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1 Soft Power

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Berlin, am frühen Abend des 9. November 1989. Der deutsche Schicksalstag. Das Wetter ist regnerisch und kühl. Ein paar Redakteure der linken taz, der tageszeitung, sitzen im Café Adler am Checkpoint Charlie, wo damals noch das Redaktionshaus lag. Das Café in dem gelben Altbau, nur wenige Meter von der Mauer entfernt, war das Stammlokal vieler Redakteure. Arno Widmann ist einer davon. Widmann liest gerade ein Manuskript, als Georgia Tornow, die taz-Chefredakteurin, aufgeregt an seinen Tisch tritt. Sie habe einen Anruf bekommen: Die Mauer werde heute geöffnet. »Du spinnst«, ist Widmanns Antwort. Nein, nein, das sei wahr, besteht Tornow – gerade lief die berühmte Pressekonferenz mit Günter Schabowski live im Fernsehen, wo der Ost-Berliner SED-Chef erklärt hat, DDR-Bürger dürften in den Westen reisen, und zwar »ab sofort«. Der immer noch ungläubige Widmann steht auf und läuft selbst durch den Checkpoint, bis DDR-Grenzer ihn aufhalten. »Aber die Grenze ist doch offen?«, sagt der taz-ler. »Nur für unsere Leute«, entgegnet der Grenzer.

Widmann ist nicht der einzige Westberliner, der völlig überrascht ist. Sicher, es gab Gerüchte über eine geplante Ausreiseerlaubnis für DDR-Bürger, sogar Gespräche zwischen den Oberen beider Stadthälften. Seit Monaten sind Ostdeutsche über die ungarische Grenze oder die Prager Botschaft in den Westen gekommen. Dazu kam die Niederlage der Sowjetunion in Afghanistan, die Taupolitik von Michael Gorbatschow, bekannt unter den Stichworten Glasnost und Perestroika, die Abkehr von der Breschnew-Doktrin – was den Rückzug der Roten Armee aus Osteuropa vorwegnimmt – und, zuletzt, das Canceling von DDR-Staatschef Erich Honecker, gefolgt vom Rücktritt des Ministerrats und des Politbüros am 8. November. Das waren deutliche Zeichen. Allerdings erst im Rückspiegel.

Mir selbst wird die Lage erstmals im August 1989 bewusst, als ich im Heidelberger Krug am Kreuzberger Chamissoplatz einen Abenteurer treffe, der gerade aus der Sowjetunion gekommen ist und der jedem erklärt, das Land sei völlig am Ende. »Überall sitzen hökernde Russen herum, an den Bahnhöfen und an den Ausfallstraßen und verkaufen alles. Die machen das noch maximal drei Monate.« Ich denke, interessant, einen authentischen Bericht zu hören, aber ein bisschen wird der wohl schon übertreiben.

Von der Wucht der Maueröffnung sind dann sogar die SED-Funktionäre überrascht, die sie angeordnet haben. Und erst recht die westdeutsche Linke, die sich bequem im ewig geteilten Deutschland eingerichtet hatte, wo die Ostdeutschen gleichzeitig die Vorzüge des Sozialismus genießen und für die Sünden der Nazis büßen. Von denen waren manche nun richtig erbost. Detlef zum Winkel vom Kommunistischen Bund etwa, der heute für diverse antideutsche Postillen schreibt, ekelt sich in der Parteizeitung Arbeiterkampf vor den »Zonis«, denen er »gern die Fresse poliert« hätte. Als Willy Brandt – Berlins früherer Bürgermeister, der den Zweiten Weltkrieg in Norwegen im Widerstand verbracht hat – mit Bundeskanzler Helmut Kohl und anderen am Rathaus Schöneberg die deutsche Nationalhymne singt, werden sie dafür von erbosten Westberliner Linken ausgepfiffen.

Kurz darauf warnt der SPD-Linke Oskar Lafontaine vor einer zu raschen Vereinigung (er scheitert krachend als Kanzlerkandidat). Die Grünen sind gespalten. Eine Minderheit hat die Opposition in der DDR unterstützt, jetzt aber finden sich viele von ihnen als Sympathisanten des »Dritten Wegs« wieder, der neuerliche Versuch einer von der BRD unabhängigen DDR mit einem reformierten Sozialismus, ohne Mauer und ohne Stasi, der von Linken, undogmatischen SED-Mitgliedern und einigen Anhängern des Bündnis 90 unterstützt wird, die später mir den Grünen fusionieren.

Auch das scheitert krachend; im Mai 1990 wählen knapp 80 Prozent der DDR-Bürger Parteien, die eine baldigste Wiedervereinigung wollen. Teile der US-Linken denken allerdings heute noch, die DDR sei auf der Suche nach dem Dritten Weg von bösen Kapitalisten gekidnappt worden und den DDR-Bürgern sei es eigentlich ganz gut gegangen. So erzählt der Berlin-Brooklyner Autor Tim Mohr der linken Zeitschrift The Nation noch 2018, in der DDR habe es keinen Mangel an Lebensmitteln gegeben und jeder hatte einen modernen Fernseher und einen Kühlschrank – wer mal in einem HO-Laden war, kann darüber nur den Kopf schütteln.

Dabei war die DDR – wie Wolfgang Gast ein paar Jahre nach der Wende in der taz schrieb – längst pleite und legte eigentlich einen Konkurs auf Kosten des Westens hin. Gast beruft sich auf den Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen. Danach warnten Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit am 27. Oktober 1989 vor den »Konsequenzen der unmittelbar bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit«. Die Stasi-Experten kamen zu dem Schluss, dass die »Aufrechterhaltung einer stabilen Versorgung der Bevölkerung« mit den für den Zeitraum 1991 bis 1995 geplanten Maßnahmen der DDR-Führung »substantiell nicht gesichert« seien.

Die Wiedervereinigung ist die Geburtsstunde der sogenannten Antideutschen, die den Mauerfall als dräuenden Vorboten eines neuen Großdeutschen Reichs begreifen. Aber natürlich kommen die Antideutschen nicht aus dem Nichts. Sie gehen auf kommunistische Uni-Gruppen zurück, vor allem den Kommunistischen Bund, auf eine Tradition aus Hysterie vor dem nächsten Weltkrieg, Deutschlandschlechtfinden, falscher Demut und als Selbsthass getarnte Fremdenfeindlichkeit, allerdings auch auf einen nicht so offensichtlichen US-amerikanischen Einfluss, der letztlich den USA selbst schaden würde.

Als der Checkpoint Charlie aufgeht, werden die GIs in Berlin davon genauso kalt erwischt wie die Kreuzberger Linken, die in Sichtweite der Mauer leben. Dabei ist Amerika (mit Großbritannien und Frankreich) nicht nur Besatzungsmacht in Westberlin, die Halbstadt ist auch der wichtigste Spionageposten der CIA mitten im Roten Meer. Von hier aus hören US-Spione auf dem Teufelsberg den Osten ab und graben mit den britischen Spymastern sogar Tunnel unter der Mauer, um die Sowjets zu bespitzeln.

Aber Amerika begreift sofort die geschichtliche Dimension. Binnen Stunden rollen US-Journalisten und Kamerateams an. Tom Brokaw, der allen Amerikanern bekannte Anchor des Senders NBC, der aus dem Heartland, aus South Dakota stammt, steht samt Mikrofon vor den TV-Kameras am Brandenburger Tor. In einer NBC-Übertragung nennt er die Mauer ein »von Grund auf böses Symbol der Unterdrückung aus Beton«, aber die »tapferen Ostdeutschen« hätten sie zu einem Ausdruck der »Freude und Befreiung« gemacht.

Die US-Regierung unter Präsident George Bush Sr. unterstützt die Vereinigungspläne von Kohl. Bush war Vize von Ronald Reagan, der drei Jahre zuvor Gorbatschow aufgefordert hatte, die Mauer abzureißen; diese Politik setzt Bush fort. Anders das Inselland Großbritannien. Dort wettert die Sunday Times, das Blatt des rechten Medienmoguls Rupert Murdoch, gegen ein »pan-germanisches Viertes Reich«. Premierministerin Margaret Thatcher versucht sogar hinter dem Rücken von Bush, Gorbatschow dazu zu bewegen, sich der Wiedervereinigung in den Weg zu stellen (ausgerechnet die eiserne Lady Thatcher nannte die Deutschen damals »unsensibel gegenüber den Gefühlen anderer«).

Aber nicht alle US-Medien sind emphatisch mit den tapferen Ostdeutschen. Rachel Somerstein, Journalismus-Professorin in New York, hat die US-Presse zum Mauerfall untersucht. »Als die Mauer aufging, waren die meisten Artikel negativ«, sagt sie. »Es wurde vor einem Vierten Reich gewarnt, vor Arbeitslosigkeit, zu den Demos wurden Bilder von der Kristallnacht gezeigt.« Erst zehn Jahre später hätten die US-Medien begonnen, rückblickend auch die positiven Seiten zu beschreiben, die Freude, die Party. »Unsere Presse wusste erst nicht, was das Ereignis bedeutet. Wir hatten das Narrativ noch nicht ausgeformt.« Dann aber hätten die USA die Maueröffnung als einen Sieg für Amerika im Kalten Krieg interpretiert, und das sei in den USA positiv besetzt. So betont die Washington Post, dass es Reagans aggressive Afghanistan-Politik gewesen sei, dank derer die Mauer eingerissen wurde.

