … oder geschlafen hatte.

»Opa?«, hörte er die Stimme seines Enkels auch schon.

»Ich bin hier.« Stern öffnete die Fahrertür.

»Du hast mich gar nicht geweckt«, sagte Tobias beleidigt, als er mitbekam, dass alles längst vorüber war.

»Ich dachte … du würdest …« Stern brach ab. Dass sein Enkel bei der Suche gern dabei gewesen wäre, war ihm natürlich klar. Aber da hätte er möglicherweise Spuren vernichtet, deshalb war es Stern gelegen gekommen, dass Tobias geschlafen hatte. »Weißt du was? Du bekommst trotzdem einen Sheriffstern, schließlich hast du mich auf diese Spur gebracht. Ich hab den Aktenkoffer schon geholt, und er scheint wertvolle Hinweis zu enthalten«, sagte er stattdessen.

»In echt?« Tobias schien das Ablenkungsmanöver nicht zu durchschauen, und wenn doch, war ein Sheriffstern als Entschädigung für ihn wahrscheinlich mehr als genug.

»Echt.« Stern ließ sich auf den Fahrersitz fallen.

»Versprichst du mir das mit dem Stern?« Tobias hatte sich abgeschnallt, quetschte sich durch den Spalt zwischen den Vordersitzen und streckte seinem Großvater die Hand entgegen.

»Ich verspreche es.« Stern schlug ein und staunte wieder einmal darüber, wie er sich von einem Kind zu derartigen Aussagen überreden ließ. Wo sollte er in Österreich einen echten Sheriffstern auftreiben? Österreich war nun wirklich alles andere als der Wilde Westen. Wenngleich ihn jetzt, wo er darüber nachdachte, auch die Tötungsmethode – Anseilen auf Schienen, Enthaupten und Gliedmaßen entfernen – ein wenig an diese Epoche im 19. Jahrhundert westlich des Mississippis erinnerte.

»Was ist in dem Aktenkoffer?«, wollte Tobias wissen.

»Ach, lauter so Anwaltskram. Den sollen sich meine Kollegen genauer ansehen.«

»Was ist ein Anwalt?«

»Ein Anwalt ist einer, der dich vor Gericht vertritt und dafür sorgt, dass du zu deinem Recht kommst«, antwortete Stern, betätigte den Blinker und reihte sich in den Verkehr ein, wohl wissend, dass diese Erklärung nur zum Teil zutraf. Manche Anwälte waren weitaus mehr damit beschäftigt, die Wahrheit unter den Teppich zu kehren und ihre Mandanten so schadfrei wie möglich zu halten, wenn diese gegen das Gesetz verstoßen hatten. Darüber konnte er aufgrund seines Jobs genügend Zeugnis ablegen.

*

Als Stern und Tobias wieder im Landeskriminalamt ankamen, fand der Chefinspektor sein Büro verwaist vor. Melanie? Wohin war die Zwölfjährige verschwunden? Panik keimte in ihm auf.

»Du wartest hier«, sagte er zu Tobias und eilte über den Flur zum Büro seiner Kollegen. Auf halbem Weg machte er kehrt, kam zurück, packte Tobias an der Hand und schleifte ihn hinter sich her. Nicht, dass der Junge ihm auch noch verloren ging. Im Büro der Kollegen saßen nur Mirscher und Kolanski und starrten auf ihre Bildschirme. »Habt ihr Melanie gesehen?«

Die Beamten verneinten.

»Wo ist Grünbrecht? Vielleicht weiß sie, wo …« Stern machte ein paar unbeholfene Gesten, die ausdrücken sollten, was er nicht aussprechen wollte. Nämlich, dass er nicht wusste, wo sich die Schutzbefohlene befand, die unter seine Obhut gestellt worden war.

»Keine Ahnung, wo Grünbrecht steckt. Vor einer halben Stunde war sie noch da«, antwortete Kolanski, der die Vermisstenanzeigen durchackerte.

»Hier!« Stern stellte den Aktenkoffer auf Mirschers Schreibtisch. »Den haben Tobias und ich gefunden. Wenn wir Glück haben, gehört er unserem Opfer und wir wissen endlich, wer er ist. Lasst ihn und den Inhalt von der Spurensicherung auf Fingerabdrücke und DNA-Spuren untersuchen.«

»Ja, Chef«, sagte Mirscher, stand auf und schickte sich an, mit dem Koffer das Büro zu verlassen.

»Und du weißt sicher nicht, wo Grünbrecht ist?« Stern hielt seinen Kollegen am Arm zurück und sah ihn eindringlich an. Schließlich waren die beiden miteinander verlobt, da könnte man doch meinen, dass er wüsste …

»Nein, Chef. Ich spioniere ihr nicht hinterher. Aber ich kann sie für dich anrufen, wenn du möchtest.«

»Danke, das mach ich schon selber.« Stern zog sein Handy aus der Jackentasche und wählte Grünbrechts Nummer. Nach nur zweimaligem Läuten hob die Gruppeninspektorin ab.

»Grünbrecht, wo stecken Sie?«, fragte Stern ohne Begrüßungsfloskel.

»Die Frage sollte wohl eher lauten, wo Sie stecken«, parierte Grünbrecht eine Spur zu scharf.

»Ich? Wieso?« Stern verfiel sofort in Verteidigungshaltung, obwohl er Grünbrechts Vorgesetzter war. Aber er spürte, dass er gut daran tat, seine Kollegin nicht zu reizen.

»Weil Sie ein Kind in Ihrem Büro über mehrere Stunden alleine gelassen haben«, klärte Grünbrecht ihn über den Grund ihrer Verstimmung auf.

»Melanie ist bei Ihnen?«, kombinierte Stern das Fehlen seiner Enkelin mit dem angriffslustigen Gehabe der Kollegin.

»Ja, wir essen gerade Pizza. Verhungern hätten Sie sie nämlich auch noch lassen. Stimmt es, dass die Kids heute lediglich ein Eis zum …«

»Danke, Grünbrecht. Wo seid ihr? Ich und Tobias kommen zu euch«, unterbrach Stern die Kollegin, bevor ihr noch mehr einfiel, was sie ihm vorwerfen konnte. Trotzdem war Stern erleichtert. Er hatte schon gedacht, dass Melanie aus Zorn oder Verdruss abgehauen sein könnte. Wäre ja nicht das erste Mal, dass Kindern in diesem Alter so etwas einfiel und sie es für eine gute Idee hielten, um den Erwachsenen zu zeigen, was sie alles draufhatten. Und der heutige Tag war wirklich nicht sehr angenehm für seine Enkelin verlaufen.

»In der Monte Verde in Urfahr, Hauptstraße. Wir warten«, kam es knapp aus dem Hörer, bevor die Verbindung unterbrochen wurde.

Stern sog die Luft ein. Mara Grünbrecht war anscheinend stinksauer auf ihn.

»Alles okay, Opa?«, fragte Tobias.

»Alles okay. Wir gehen jetzt Pizza essen«, antwortete Stern und drückte die Hand seines Enkels.

Etwa eine halbe Stunde später, nachdem sich Stern und Tobias durch den Abendverkehr auf der Unteren Donaulände und der Nibelungenbrücke gequält hatten, parkte Stern den Wagen in der Hauptstraße in Urfahr nahe der Pizzeria Monte Verde. Tobias sprang von der Rücksitzbank, knallte die Autotür zu und lief in Richtung des Lokaleingangs davon. Er liebte Pizza, das wusste der Chefinspektor. Alle Kinder mochten Pizza. Stern hingegen wäre ein saftiger Schweinsbraten mit Semmelknödel lieber. Dabei dachte er an die Brücklwirtin in Liebenau. Ihr Schweinsbraten war der beste, den er jemals gegessen hatte. Er hatte Maria Brückl bei einem Mordfall kennen und schätzen gelernt, vor allem ihre gutbürgerliche Küche. Vielleicht sollte er mit den Kindern mal einen Ausflug dorthin machen.