Die New York Times, das publizistischen Flaggschiff der Demokraten, hatte damals mit Arthur »Punch« Sulzberger einen eher konservativen Verleger. Sulzberger, der die Times in der dritten Generation führte, war aber durchaus obrigkeitskritisch. Unter seiner Führung hatte das Blatt Anfang der siebziger Jahre die »Pentagon Papers« veröffentlicht, geheime Strategiepapiere, was letztlich das Ende des Vietnamkriegs einleitete. Times-Chefredakteur Abraham Rosenthal sieht Deutschland, vorsichtig gesagt, skeptisch. Er reist nach dem Fall der Mauer nach Berlin und erleidet einen »echten Schock«, als er im Osten ein gänzlich unbekanntes Stadtzentrum mit vielen prächtigen Gebäuden entdeckt. Dies sei, natürlich, der Teil Berlins, den Albert Speer gebaut habe und wo Adolf Hitler gestorben sei.

Wenig überraschend, melden sich bei der Times erst einmal die Reichsbedenkenträger zu Wort und weisen darauf hin, dass Israel Einwände habe. Die DDR habe nie anerkannt, dass sie ebenso die Verantwortung für die Nazis trage wie der Westen Deutschlands, und nie Reparationen bezahlt (erst im April 1990 bat die Volkskammer das »Volk von Israel« um Verzeihung für die »Verfolgung und Entwürdigung jüdischer Mitbürger auch nach 1945 in unserem Land«.), schreibt Joel Brinkley aus Jerusalem. Die israelische Regierung sorge sich auch – so Brinkley – dass eine Versöhnung zwischen Ost und West schlecht für Waffenverkäufe sei und womöglich dazu führe, dass das strategische Interesse der USA an Israel nachlasse. Denn die USA seien die wichtigsten Alliierten Israels gegen die sowjetgestützten arabischen Länder.

Auch Joseph Nye zählt zu den Warnern. Der Harvard-Professor war außenpolitischer Berater mehrerer demokratischer Präsidenten; in seinem langen Berufsleben deckte er die ganze transatlantische Bandbreite ab, von der Trilateral Commission bis zum Council on Foreign Relations. 1990 hat Nye den Begriff Soft Power geprägt, außenpolitische Macht nicht durch Gewehre, Kanonen, Bomben und Drohnen, die Finanzierung von Umstürzlern, Folter und die gelegentliche Entführung nach Guantanamo Bay, sondern durch ein Gesamtkunstwerk aus Popkultur, Filmen und Musik, Ideen und Ideologien mit der Hilfe von Hollywood und den Medien, das via Think Tanks, Universitäten und internationale Institutionen exportiert wird. Im Internet lassen sich Toolkits ergoogeln, Werkzeugkästen, die Argumentationsmunition und Sprachvorschriften für die neueste Cause célèbre liefern, oft hochgeladen von progressiven US-Amerikanern – gerade die fühlen sich berufen, das Gute in die Welt zu tragen, egal, was es die Welt kostet. Wer versucht, die deutsche Nachkriegsgeschichte ohne US-amerikanische Soft Power zu verstehen, dem geht es wie den zweidimensionalen Bewohnern eines Planeten, auf dem ein dreidimensionales Raumschiff landet.

Der Fall der Mauer und das nahende Ende des sowjetischen Imperiums machen Nye besorgt. Das öffne die Tür für das »alte Europa« der tiefen ethnischen und nationalen Antipathien – bereits jetzt drohten Nationalisten in den baltischen Ländern, sich von der Sowjetunion abzuspalten, schreibt er in der Times in einem Duktus, als spreche er für das Politbüro der UdSSR. Nye warnt auch vor der deutschen Vereinigung. Die deutsche Frage stelle sich in Europa, seit Bismarck einen starken Staat geschaffen habe, der sich an zwei Fronten verteidigen könne. Das Problem sei in drei Kriegen – 1870, 1914 und 1939 – nicht gelöst worden, deshalb müsse Deutschland in den Westen eingebunden bleiben und die US-Truppen dürften nicht abziehen.

Auch Anne-Marie Burley hofft, dass der Ostblock erhalten bleibt. Der Fall der Mauer sei keineswegs der erste Schritt zur Wiedervereinigung, schreibt sie in der Times; vielmehr sei dies ein Pokerspiel, wo die DDR-Regierung gerade mit dem Öffnen der Grenze geblufft habe. Als Nächstes werde der neue Staatschef Egon Krenz eine Welle von Flüchtlingen auf den Westen loslassen. Kohl habe dann keine andere Wahl, als die Gesetze so zu ändern, dass DDR-Bürger nicht mehr automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft bekämen (offenbar wusste die promovierte Juristin nicht, dass dies im Grundgesetz verankert ist). Die Ostler hinter der Grenze zu halten und zwei deutsche Staaten dauerhaft zu belassen, würde Frieden, Freiheit und Wohlstand in Europa bewahren.

Burley wird unter dem Namen Anne-Marie Slaughter Karriere als Professorin in Princeton und Harvard machen; 20 Jahre später wird sie als Politikdirektorin und außenpolitische Beraterin von Hillary Clinton deren desaströse Libyen- und Syrienpolitik mitverantworten. Das Bemerkenswerte ist aber, wie sehr sich die Ansichten der Deutschlandexperten von der New York Times mit denen der Antideutschen decken.

Kurz nach der Maueröffnung fordert der bereits in Auflösung begriffene Kommunistische Bund, die »Anerkennung der DDR« durchzusetzen. Die deutsche Einheit sei »unmissverständlich der Versuch, eine Großmacht zu etablieren«. Im Mai 1990 organisiert die »radikale Linke« die Demo »Nie wieder Deutschland!«. Das Bündnis besteht aus russophilen Kommunisten um Hermann Gremliza, dem Chefredakteur von Konkret, den Mao-treuen Ballonmützen vom Kommunistischen Bund und den Ökosozialisten um Rainer Trampert und Thomas Ebermann. Die Wiedervereinigungsgegner identifizieren sich mit Karl Marx, Heinrich Heine und dem Holocaust-Überlebenden Paul Celan; das ist das erste Mal, dass die deutsche Nachkriegslinke so tut, als sei sie jüdisch.

Der Ungeist Hitlers lässt auch die Times-Redaktion nicht zur Ruhe kommen. Wenn schon Wiedervereinigung – etwas, das Bush Sr. nun ganz entschieden betreibt, denn ein von den Sowjets kontrolliertes Ostdeutschland als rote Insel mitten in einem befreiten Europa ist in keinster Weise im geostrategischen Interesse der USA – dann nur vereint zu einem besseren Deutschland. Einem dezentralen, multikulturellen Deutschland, das nach dem Krieg und dem Holocaust dem Militarismus abschwört und Immigranten aufnimmt, unbehelligt von xenophoben Einheimischen, einer kontrollierenden Ausländerbehörde und einer übergriffigen Polizei. Soft Power eben. Von nun an hat die Times ein strenges Auge auf Deutschland, vor allem, was eventuelle militärische Abenteuer angeht. Und das sehen die Antideutschen, die damals noch als Linke selbstidentifizieren, ähnlich.

New York, der Morgen des 11. September 2001. Die Welt steht still, als zwei Boeing 767 nacheinander, im Abstand von einer knappen Stunde, in die beiden Türme des World Trade Center rasen und in einer gewaltigen Feuerwolke aufgehen. Nach den ersten Stunden der Panik, als die Twin Towers zusammenbrechen, Menschen aus den Fenstern springen, giftiger Staub halb Manhattan verdunkelt, die U-Bahn den Betrieb einstellt, die Grenze gesperrt wird, die Flughäfen dichtmachen und George W. Bush das Buch My Pet Goat beiseitelegt und in einen Bunker gebracht wird, fragt sich Amerika erschrocken und verängstigt, wer dahinterstecken könnte.

Auch von dem Anschlag von 9-11 werden die Militärgeheimdienste und die CIA kalt erwischt. Und wie beim Fall der Mauer werden die Warnzeichen erst in den Wochen danach registriert: Berichte aus Afghanistan und Pakistan über den Aufstieg der von Reagan gehätschelten Mujahedin. Der Auftritt des israelischen Premiers Ariel Scharon auf dem Tempelberg, der die zweite Intifada brachte. Das berühmte CIA-Memo Bin Ladin Determined To Strike in US vom August 2001. Bald macht auch das Wort von der »Hamburg Cell« die Runde: sieben Studenten aus Ägypten, dem Jemen und Saudi-Arabien, die in Hamburg studierten, unbehelligt von der deutschen Polizei. Angeführt von Mohammed Atta und Ziad Jarrah, haben sie den Anschlag ausgeheckt. Ein Schock: Nicht nur ahnt in den USA niemand, dass islamistische Attentäter in Deutschland frei miteinander konspirieren können, sondern dass es dort überhaupt Zuwanderer aus dem arabischen Raum gibt.

Nun ist die New York Times empört über so viel deutsche Schlamperei und Laisser-faire. Bei einer der vielen Debatten nach 9-11 in New York City wundert sich ein Politikexperte auf einem Podium, warum sich die deutsche Polizei denn nicht mit dem Verfassungsschutz kurzgeschlossen und die Moscheen überwacht habe? Das sei nicht so einfach, wegen des Datenschutzes und des Föderalismus, wird ihm erklärt. Und: Solle die Bundesregierung denn eine Art geheime staatliche Polizei einrichten, die potenzielle Staatsfeinde überwache? Die Ironie geht an dem Experten vorbei.

Nur Monate später erleidet Amerika einen zweiten Schock: Deutschland unter SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder weigert sich, die geplante US-Invasion des Irak mit Truppen oder einem Votum in den Vereinten Nationen zu unterstützen. Wieder werden die Deutschlandkenner der New York Times kalt überrascht und sie finden den deutschen Antimilitarismus nun gar nicht mehr so herzerwärmend. Erst erklären sie dem deutschen Publikum noch geduldig, dass 9-11 ein großer, nie da gewesener Schock für Amerika sei, da müsse Deutschland mitziehen, ob es wolle oder nicht. Dann wird der Ton drängender, bis die Times Deutschland barsch auffordert, endlich das Richtige zu tun, derweil Kolumnist Tom Friedman sich erst freut, dass der Sturz von Saddam Hussein positive Veränderungen in der arabischen Welt bewirken werde, und dann Deutschland und Frankreich beschimpft, weil die nicht für den Krieg zahlen wollen. Natürlich wollen die USA vor allem Rache für 9-11, aber drapiert in einen internationalen Befreiungsfeldzug und nicht als die US-britische Invasion, die es letztlich wird.

Auch in der Regierung von Bush jr. kommt wenig Sympathien für Deutschland auf. Besonders tut sich Pentagon-Chef Donald Rumsfeld hervor, dessen Familie aus Bremen stammt und der Deutschland (und Frankreich) auf einer Pressekonferenz von Anfang 2003 auf einer Pressekonferenz als Old Europe beschimpft. Er fasse es nicht, was aus dem wehrhaften Vaterland geworden sei. Derweil sammelt sich die deutsche antiimperialistische Linke in mehrfacher Mannschaftsstärke mehr oder weniger vereint hinter Schröder und marschiert mit »Kein Blut für Öl«-Transparenten durch die Innenstädte. Oder ist sie vereint? Nicht ganz.

Es gibt ein wehrhaftes kleines Dorf mitten im deutschen Pazifismus, das Widerstand leistet. Denn dies ist der Moment, wo sich die Antideutschen von linken Imperiumswarnern zu rechten Einmarschbefürwortern wandeln, zur »Rumsfeld-Linken«. Diese Keybord Kommanders wollen die USA und Israel gegen die antisemitische arabische Welt verteidigen; natürlich nicht selbst und nicht mit richtigen Waffen (dafür wären sie ja auch zu alt), sondern mit der Nazikeule, mit der sie die Friedensbewegten überziehen. Und der Über-Antideutsche Bewegung. Gremliza stellt sich an die Spitze der Pro-Irakkriegs-Bewegung.

Mit dem Irakkrieg etablieren sich Antideutsche als die im klassischen leninistischen Sinne nützlichen Idioten des US-Imperialismus, und wichtiger noch: als der lange Arm der Neokonservativen in Deutschland, dem Intrigantenstadl, der hinter dem ewigen Krieg im Mittleren Osten steckt. Neocons sind US-amerikanische Kriegstreiber, die teils auf Trotzkisten, teils auf Liberale zurückgehen – daher das »neo« –, die unter Bush jr. das Pentagon gekapert haben und im Obama-Exil in Israel-nahen Think Tanks untergeschlüpft sind. Dort machen sie heute – flankiert von den Antideutschen – Stimmung gegen den Iran.

Wie ihre amerikanischen Vorbilder, legen die deutschen Epigonen im Lauf der Zeit derartige Verwandlungen hin, dass Woody Allen in seiner Pseudo-Dokumentation Zelig dagegen wie ein Anfänger wirkt: vom Trotzkisten und/oder Maoisten zum Grünen, zum Bush-Fan und zuletzt gelegentlich zum Querfrontler. Und als Deutschland mit Merkels Flüchtlingspolitik letztlich doch den Fallout der Kriege der USA im Nahen Osten abbekommt, driften einige frühere Antideutsche sogar in eine Anti-Immigrantenecke ab, die in den USA von Altright-Mediengründer Steve Bannon oder Proud-Boys-Führer Gavin McInnes besetzt wird.

Die Antideutschen sind der Geist, der stets verneint; umgekehrt allerdings als Mephistopheles ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft. In diesem Buch geht es aber weniger um die faustische deutsche Seele, die Aufarbeitung der Wiedervereinigung, des Irakkrieges oder die doch nicht so richtig gut gelungene Bewältigung der Flüchtlingswelle von 2015. Es geht darum, welchen Einfluss Amerika auf die deutsche Debatte ausübt; Politikprofis und Meinungsbildner, Thinks Tanks und Medien, Soft Power eben, und welchen Rückstoß, Blowback – um den klassischen CIA-Begriff zu benutzen – das in Amerika hatte.

Aus der Vogelperspektive betrachtet sind die Antideutschen eine schrille Politsekte, die an ihrem eigenen Deutschsein leidet. Es ist nicht leicht, sie zu beschreiben. Vom Habitus erinnern sie einen an die marxistischen Gruppen, die in den siebziger Jahren das studentische Univolk so lange genervt haben, bis auch der letzte freiwillig zum Kapitalismus konvertiert ist, oder auch an die Moon-Sekte, nur ohne deren Charme. Sie haben die Macho-Attitüde des schwarzen Blocks, können aber mit Messer und Gabel essen. Sie verehren Amerika, aber mehr so wie Star-Wars-Fans, die versehentlich bei einer Star-Trek-Convention aufkreuzen, verkleidet als todgeweihte Redshirts. Wie die Neocons unterstützen sie die israelische Regierung so vehement, als habe sich der Mossad im Oberstübchen eingenistet. Dabei haben sie sich so weit nach rechts bewegt, dass sie sich mühelos den Evangelikalen in den USA anschließen könnten, die glauben, dass Schwule in die Hölle gehören und Schwarze auf die Plantage, und dass Baby Jesus Donald Trump hilft, über Wasser zu wandeln. Aber das weiß in Deutschland zu deren Glück keiner. Kurt Tucholsky schrieb einmal, »Die Blonden sind ganz umgängliche Menschen. Aber die Dunklen, die gern blond sein möchten …«. Das sind die Antideutschen.

Dieses verschworene Häuflein von Kämpfern gegen das Deutschtum – oder ehemaligen Kämpfern; das wird ja nicht in die Personalakte vermerkt – ist divers, aber klandestin. Ihre mannigfaltigen Sinneswandel werden nur sichtbar, wenn der Schwall in den sozialen Medien die Richtung ändert. Wie bei Maggie Thatcher ist ihr Motto »Bomber Harris do it again« und »Nie wieder Deutschland!« Frühere SED-Sympathisanten sind darunter, Startbahn-West-Gegner, Milošević-Anhänger, linke Grüne und, natürlich, Funktionäre vom Kommunistischen Bund, die Fanorganisation von Mao, also des Staatsführers, dessen Regime die meisten Toten der Weltgeschichte produzierte. Überhaupt glauben die Deutschlandkritiker ja, auf der Seite des Guten zu kämpfen, haben aber leider trotzdem einen Hang, Massenmörder zu lieben, nicht nur Mao und Stalin, sondern etwa auch Napoleon oder Pol Pot. So reiste Hans-Gerhart »Joscha« Schmierer, Gründer des Kommunistischen Bunds Westdeutschland, der später unter Joschka Fischer im Auswärtigen Amt arbeitete, mit einer Delegation des Kommunistischen Bunds Westdeutschland nach Kambodscha, um Pol Pot seine Solidarität zu erklären. Und auch er lief mit Bush in das Lager der Irakkriegsbefürworter über.

Politisch grenzen sich die Antideutschen gegen gewöhnliche Linke ab; gegen Realo-Grüne, Verteidiger von Arbeiterrechten, Straßenkämpfer für ein freies Palästina, klimaschützende Greta-Freunde und Woke, die sich mit schwarzen, transbinären indigenen Lesben identifizieren. Berührungspunkte haben sie mit den Anti-Ostdeutschen, die in Hamburger Redaktionen Panik vor den Sachsen und ihrer komischen Sprache schieben. Ironisch, denn die Hochburg der Antideutschen ist im Leipziger Szeneviertel Connewitz. Sie haben aber nur wenige Gesinnungsgenossen im Ausland. Natürlich gibt es massenhaft Antideutsche in Österreich, England oder Polen, aber aus gänzlich anderen Gründen. Ihre politischen Freunde jenseits der Grenzen stecken meist im rechtskonservativen Lager. Und auch Antideutsche tendieren dazu, Gegner von Black Lives Matter zu sein (antiamerikanisch!) und Feinde der Antikolonialbewegung (anti-israelisch!).

Die Antideutschen sind die Reichsbürger der früheren Linken. Sie glauben, dass die Bundesrepublik nicht existiert oder zumindest von den Seiten der Zeit getilgt werden sollte. Ihr Instinkt gebietet ihnen, alles zu spalten, was wirklich links (und deutsch) ist. Sie haben den Kommunistischen Bund gesprengt, die Grünen untergraben, die Piratenpartei torpediert und sich als fünfte Kolonne der Neocons im Bauch der Linken etabliert. Auch hinter Versuchen, prominente Ostdeutsche wie Wolfgang Thierse aus der SPD zu mobben, steckt eine zutiefst antideutsche Haltung.