Stern und Tobias betraten das Monte Verde. Das Lokal war nicht besonders groß und seit dem letzten Umbau mehr als gut besucht. Der Chefinspektor hielt in dem länglichen Gastraum Ausschau nach Mara Grünbrecht und seiner Enkelin. Weiter hinten entdeckte er die beiden und steuerte auf sie zu.

»Grüß euch.« Stern blieb neben dem Tisch stehen und versuchte, die Stimmungslage zu erkunden.

»Hallo, Opa«, grüßte Melanie gutgelaunt. Sie war schon mal nicht das Problem. Es schien ihr gutzugehen, und ihr dürfte auch die Gesellschaft von Grünbrecht gefallen. Sterns Blick wanderte hinüber zu seiner Kollegin. Die nickte ihm zwar zu, sagte jedoch nichts.

»Habt ihr bereits gegessen?«, fragte er und zog für Tobias einen Stuhl zurecht. Der setzte sich und lächelte Mara Grünbrecht an. Tobias mochte die Gruppeninspektorin. Sie hatte ihn vor nicht allzu langer Zeit mit Blaulicht und Sirene zur Schule gefahren, wo ihm die Aufmerksamkeit der anderen Kinder gewiss gewesen war – ein Highlight im Leben des Neunjährigen, von dem er gerne erzählte.

»Ja, haben wir«, antwortete Melanie. »Wo seid ihr denn so lange gewesen? Wenn Mara mich nicht gerettet hätte, läge ich jetzt tot in deinem Büro, Opa. Ich wäre nämlich beinahe verhungert.« Melanie lachte trotz der ernsten Beschuldigung.

Zu gern wüsste Stern, über was die beiden in seiner Abwesenheit gesprochen hatten. Er hoffte, dass Melanie keine Familiengeheimnisse ausgeplaudert hatte, die Grünbrecht später brühwarm den Kollegen weitererzählte und die er dann bei passender Gelegenheit von ihnen serviert bekäme. Geburtstags- und Weihnachtsfeiern im Kollegenkreis waren dafür berüchtigt, damit auf Lacher-Jagd zu gehen.

»Wir haben neben der S10 einen Aktenkoffer gefunden. Wenn er dem Toten gehört, können wir ihn damit identifizieren«, sagte Stern wie beiläufig, um wieder auf sicheres Terrain zu gelangen.

»Wie, gefunden?« Anscheinend hatte Stern nun Grünbrechts Interesse geweckt, da sie ihr Schweigen brach. Ein Schweigen, das ihn hätte bestrafen sollen, weil sie sich um Melanie hatte kümmern müssen. Oder weil sie ihn als Raben-Opa betrachtete, da er die Kleine allein im Büro gelassen hatte. Doch nach Sterns Meinung war eine Zwölfjährige mit einem Handy alles andere als allein. Sie hätte ihn ja anrufen können, wenn sie das Bedürfnis danach gehabt hätte. Oder wenn sie wirklich in Not geraten wäre, hätte sie bloß laut zu rufen brauchen. Das ganze Landeskriminalamt war voller Polizisten.

»Ich hab ihn gefunden, weil ich mal gemusst hab«, platzte Tobias heraus.

»Tobias!«, rügte Melanie ihren Bruder. Sie empfand es in Gegenwart einer Außenstehenden als peinlich, über die Bedürfnisse des Körpers zu sprechen.

»Du hast was gemusst?«, hakte Grünbrecht nach. Da sie noch keine Kinder hatte, verzieh ihr Stern die lange Leitung, auf der sie anscheinend stand.

»Pipi und …«

»Tobias!«, riefen Stern und Melanie im Chor. Schließlich befanden sie sich in einer Pizzeria, und die anderen Gäste am Nachbartisch schauten schon, da der Neunjährige nicht gerade leise redete.