Nicht wenige Antideutsche, vor allem die im weltweiten Web wabernden Wortführer, kommen aus Nazi-affiliierten Familien und hatten SS-Offiziere oder hochrangige Nazis als Vorfahren. Nichts erwärmt das Herz ja mehr, als wenn einem die Nachfahren von Nazis erklären, wie wichtig die Kollektivschuld ist. Und bei den meisten Antideutschen hat man das Gefühl, die würden auf Befehl den Hebel in der Gaskammer wieder umlegen oder statt Dresden eben Tel Aviv bombardieren wollen, wenn sich der politische Wind mal dreht und es nicht mehr cool klingt, antideutsche Sprüche abzusondern, sondern antiarabische oder antijüdische.

»Die Antideutschen, das ist ein Kult«, sagt Michael Holmes, ein früherer Antideutscher mit einem amerikanischen Vater. Der Umgang untereinander sei von Wut, Intoleranz und Denkverboten geprägt, interne Kritik werde nicht zugelassen. Eigentlich ähnelten sie der Scientology-Sekte. Sogar unter den Antideutschen selbst fürchteten manche die eigene autoritäre Attitüde. »Eigentlich gibt es gar nicht so viele Antideutsche, aber sie haben viel mehr Einfluss auf die Linke und auf die Mitte der Gesellschaft, als es ihre Zahl nahelegt«, meint Holmes. Antideutsche verteidigten jeden amerikanischen Krieg. »Die lassen überhaupt keine Kritik zu, nicht an Guantanamo Bay, nicht am Folterknast von Abu Ghraib und überhaupt nicht an Israel«, sagt Holmes. Sie hätten einen ganz merkwürdigen Philosemitismus; einige wollten gar zum Judentum übertreten. »Mit solchen Freunden brauchen die Juden keine Feinde mehr.« Die Antideutschen hätten zwar linksradikale Wurzeln und bezögen viele ihrer Lehren aus der Frankfurter Schule, die auf Theodor Adorno zurückgeht. Sie verleugneten dies aber, wenn es ihnen bei der Bündnispolitik nutze. »Aber wenn die jemals richtig Macht bekommen, das wird böse.«

Erste Zweifel bekam Holmes bei einer Demonstration in Berlin während des Jugoslawienkriegs, als Antideutsche Solidarität mit Milošević forderten und dabei von Flüchtlingen aus Bosnien attackiert wurden. Aber so einfach war es nicht, auszusteigen. »Es gab keine offene Gewalt, aber hohen psychischen Druck, ich wurde angeschrieen und beleidigt«, erzählt er. »Und nicht nur ich, auch andere, die anfingen, skeptisch zu werden. Dabei dachte ich, das wären meine Freunde.« Ihm gelang der Ausstieg, und danach hätten auch noch andere die Sekte verlassen. Holmes selbst sieht sich als Linker, aber es stört ihn bei der deutschen Linken, dass die den Antisemitismus als Problem vernachlässigen, weil sich der gegen eine angeblich reiche und mächtige Minderheit richte, sagt er. »Jüdische Freunde in Amerika fragen mich manchmal, warum interessiert sich die deutsche Linke nicht für uns?«

Der inoffizielle Wortführer der Antideutschen war Hermann Gremliza, ehemaliger Spiegel-Autor (und Ghostwriter von Günter Wallraff), der 45 Jahre lang Konkret leitete. Konkret war das Leib- und Magenblatt der westdeutschen studentischen Linken der 68er-Generation. Gegründet wurde Konkret von Klaus-Rainer Röhl, dem Mann der RAF-Terroristin Ulrike Meinhoff (Röhl gehört heute dem nationalliberalen Flügel der FDP an und schreibt für die Preußische Allgemeine). Lange Jahre bekam Konkret für jede Ausgabe 40 000 Westmark aus der DDR; gleichwohl ging das Blatt pleite. Gremliza übernahm es 1974, nachdem er beim Spiegel rausgeflogen war. Er befreite Konkret von seinen bis dato berüchtigten Tittenbildern und drehte es nach seriös-links – gegen Deutschland.

»Ich bin so frei, von dieser Scheißkultur nichts wissen zu wollen«, schrieb er in seinem Buch Haupt- und Nebensätze. »Deutschlands Werte gehen mir allesamt am Arsch vorbei, ich singe keine Hymne, folge keiner Flagge, werde einen Teufel tun, auf das Grundgesetz, diesen Waffenstillstandspakt im Klassenkampf (Rosa Luxemburg) einen Eid abzulegen.« Gremliza war ein lebenslanger Marxist, dessen Vater in der NS-Zeit ein hohes Tier bei Daimler Benz war, aber, wie der Sohn betonte, kein Nazi. So ein glücklicher Zufall! Er trat aus der SPD aus, als deren Bundestagsfraktion am Tag der Maueröffnung mit der CDU, CSU und der FDP im Bundestag aufstand, um das Deutschlandlied zu singen.

Gremliza vereinte, wie viele Antideutsche, seine Abneigung gegen Deutschland mit einer tiefen Liebe zu Israel. Warum diese Kombination überhaupt nützlich für Israel sein soll, bleibt das Geheimnis der Antideutschen; jedenfalls, Putinfans sind nicht auch gleichzeitig Deutschlandhasser, aber das nur am Rande. Die israelsolidarische Linke, die es so nur in Deutschland gebe, sei von Hermann L. Gremliza maßgeblich geprägt worden, schrieb die Jüdische Allgemeine, als er im Dezember 2019 starb. »Sie reicht von den Universitäten, wo prozionistische linke Gruppen an vorderster Front gegen die Israel­boykottbewegung BDS kämpfen, über Medien wie Konkret und Jungle World bis hinein in Bundestagsparteien.« Der astrein arische »Commandante Redundante« (Wiglaf Droste) nahm gerne »jüdische Antisemiten« mit israelischer, deutscher oder US-Staatsbürgerschaft aufs Korn. Wie alle Antideutsche unterstützte er beide Feldzüge beider Bush-Präsidenten gegen den Irak. Er war auch – anders als der ebenfalls antideutsche Donald Trump – strikt gegen den Abzug der US-Truppen auf Deutschland. Damit lag er mit beidem auf der Linie der New York Times.

Nach dem Mauerfall zerlegte sich der Kommunistische Bund selbst. Der pragmatische Teil ging zu den Grünen. Wegen der hohen Durchsetzung der Grünen mit alten Kadern galt es in den Fluren der taz als ausgemacht, dass die CIA sofort intervenieren würde, falls die Grünen jemals über die Fünf-Prozent-Hürde kämen. Aus dem ideologisch orientierten Flügel hingegen entwickelte sich eine pro-israelische, antideutsche Einheitsfront, deren erstes publizistisches Aushängeschild die Zeitschrift Bahamas war.

Viele ältere Grüne, die noch heute politisch aktiv sind, waren im KB. Zu den Realos zählen etwa Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Ralf Fücks, der langjährige Geschäftsführer der Heinrich-Böll-Stiftung, oder auch Jürgen Trittin, der unter Gerhard Schröder Bundesminister war. Bei der Linkspartei ist heute Ulla Jelpke, die die Dämonisierung der Stasi kritisiert und dem Neuen Deutschland sagte, der Begriff Clan-Kriminalität sei »irreführend und diskriminierend«; Razzien gegen arabische Clans trügen dazu bei, die »rassistische Karte« im Sinne der AfD zu spielen. Oder Jürgen Reents, der zuletzt das Neue Deutschland leitete. Aber manche Antideutsche, die die Wanderung durch die Wüste vom KB zu den Grünen mitgemacht haben, sind im rechten Lager gelandet. Darunter sind Justus Wertmüller, Jürgen Elsässer und Matthias Küntzel, früher wissenschaftlicher Mitarbeiter der grünen Bundestagsfraktion.

Küntzel, Wertmüller und Elsässer sind heute vom linken Mainstream so weit entfernt wie der TSV 1860 München von der Tabellenführung der Bundesliga. Wertmüller verteidigte nicht nur den serbischen Staatschef Slobodan Milošević – in einem eher wirren Beitrag für die Jungle World verbot er deutschen Autonomen, Milošević einen Faschisten zu nennen, nicht zuletzt wegen des »österreichisch-deutschen Rambouillets im Jahr 1914«, sondern forderte in einem Vortrag 2010 auch dazu auf, den nicht minder umstrittenen Immigrationsskeptiker Thilo Sarrazin differenziert zu sehen. Heute sieht er sich selbst als »ideologiekritisch«. Das liegt irgendwo zwischen Marx und Engels, mit einem Schuss Feuerbach und einer Prise Weber auf einer Lage Hegel und mit Adorno und Habermas garniert, ist also ziemlich deutsch.

Elsässer, der wie Wertmüller aus der Ecke von Jungle World, Neues Deutschland und Konkret kommt, überwarf sich mit Gremliza über den Irakkrieg. Danach etablierte er sich als Verteidiger des »werktätigen Volks« (mit dem Antideutsche sonst eher nichts am Hut haben) und gründete im Januar 2009 eine »Volksfront gegen das Finanzkapital«. Diese sei, erklärte Elsässer der taz, von »Lafontaine bis Gauweiler« für all jene offen, die »eine große Offensive« gegen den »bewussten Angriff des anglo-amerikanischen Finanzkapitals« starten wollen. Die Zeit nannte ihn »Kreml-Propagandisten«. Für die amerikanische Zeitschrift The Atlantic allerdings war die Karriere vom Neues-Deutschland-Autor zum Putinfreund nur logisch. »Er ist ein Apparatschik, dessen Loyalität wahrscheinlich immer bei Moskau lag«, schreibt Mike Lofgren, ein früherer Mitarbeiter des US-Kongresses. Hingegen verbitten sich die bei der Fahne gebliebenen Antideutschen nicht nur Kritik an Amerika, sondern auch an US-Banken, da dies grundsätzlich antisemitisch sei. Ist es nicht eher antisemitisch, Kritik an der Wall Street mit dem Hinweis abzubürsten, bei Wall Street denke jeder an Juden? Denn damit unterstellen die Großkapital-Verteidiger ja erst, die Wall Street sei jüdisch kontrolliert.