»Oh! Klar.« Grünbrecht überging die Peinlichkeit und sah Tobias an. Stern hingegen würdigte sie keines Blickes. Sie redete nur mit dem Jungen. »Echt toll, dass du den Aktenkoffer gefunden hast! Und wo war das?«

»Neben der Schnellstraße«, erzählte Tobias bereitwillig. »Opa hat mich über die Leitplanke klettern lassen, und da bin ich dann hinter das Gebüsch, und dort ist er dann gelegen. Ich hab nur einen Kugelschreiber und das Feuerzeug mitgenommen, und weil wir schon so spät dran gewesen sind, hab ich dann vergessen, Opa davon zu erzählen, was sonst noch so alles dort rumgelegen hat. Außerdem ist Opa nicht für den Müll anderer Leute zuständig. Erst in seinem Büro hat Opa den Kugelschreiber gesehen und von mir wissen wollen, wo ich den herhab, und ich hab es ihm dann erzählt.« Tobias streckte die Hände von sich, als läge der Rest klar auf der Hand. Das tat er auch, trotzdem ergänzte Stern: »Wir sind noch mal hingefahren und haben den Koffer geholt. Die Kollegen untersuchen ihn gerade auf Fingerabdrücke und DNA-Spuren.«

»Aber wieso liegt der Koffer des Toten – wir nehmen jetzt mal an, dass er tatsächlich unserem Opfer gehört –, also warum liegt der Koffer in Fahrtrichtung Freistadt und nicht in der entgegengesetzten Richtung?«, flüsterte Mara Grünbrecht Stern zu, weil es ihr unangenehm war, neben den Kindern offen über den Fall zu sprechen. Außerdem schien sie vergessen zu haben, dass sie sauer auf ihn war und nicht mit ihm reden wollte. »Wenn der Täter ihn mitgenommen hat, um die Identität des Opfers zu verschleiern, und er ihn aus dem Wagen geworfen hat, müsste er dann nicht in Fahrtrichtung Linz liegen?«

»Daran habe ich auch schon gedacht«, antwortete Stern genauso leise und sah, dass seine Enkel wieder mit ihren Handys beschäftigt waren. Dieses Mal wollte er sie deswegen nicht rügen. Er war froh, weil Grünbrecht und er dadurch den Fall diskutieren konnten. »Vielleicht ist der Täter noch einmal zurückgekehrt und wollte sehen, wie der Zug die Angelegenheit für ihn erledigt hat. Vielleicht hat er aber auch bloß seine Meinung geändert und zusehen wollen. Oder er hat etwas am Tatort vergessen und musste deshalb zurück.«

»Dafür gibt es viele Möglichkeiten.« Grünbrecht nippte nachdenklich an ihrem Mineralwasser.

Der Kellner kam und fragte nach Sterns Wünschen. »Eine Salamipizza für den jungen Sheriff und für mich bitte eine, auf der von allem etwas drauf ist. Außer Gemüse. Und ein Bier, bitte. Tobias, was magst du trinken?«

Der Junge sah nicht einmal von seinem Handy auf. »Eine Cola.«

»Und eine Cola, bitte«, wiederholte Stern.

»Mama erlaubt nicht, dass wir Cola trinken«, mischte sich Melanie ein. Stern blickte auf das Glas seiner Enkelin, in dem eine einsame Zitronenscheibe am Boden austrocknete, und sagte: »Heute schon!«

»Dann will ich auch eine Cola haben!« Melanie lächelte ihren Großvater erwartungsvoll an. Der hob die Hand und deutete mit zwei ausgestreckten Fingern in Richtung des Kellners: »Zwei Cola, bitte.«

Die Kinder grinsten einander an. So schlecht war es beim Opa gar nicht, schienen sie zu denken, und dasselbe dachte auch Stern. Mit sich und der Welt zufrieden wandte er sich wieder Grünbrecht zu.

»Nehmen wir mal an, dass der Koffer unserem Toten gehört hat, einem gewissen Dr. Jonas Belfuss, Rechtsanwalt in Freistadt, dann sollten wir zuerst seine aktuellen Fälle durchgehen, ob jemand Grund zur Rache gehabt hat.«

»Und natürlich sehen wir uns das familiäre Umfeld an. Bei der Mehrzahl aller Verbrechen handelt es sich um Beziehungstaten«, ergänzte Grünbrecht.

»Also, die Ehefrau möchte ich sehen, die ihren Mann auf diese Weise tötet. Frauen greifen doch eher zu ›sauberen‹ Methoden wie Gift zum Beispiel, als dass sie so ein Blutbad anrichten.«

»Frauen töten vielleicht anders …« Das Erscheinen des Kellners ließ Grünbrecht mitten im Satz innehalten. Der Kellner servierte die Pizzen für Stern und Tobias und verschwand wieder. Stern, der erst jetzt bemerkte, wie hungrig er war, schnitt ein großes Stück ab und steckte es sich in den Mund. Grünbrecht nutzte die Gelegenheit, um ihre Gedanken loszuwerden. »Auf alle Fälle ist es ein Verbrechen aus Leidenschaft gewesen. Oder Rache. Der Täter wollte, dass das Opfer leidet, bevor es stirbt. Zwar sollte es keine körperlichen Qualen erleiden, aber seelische.«

»Da haben Sie recht«, schmatzte Stern.

»Opa hat gesagt, ich bekomme einen Sheriffstern«, unterbrach Tobias das Gespräch der Erwachsenen und sah freudestrahlend von einem zum anderen.

»Toll«, meinte Grünbrecht und nahm einen Schluck Mineralwasser aus ihrem Glas. »Also bist du unser Hilfssheriff, verstehe ich das richtig?«

Tobias lachte. »Na klar!«

»Und du? Was machst du?«, fragte Grünbrecht Melanie.

»Ich interessiere mich nicht für die Toten«, antwortete die Zwölfjährige und legte ihr Handy beiseite. »Ich möchte mal in der Werbung oder in einem Zoo arbeiten. Ich weiß es noch nicht so genau.«

»Melanie liebt Meerschweinchen, aber Mama kauft ihr keines«, platzte Tobias mit vollem Mund heraus. »Sie sagt, das Meerschweinchen würde bei Melanie elendig verhungern.«

»Würde es nicht!«, fauchte Melanie.

»Würde es doch.« Tobias steckte sich ein weiteres Stück Pizza in den Mund und freute sich, dass es ihm gelungen war, seine Schwester zu necken.

»Du bist gemein«, zischte die ihm zu, bevor Grünbrecht eingriff, was eigentlich Sterns Sache gewesen wäre. Doch der hatte den Mund voll.

»Streitet euch nicht! So ein Haustier ist eine coole Sache. Ich hab einen Kanarienvogel gehabt, als ich in eurem Alter gewesen bin.«

»Echt?« Melanies Augen leuchteten und Grünbrecht nickte.

Indessen hatte Stern seinen Teller leer gegessen und machte sich über die Reste von Tobias’ Pizza her, was ihm einen prüfenden Blick von Grünbrecht im Hinblick auf seine Leibesfülle einbrachte, die zugegeben ein bisschen zu ausladend war. Doch davon ließ sich Stern nicht beirren. Während die Gruppeninspektorin die Vorzüge der Haltung eines Kanarienvogels gegenüber der eines Meerschweinchens erläuterte, aß er zu Ende und spülte mit dem letzten Schluck Bier den Mund aus. Dann warf er einen Blick auf die Armbanduhr. Es war bereits nach acht. »Es ist ein langer Tag gewesen. Die Kinder müssen ins Bett.«

Grünbrecht kramte in ihrer Tasche nach der Geldbörse.

»Lassen Sie mal, ich übernehme das«, sagte Stern. »Das ist das Mindeste, wo Sie sich doch um Melanie gekümmert und sie vor dem sicheren Hungertod gerettet haben.«

»Danke.« Grünbrechts Blick war nun freundlicher. Sie war auch nicht mehr so schlecht gelaunt wie vorhin, als Stern und sein Enkel die Pizzeria betreten hatten.

»Nein, ich habe zu danken.« Stern war tatsächlich froh, dass er sich auf seine junge Kollegin verlassen konnte, selbst bei Angelegenheiten, die nichts mit einem Fall zu tun hatten, wie die Situation mit Melanie bewies. Der Chefinspektor zahlte die Zeche. Gemeinsam verließen sie das Monte Verde, nicht ahnend, dass der nächste Tag, also der Sonntag, im wahrsten Sinne des Wortes ein Tag werden würde, an dem man Gott gut gebrauchen konnte.

Mühlviertler Rache

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