Auch Blogs wie das von Stefan Laurin herausgegebene Ruhrbarone, Lisas Welt oder Salonkolumnisten liegen am Kreuzweg von antideutsch und pro-israelisch – in der letzten Krise um Gaza, im Mai 2021, boten die Ruhrbarone Arye Sharuz Shalicar als Kriegserklärer auf, der ehemalige Sprecher der israelischen Armee. Bei Missy Magazine dürfen hingegen antideutsche Frauen schreiben. Einige Autoren der Jungle World waren zu DDR-Zeiten eigentlich bloß antiwestdeutsch, weshalb es wirklich tragisch ist, dass sie nun mit den Anti-Ostdeutschen in einem Boot sind.

Auch bei etablierten Medien gibt es Antideutsche, etwa Patrick Gensing, ein früherer Punk, der bei der Tagesschau Faktencheck macht. Gensing lehnt den »Fetisch um die Heimat« ab, soweit es sich um deutsche Heimat handelt. Heimat, schreibt er in der taz, sei kein Ort, sondern allenfalls ein diffuses Gefühl. Menschen sollten aber keine diffusen Gefühle benötigen, um sich notdürftig eine Identität zu konstruieren. Und Heimat sei ein sehr deutsches Konzept, das Wort gebe es anderswo gar nicht. Die Haltung von Gensing ist typisch für die antideutsche Linke, aber totaler Blödsinn: Deutschland ist, im Gegenteil, das einzige Land auf der ganzen Welt, wo Linke mit ihrer Heimat fremdeln.

Der Journalist inszeniert sich in der taz als Kosmopolit, der glaubt, der Heimatbegriff fördere Fremdenfeindlichkeit und sei ein »Einfallstor für Antisemitismus«. Auch hier wieder diese merkwürdige Umkehrlogik: Nicht nur überlässt Gensing den Begriff der Rechten, er unterstellt damit deutschen Juden, aber auch Einwanderern, dass die Deutschland nicht als Heimat sehen könnten oder dürfen. Und was oberflächlich danach aussieht, als befürworte er offene Grenzen, funktionierte auch andersherum: Wenn es keine Wurzeln gibt und keine Grenzen, was spräche dagegen, Zuwanderer nach Gusto auch wieder abzuschieben? Welchen Sinn hätte in einer wurzel- und identitätslosen Welt eine Antikolonialbewegung? Dann könnten Deutsche auch in Südwestafrika siedeln oder in Schlesien. Schließlich sind Kosmopoliten überall in der Welt zu Hause.

Und wenn Heimat insignifikant und auswechselbar ist, aus welchem Grund kämpfen dann Mieter gegen Gentrifizierung? Die können doch einfach wegziehen und Platz für die gutverdienende Intellektuellen-Elite machen, der Gensing angehört. Das Schrägste aber ist, dass Leute wie Gensing wahrhaftig glauben, sie seien links, weltoffen oder progressiv. Tatsächlich spiegelt diese Utopie der identitäts- und heimatfreien Kosmopoliten lediglich die neoliberale Überheblichkeit der Generation Vielflieger-Kreditkarte wider.

Bekannt wurde Gensing durch sein Blog Publikative.org, in dem er sich geriert wie der Statthalter des verblichenen CIA-Chefs Allen W. Dulles und das inzwischen vollständig aus dem Netz geschrubbt wurde. Darin wettert er gegen rechte Kapitalismuskritik, die sich gegen das »ortlose Finanzkapital« wende, gegen die Mahnwachen für den Frieden am Brandenburger Tor und wirft der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht Querfront-Tendenzen vor. Er wendet sich auch gegen deutsche Kritik an der NSA-Überwachung, obwohl die ja von Amerikanern wie Edward Snowden und Glenn Greenwald angestoßen wurde. Im Deutschlandfunk spricht er von »Hysterie« und einer »opferlosen Debatte«, die »antiamerikanische Verschwörungslegenden« produziere. Dass die USA ihre Interessen »durchboxen« würde, sei ein »Ressentiment«, das »Linke, Konservative und Rechtsradikale« vereine. Natürlich vereint dies auch Liberale, Sozialdemokraten, Grüne und sogar US-Amerikaner: Die politische Richtung, die glaubt, Amerika setze seine Interessen um, indem es »bitte, bitte« sage, muss erst noch erfunden werden.

Gensings Blog verlinkte auf den Sänger Danger Dan von der Band Antilopen Gang, der in Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt gratismutig gegen altneue Rechte wie Jürgen Elsässer, Götz Kubitschek und Alexander Gauland ansingt, um »die Welt von den Faschisten zu befreien«. In einem älteren Liedchen schwurbelt Danger von einer Atombombe, die 80 Millionen Deutsche auslöschen soll, aber das meint er irgendwie ironisch, und nicht faschistisch.

Gensing ist nicht der einzige antideutsche Faktchecker. Bei Correctiv arbeitet David Schraven, der das antideutsche Blog Ruhrbarone mitgegründet hat. Correctiv betreibt sogenannten Faktencheck für Facebook. Faktenchecken tun die Antideutschen am liebsten, das verleiht ihnen Autorität. Correctiv macht es sich zur Herzensaufgabe, antideutsche Zitate, die prominenten Grünen und Linken zugeordnet werden, als fake zu entlarven, ein hoffnungsvolles Zeichen, dass das inzwischen karriereschädigend ist. Als Claudia Roth in einer Demo mitlief, die von dem Plakat »Deutschland, du mieses Stück Scheiße« angeführt wurde, wies Correktiv minutiös nach, dass Roth das Plakat vielleicht irgendwie doch nicht gesehen haben muss.

Warum wird ein Deutscher überhaupt antideutsch? Selbst der linkste, Trump- wie Clinton hassende Amerikaner, Black-Lives-Matter-Aktivist oder indianische Pipeline-Bekämpfer würde nicht auf die Idee kommen, sich vor ein Foto des rauchenden World Trade Center zu photoshoppen, mit einem Schild, auf dem steht: »Osama bin Laden, do it again!« So wie Antisemitismus nichts damit zu tun hat, was Juden tun, sind auch die Beweggründe der Antideutschen nicht darin zu finden, was Deutsche tun. Sie sind in der Psyche der Antideutschen verankert, die Deutschland dämonisieren, als Staat delegitimieren und einem doppelten Standard unterwerfen. Sonst würden sie ja Länder bekämpfen, die tatsächlich rechtsautoritär sind, von der Türkei über Ungarn bis zu Nordkorea.

Im Grunde sind Antideutsche spätgeborene, überkompensierende Widerständler gegen die Nazis. Sie glauben, durch die öffentliche Zurschaustellung ihrer antideutschen Haltung in den Augen der Welt von der Erbsünde Auschwitz ausgenommen zu sein, so wie sich kleine Kinder die Hand vor die Augen halten, weil sie glauben, damit werde es dunkel. Und natürlich hätten sie alle unter den Nazis ihr Leben im Widerstand riskiert, so wie sie auch heute tapfer auf Social Media Nazis bekämpfen. Parallel dazu leben sie in der Fantasie, dass sie keine Opfer mehr sind, sondern Sieger, wenn sie sich mit Bomber Harris identifizieren, und das gänzlich ohne eigene Anstrengung und unter Beibehaltung der Moralflagge.

Auch Hitler, der Österreicher, wurde kurz vor seinem Lebensende ziemlich antideutsch. In seinem Testament sagte er (zitiert von dem britischen Wissenschaftler Ian Kershaw): »Wenn der Krieg verloren geht, wird auch das Volk verloren sein. Es ist nicht notwendig, auf die Grundlagen, die das deutsche Volk zu seinem primitivsten Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen.« Und: »Wenn das deutsche Volk einmal nicht mehr stark und opferbereit genug ist, sein Blut für seine Existenz einzusetzen, so soll es vergehen und von einer anderen, stärkeren Macht vernichtet werden.« Ganz ähnlich dachte auch Kaiser Wilhelm, der empört sagte: »Das deutsche Volk ist eine Schweinebande«, als ihn die Nazis nicht aus dem holländischen Exil holten.

Wie Kaiser Wilhelm können die Antideutschen austeilen, aber nicht einstecken. Sie schneiden nächtens das Gold aus gekaperten schwarz-rot-goldenen Fahnen (oder, wie Joseph Goebbels die Flagge nannte, schwarz-rot-senf) und fordern, Chemnitz mit Napalm zu bombardieren, weil dort angeblich so viele Nazis herumlaufen. Sie halten es aber für Hate Speech, wenn sie ein Pöstchen beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk verlieren. Sie wollen – wie Denis Yücel in der taz – Deutschland zwischen Frankreich und Polen aufteilen, verlangen aber, dass die deutsche Bundesregierung sie herausholt, wenn sie in der Türkei festsitzen.

Sie fragen – wie die Linke-Politikerin Sarah Rambatz – auf Facebook nach »antideutsche Filmempfehlungen? & grundsätzlich alles, wo Deutsche sterben«. Wenn sie daraufhin aber Hassmails und Todesdrohungen bekommen, rennen sie zur Polizei, weil sie selbst doch nicht so gerne sterben wollen. Dem Spiegel erzählte Rambatz zu ihrer Verteidigung, sie habe jüdische Freunde. Haben die Juden noch nicht genug gelitten? Immerhin ergatterte sie einen Posten beim Jungen Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, wo sie fortan die israelische Besatzungspolitik verteidigte. Ob sie heute auch Filme sucht, in denen Araber sterben?

Wie einst bei den marxistischen Gruppen, stellt sich bei den Antideutschen die Frage: Kann so ein wirrer Haufen von psychologisch beschädigten Politaktivisten überhaupt Einfluss haben? Leider mehr, als man denkt. Denn die bestenfalls links in der Wolle gefärbten Antideutschen bilden nur die Speerspitze einer Grundhaltung, die Linke, vermeintliche Linke, Liberale, Grüne, Autonome, Jusos, Immigrationsaktivisten, Klimabewegte, Merkel-Verehrer und Woke vereint. Bei vielen von denen sind antideutsche Positionen hoffähig oder zumindest plappern sie diese denkbefreit nach. So brachte es die WDR- und Zeit-Journalistin Sophie Passmann 2019 fertig – ausgerechnet am Jahrestag des Anschlags auf den Berliner Weihnachtsmarkt, als zwölf Menschen ermordet wurden – zu twittern, »Vielleicht haben Leute, die es für weihnachtlich halten, in Menschenmengen auf Märkten gebrannte Mandeln zu fressen, auch einfach verdient, von anderen Kulturen verdrängt zu werden«. Eines der Opfer des Anschlags war Israeli; also, so weit her ist es mit der Israelliebe dann doch nicht immer.

Ein Merkmal der Antideutschen ist deren offene Verachtung des prolligen deutschen Arbeiters. Stellvertretend für alle unbekannten Möchtegern-Antideutschen lassen wir hier Adrian Schulz zu Wort kommen, taz-Kolumnist unter der Oberzeile »Jung und Dumm«, der sich darüber mopst, dass VW die Currywurst aus der Betriebskantine verbannen will. »Am liebsten stecken die Deutschen Fleisch in Fleisch. Dann erhitzen sie beides, bis man nur noch reinpiksen muss, damit das warme Fett herausläuft. Diesen erhabenen Strom stumm zu bewundern ist Balsam für die Seele und den Volkskörper, ihn zu spüren und zu schmecken, nachdem man das Fleischstück in den offenen Mund geschoben hat, und der Sabber, so, wie die Deutschen das schätzen, seine Arbeit macht.« (Satzbau der des Autors). Man versteht, warum Hitler Vegetarier war. Jedenfalls, beim Lesen dieser Zeilen erscheint vor dem inneren Auge spontan ein pickeliges Bourgeois-Bürschlein mit Monokel und gegelten Haaren, das noch nie frühmorgens aufgestanden ist und in einer Fabrik gearbeitet hat.

Aber auch der politische Gegenpol der Antideutschen ist antideutsch. Denn das sind nicht etwa die AfD oder die NPD, sondern die Anti-Imps; Antiimperialisten, die sich als links identifizieren (und, ganz ehrlich, mit mehr Recht als die Antideutschen). Wie die Antideutschen waren viele der linksfühlenden Deutschland-Schlechtfinder früher Pol-Pot-Anhänger oder Idi-Amin-Verehrer. Das überkompensieren sie heute damit, dass sie hinter jedem Busch einen Nazi wittern, wobei die Nazis bereits mit Boris Palmer, Sahra Wagenknecht und Dieter Nuhr anfangen. Lieber nicht mit einem echten Nazi anlegen, das könnte gefährlich werden. So bahnen sie sich mit der Nazikeule den Weg durch die Feuilletons und Twitterfeeds, nach der alten Wiglaf-Droste-Devise, »Wer zuerst Auschwitz schreit, hat gewonnen«. Denn die Verschwörungstheorie, an die sie glauben, ist die stets um die Ecke dräuende Refaschisierung Deutschlands.

Auch ihr Motto ist: Immer radikal, niemals konsequent. Viele von ihnen sind wie der Onkel, der früher bei einem Joint Bourbon gesoffen hat und heute predigt, wie ungesund Kaffee ist. Sie misstrauen dem reaktionär-autoritären deutschen Staat, rufen aber die Polizei, wenn die Nachbarn in Corona-Zeiten eine Party mit mehr als sechs Gästen feiern. Sie haben Schweißausbrüche, wenn sie eine deutsche Fahne sehen, haben aber mit dem türkischen Halbmond kein Problem, der für ein Land mit wesentlich aggressiverem Nationalismus steht. Sie haben sich in den neunziger Jahren für progressiv gehalten, als sie zu Christoph Schlingensiefs Kunstaktion »Tötet Helmut Kohl« applaudierten, heute halten sie jeden für einen Nazi, der ruft: »Merkel muss weg.« Sie scheuchen der Weltrevolution nach wie Wiley E. Coyote dem Roadrunner. Sie leben in dem Wahn, sie seien tapfere Widerstandskämpfer, während sie im Ausland als peinliche, rechthaberische Krauts gelten. Es ist diese dummschwatzende Klasse, die den Resonanzboden der Antideutschen bildet.

Während die Antideutschen mit der RAF als Royal Air Force sympathisieren, denken die Anti-Imps bei RAF an Rote Armee Fraktion. Die Anti-Imps sind von der schrägen Vorstellung besessen, dass Deutschland im weltweiten Vergleich besonders ungleich oder unsozial sei. Hingegen sind die Antideutschen, soweit sie nicht ins rechtspopulistische Lager abgewandert sind, pro-kapitalistisch mit einem Schlag ins Neoliberale. Die Antideutschen als ethno-zentriertes, wenngleich seitenverkehrtes Spiegelbild der Nazis unterscheiden säuberlich zwischen Biodeutschen, Deutschen mit russischem Migrationshintergrund, Passdeutschen mit Wurzeln im Ölland, deutschen Juden, Deutsch-Amerikanern und Österreichern. Die Anti-Imps sehen die Welt als Kampf zwischen Unterdrückten und Unterdrückern, Arbeiterklasse und Ausbeuterklasse, wo die Unterdrückten quer durch die Völker zusammenstehen (idealerweise). Sie stehen den Kommunisten nahe, sind aber meist zu unorganisiert und zu arbeitsscheu, um welche zu sein. Sie sind auch gegenüber Immigration aufgeschlossener als die Antideutschen, in der irrigen Annahme, Immigranten seien automatisch links oder wenigstens nicht deutsch.

Dass sich diese beiden Flügel der extremeren Linken gespalten haben, liegt an Amerika. Das Schisma begann im Ersten Golfkrieg unter Poppy Bush, wo die einen kein Blut für Öl opfern wollten, die anderen aber durchaus den Großen Satan unterstützen. Da der Streit letztlich eine Reaktion auf die amerikanischen Kriege ist, scheiden sich die linken und die rechten Antideutschen besonders am Verhältnis zu Israel und Amerika. Die Linken sind gegen Amerika als Hochburg des militärisch-industriellen Komplexes und gegen Israel als neue Kolonialmacht. Sie solidarisieren sich mit unterdrückten People of Color, zu denen sie die Palästinenser zählen, nicht aber die Israelis, und betrachten sich als Arm der »Critical Whiteness«, was eigentlich nur in den USA Sinn macht, dem Land, das aus ethnischen Grabenkriegen entstanden ist. Sie sind antikolonialistisch, während die Antideutschen sich für die besseren Israelis halten und es mit Besorgnis und Befremden sehen, dass dunkelhäutige, barfüßige Urwaldbewohner ihre Leidensgeschichte für genauso wichtig erachten wie die der gebildeten europäischen Juden.

Den Zionismus haben die Antideutschen mit dem (schmalen) pro-israelischen Flügel der AfD und anderen Rechtspopulisten in Europa gemeinsam, mehr aber noch mit den Evangelikalen in den USA. Die verehren Israel, denn sie glauben, dass dort, am Ende aller Tage, an Armageddon, der Antichrist erscheint, das Wasser zu Blut wird, Hitze das Land zerstört und in Dunkelheit, Hagel und Erdbeben die Seelen der guten Christen gen Himmel steigen, während die Atheisten, Katholiken, Muslime, Juden, Buddhisten, Hindus und Jünger der Kirche des Fliegenden Spaghettimonsters der ewigen Verderbnis anheimfallen.

Ursprünglich pro Immigration, sind die meisten Antideutschen aus Solidarität mit Israel ins Lager der Anti-Araber gewechselt. Sie bekämpfen sogar linke Israelis, die ihnen nicht israelfreundlich genug sind. Für die Antideutschen ist Israel (und das gänzlich ohne Zutun der Israelis) die innere Heimat, die blut-und-bodenmäßig bis in die Zeit zurück zu Moses und König David geht und die sie sich in Deutschland nie zu finden getrauten. Aber während sich die Liebe zu Israel noch aus der Nazivergangenheit ihrer Väter und Mütter und der Überkompensation der daraus resultierenden Schuldgefühle erklären lässt, ist ihre Freundschaft zu den noch wesentlich nationalistischeren USA schwerer verständlich.

Nun ist es in Deutschland nicht ungewöhnlich, Amerika zu lieben. Deutsche Touristen finden sich überall in den USA, von Manhattan bis Roswell, von Rapid City bis Fisherman’s Wharf. Viele Deutsche lieben Country oder Jazz, Blues oder Bluegrass, Steaks oder Hamburger, den Grand Canyon, den Yellowstone Park, Miami Beach, den Hollywood Boulevard, die Partymeilen von Memphis, Nashville und New Orleans. Und sie mögen auch die Amerikaner, die um mehrere Größenklassen freundlicher und höflicher sind als Deutsche (und erst recht Antideutsche). Die Antideutschen aber lieben die neokonservativen Think Tanks und die US-Militärmaschinerie. Wie merkwürdig ist das eigentlich?

Mohamed Amjahid beschreibt im Zeit-Magazin die irritierende Amerika- und Israelliebe der antideutschen Fieselschweif-Jugend: »Auf Snapchat und in geheimen Facebook-Gruppen präsentieren sich Hunderte junge Menschen mit bunt gefärbten Haaren, Davidstern-Tattoos oder Piercings im Gesicht. Sie kauen genüsslich auf labbrigen Burgern und formen mit dünnen Fritten das Victoryzeichen. Einer zeigt auf Facebook stolz sein Kinderzimmer, mit Israel- und USA-Flaggen tapeziert. Nachts deckt sich dieser Antideutsche mit einer großen USA-Fahne zu. Wenn er die Nachttischlampe anknipst, strahlen blaue Davidsterne an der Decke. Antideutschen gefallen die neokonservativen bis rechten Thesen von Autoren wie Matthias Matussek, Henryk M. Broder oder Hamed Abdel-Samad. Thilo Sarrazin finden einige ›nicht so schlimm‹. Im Sommer tragen sie Sonnenbrillen mit Stars and Stripes. Regelmäßig organisieren sie Solidaritäts-Ausflüge nach Tel Aviv. Dort essen sie ›koschere Chicken-Nuggets‹ bei McDonald’s.« (Übrigens haben entweder Amjahid oder die Antideutschen eine eher unpräzise Idee davon, was koscher bedeutet; Restaurants sind koscher; Huhn gibt es nicht in den Varianten koscher und traif.)

Die historische Geburtsstunde der Antideutschen war der 25. April 1945. Das ist der Elbe Day, der Tag, an dem sich die U. S. Army mit der Roten Armee an der Elbe in Torgau getroffen hat und Rotarmisten und GIs einander die Hände schüttelten. Eine Gedenksäule am Fluss zeugt noch heute davon, auch ein Wandgemälde im Bahnhof von Torgau. Die Fotos des historischen Händedrucks gingen um die Welt. Tatsächlich hatte das erste Zusammentreffen der Alliierten schon Stunden vorher in Strehla stattgefunden, 20 Kilometer südlich von Torgau. Dort setzte der GI Albert Kotzebue mit fünf Kameraden über den Fluss und traf auf die ersten Sowjetsoldaten. Fotos wurden geschossen, die Soldaten aber standen in Strehla »inmitten von dreihundert Leichen – Frauen, Kinder, alte Menschen«, schrieb der Historiker Uwe Niedersen im Stern. Das sei nicht die historische Szene gewesen, welche die US-Army für die Lieben daheim oder die Nachwelt festhalten wollten. Und so wurde das bekannte Foto erst einen Tag später gemacht, in Torgau, und mit anderen Soldaten.

Der Elbe Day ist auch der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, bei der Amerika versucht, Deutschland zu beeinflussen und zu nutzen, seine geostrategischen Interessen durchzusetzen, erst mit »Hard Power«, aber bald auch mit besagter Soft Power. Die Freundschaft allerdings steht auf ähnlich illusionären Füßen wie die Historie des Elbe Day. Denn die Ergebnisse dieser Soft Power sind nicht professionell durchgestylt wie die vom Computer generierten Szenen in Game of Thrones, wenn am Ende der Drache mit Daenerys Targaryen, der Herrscherin von Westeros, im Maul fortfliegt wie der Antichrist einmal mit Bibi Netanyahu (hoffentlich). Sie sind eher wie das Resultat eines Experiments, wo zerstrittene Köche unterschiedliche Zutaten an die Wand werfen, in der Hoffnung, dass irgendwann Apple Pie dabei herauskommt, immer getreu nach dem inoffiziellen Motto der US-Außenpolitik »Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?«.

Die Funktion der deutschen Geschichte ist in Deutschland und Amerika ganz verschieden. Bei den Deutschen haben sich nach dem Schrecken des Dritten Reichs das permanente Schuldbewusstsein und eine Obsession mit der Vergangenheit eingestellt, gepaart mit dem Wunsch, eine große Schweiz werden zu wollen. Zwar ist auch in Amerika die Zahl der Filme über die Nazis legendär, aber aus ganz anderen Gründen. Deutschland will den Ruf der Nazizeit loswerden, indem es die Fähigkeit zum friedlichen Zusammenleben beweist. Amerika hingegen braucht die Nazis als Kontrast, um US-Kriegsverbrechen von Vietnam über Mittelamerika bis zum Mittleren Osten kleinzureden. Deshalb hat das rechte Amerika, das imperiale Kriege führt, gar kein Interesse daran, die Nazizeit vergessen zu machen. Und das linke Amerika der dampfplaudernden Weltverbesserer will erst recht kein besseres Deutschland als Konkurrenz.

75 Jahre nach dem Elbe Day ruft die »Antideutsche Aktion Berlin« unter dem Motto »Der Hauptfeind ist das eigene Land« dazu auf, sich in Torgau zu treffen, um »Salz in die Wunde zu streuen«, dass Nazideutschland militärisch besiegt wurde und »an dem Tag, als die sowjetischen und amerikanischen Soldaten das erste Mal aufeinandertrafen, die Besetzung von Deutschland« zu feiern.

In einem ebenso wirren wie wehleidigen Gemisch aus Israelliebe und Deutschlandschelte beschwert sich die Antideutsche Aktion Berlin, dass Deutschland wieder Großmacht sei, sich jedoch weigere, bei den US-Militäreinsätzen in Syrien, Irak, Jemen oder Nigeria mitzumachen, während Mütter in Prenzlauer Berg Kinderwagen ohne Plastik schöben, die nicht aus Amerika stammten, und die zudem die Frechheit besitzen, das »Balg mit Lebensmitteln ohne Gentechnik« zu füttern. »Die Ablehnung des Freihandelsabkommens TTIP bekommt man nicht nur in solchen Kiezen mit der Muttermilch indoktriniert«, heißt es in deren Blog Bak-Shalom, eine Plattform gegen »Antisemitismus, Antizionismus, Antiamerikanismus und regressiven Antikapitalismus der Linksjugend«, das sich liest, als stamme es von einem Monsanto-Angestellten, der zu viel bleihaltige Muttermilch abbekam. Dabei gehört Bak-Shalom zum Jugendverband der Linken; Sprecherin des (innerhalb der Partei stark umstrittenen) Arbeitskreises war – Überraschung! – die cinematophile Antideutsche Sarah Rambatz.

Zu gerne wüsste man, ob die Antideutsche Aktion Berlin sich kollektiv entleibt hat, als Donald Trump TTIP aufgekündigt hat. Aber leider hat der Zuckerbot ihnen den Facebook-Account wegen »Hate Speech« gesperrt. Danach löste sich sowohl die Antideutsche Aktion als auch der Arbeitskreis Shalom einstweilig auf. Braucht Amerika solche Verbündete? Ist es wirklich denkbar, dass solch eine Gurkentruppe von der CIA – also von meinen Steuergeldern – finanziert wird? Wen könnte ich deshalb verklagen?

Denn in Amerika ist die Zeit fortgeschritten. An den Elbe Day und die Waffenkameradschaft mit der Roten Armee erinnert sich niemand mehr so richtig. Die eine Hälfte der Amerikaner glaubt, sie hätten im Zweiten Weltkrieg mit Italien gegen Russland gekämpft, um Deutschland zu befreien, und die andere Hälfte meint, Amerika und die UdSSR seien zufällig zeitgleich gegen Deutschland in den Krieg gezogen und Amerika hätte gewonnen.

Für Amerikaner sieht die Nachkriegszeit ganz anders aus als für Antideutsche. Nach dem Elbe Day folgte die Reeducation, als amerikanische Armeeberater die (West)-Deutschen zu guten Demokraten umerziehen wollen. Aber noch bevor die richtig anfangen konnten, kippte in den USA radikal die Stimmung. Mit der Berlin-Blockade wurden die Sowjets zu Feinden und die vor den Nazis geflüchteten deutsch-jüdischen Linken zu Staatsfeinden.

Die nächste Wende kam mit dem Vietnamkrieg. Nun demonstrierten deutsche Studenten mit Ho-Chi-Minh-Rufen gegen die USA und pflegten Kontakte zu den Black Panthers, eine militante afro-amerikanische Bürgerrechtsorganisation, und dem SDS, Students for a Democratic Society. Derweil schrieb die mit Beteiligung eines CIA-Offiziers gegründete Springerpresse, dass es antiamerikanisch sei, die Bomben auf Vietnam zu kritisieren.

Das Pentagon und die CIA sorgten sich wegen des Gegenwinds aus Europa, der in zahllosen, oft gewalttätigen Demonstrationen kulminierte, von Paris bis Istanbul. In Kollaboration mit den USA schleuste der Verfassungsschutz Provokateure in die Antikriegsbewegung ein. Der wichtigste war ein Berliner Arbeiter namens Peter Urbach, der Bomben und Waffen besorgte. Als US-Präsident Richard Nixon im Februar 1969 Berlin besuchte, sei Urbach mit einem Koffer voller Brandbomben beim SDS aufgetaucht, erinnert sich der damalige SDS-Vorsitzende Tilman Fichter in der taz (und im Spiegel). Ein Anschlag auf Nixon aber war den Revolutionären zu heiß. Urbach lieferte sogar eine Bombe, mit welcher der Früh-Antideutsche Dieter Kunzelmann das Jüdische Gemeindehaus in die Luft sprengen wollte. Aber wie so viele Urbach-Bomben ging sie nicht hoch – einen echten Anschlag wollten die Schlapphüte dann doch nicht riskieren. Als Urbach 1971 enttarnt wurde, bekam er einen US-Pass und verschwand nach Kalifornien, wo er starb.

Der Vietnamkrieg endete 1975 mit der Niederlage der USA. Danach setzte in Amerika eine Gewissenserforschung ein, aber nicht eine des eigenen Gewissens, sondern des Gewissens der Deutschen. Das war die Zeit, als die USA den Holocaust entdeckten. Die Miniserie Holocaust kam ins Fernsehen, gefolgt von Kinofilmen wie Sophie’s Choice. Und die USA beschlossen, den nächsten Holocaust zu verhindern. Den sahen sie 1992 in Bosnien, als Christiane Amanpour auf CNN über Konzentrationslager und Massenmord in Jugoslawien berichtete. Hier partizipierten die Deutschen zum ersten Mal militärisch an der Seite der USA, nicht zuletzt dank des Einsatzes des grünen Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Joschka Fischer, der im Kosovo ein »neues Auschwitz« verhindern wollte. Die Antideutschen allerdings, vor allem in Gestalt von Gremliza und dem damals noch linken Elsässer, tobten. Sie warfen Deutschland vor, die Amerikaner in den Krieg verwickelt zu haben, um Serbien, den Gegner Deutschlands in beiden Weltkriegen, niederzuringen. Tatsächlich waren es die USA, die Serbien schwächen wollten, den letzten noch waffenfähigen Verbündeten Russlands, der den Kalten Krieg überstanden hatte. Die meisten Amerikaner stehen heute noch hinter dem Krieg, sie wissen noch nicht einmal, dass deutsche Truppen in Jugoslawien mitgekämpft haben. Amerika half aber auch Deutschland, sein Gewissen zu erforschen. In den späten neunziger Jahren veröffentlichte der amerikanische Historiker Daniel Goldhagen das Buch Hitler’s Willing Executioners. Er stellt darin die These auf, dass ein eliminatorischer Antisemitismus der Grundstein deutscher Identität sei, etwas, was es nur in Deutschland gebe – nicht einmal in Österreich – und der auf die christlichen Kirchen im späten Mittelalter zurückgehe, vor allem auf die katholische Kirche, aber auch die Lutheraner. Das Buch wurde von US-Historikern verrissen. Fritz Stern, ein aus Deutschland geflüchteter, vor ein paar Jahren verstorbener Professor an der Columbia University, nannte es »Ausdruck von Germanophobie«, der Holocaust-Forscher Raoul Hilberg meinte, es sei »falsch und wertlos«. Der israelische Historiker Omer Bartov schrieb, wer Goldhagens Thesen akzeptiere, unterstelle auch, dass die gesamte deutsch-jüdische Gemeinschaft »total verblödet« gewesen sei, Deutschland nicht schon im 19. Jahrhundert verlassen zu haben.

Goldhagen wurde vorgeworfen, antikatholisch und islamfeindlich zu sein und Kollaborateure der Nazis wie die baltischen Länder, Rumänien, Holland, Belgien und Vichy-Frankreich außer Acht zu lassen (Goldhagen liefert auch keine Erklärung dafür, warum seine eigenen Landsleute Flüchtlingsschiffe zurück in die KZs geschickt haben). Inzwischen hat er diesbetreffend allerdings nachgelegt; in seinem Buch The Devil That Never Dies, identifiziert er alleine in den Ländern Südkorea, Japan, China, Indien, Brasilien, Argentinien, Mexiko, Nigeria, Tansania und Südafrika 1,5 Milliarden Antisemiten, die potenziell eliminatorisch seien. Dabei hat er die Vereinigten Staaten und Kanada, Europa, Zentralasien, Australien und den Mittleren Osten noch gar nicht mitgerechnet.

Der Bestseller, der die Kollektivschuld der Deutschen festklopft, wurde zur Bibel der Antideutschen. Und einer der willigen antideutschen Helfer war Matthias Küntzel. Küntzel ist einer der Autoren und Herausgeber von Goldhagen und die deutsche Linke oder: Die Gegenwart des Holocaust. Er tritt an US-Universitäten auf und schreibt gelegentlich für US-Publikationen wie das Wall Street Journal und den Weekly Standard, das Hausblatt der Neocons, die damals beide Rupert Murdoch gehören. Er hat auch 1999 für die Heinrich-Böll-Stiftung eine Konferenz mit Goldhagen organisiert, auf der dessen Mitstreiter Andrei Markovits auftrat, ein Germanist von der University of Michigan, der über Antiamerikanismus forscht und als antideutsche Stimme in den USA gilt.

Goldhagens Buch aber hatte unbeabsichtigte Nebenwirkungen. In den Jahren nach dem Balkankrieg, als es auf den Markt kam, hatte die ohnehin nur in Spuren vorhandene deutsche Begeisterung über den Bundeswehreinsatz schwer nachgelassen; der Friedenswille hatte Peak Peace erreicht. Dies, aber auch die von Goldhagen angestoßene Debatte um die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs – sein Buch beschäftigt sich mit der Wehrmacht und ihren paramilitärischen Hilfstruppen – hat dazu geführt, dass viele Deutsche einen weiteren Krieg ablehnten. Sie wollten nicht schon wieder ihren Ruf ruinieren und als unverbesserliche Kriegstreiber dastehen. Deshalb sagten sie zum Irakkrieg »Nein, danke«.

Dabei hatte Goldhagen das gar nicht beabsichtigt. Denn der stramme Befürworter des NATO-Einsatzes auf dem Balkan ist keinesfalls Pazifist, er ist ein pro-israelischer Zionist der zuletzt 2006 in der Los Angeles Times den israelischen Krieg gegen den Libanon verteidigte, weil der sich vor allem gegen die Hamas und Hezbollah richte. Israel, schrieb er, kämpfe für seine eigene Verteidigung und im Interesse von Europa, das mit Israel solidarisch sein solle. Wie sehr dieser Bellizismus in Deutschland auf taube Ohren stieß, wurde aber erst nach 9-11 klar.

Denn Deutschland sah mit dem Irakkrieg die einmalige Chance, dem inneren Nazi zu entrinnen, indem es nicht nur keine Truppen schickte, sondern fleißig gegen den Krieg trommelte. Im deutschen Windschatten verweigerten sich auch noch Frankreich und mehrere andere Länder. Im Grunde haben die USA mit Deutschland einen NATO-Verbündeten am Hals, der seiner veralteten Hubschrauber und klemmender Gewehre wegen nicht im Kampf zu gebrauchen ist, Moralpredigten hält, Deserteure versteckt, Petitionen zirkulieren lässt, um Julian Assange zu befreien, und noch nicht einmal in der Lage ist, heimische islamistische Terrorzellen zu überwachen.

Zu allem Überfluss hat Deutschland im Nachgang des Irakkriegs auch noch versucht (oder zumindest erwogen), Donald Rumsfeld und andere Kriegsbeteiligte als Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen, eine Praxis, die der Bundesgerichtshof 2021 ausdrücklich gestattete. Das stieß in Amerika auf Empörung. Deutschland versuche, seine Nazivergangenheit auf Kosten von Amerika therapeutisch zu bewältigen, das solle nicht toleriert werden, schrieb Jeremy Rabkin im Weekly Standard verärgert, und: »Das heutige Deutschland lehnt militärisches Engagement dermaßen vehement ab, dass es unfähig ist, vernünftige von exzessiven militärischen Taktiken zu unterscheiden, weshalb die deutschen Truppen in Afghanistan nicht richtig kämpfen dürfen.« Dabei ist Deutschland – ein ewiges Missverständnis – eigentlich gar nicht sonderlich militaristisch. Es ist ein Land, das – wie es schon das Nibelungenlied beschreibt – seine jeweiligen Manien auslebt bis zum letzten Anschlag, selbst wenn alles auseinanderfällt. »Deutsch sein«, schrieb Kurt Tucholsky einmal, »heißt, eine Sache um ihrer selbst willen übertreiben.«

Nicht nur die Rumsfeld-Freunde in Amerika, auch die Antideutschen sind über den deutschen Antimilitarismus verärgert. Einer der damaligen Wortführer – und unermüdlicher Kriegstrommler – war der heutige Welt-Autor Henryk M. Broder. Der Amerika-Freund sollte ein paar Jahre später bei den Antifaschistischen Hochschultagen der antideutschen Gruppe »No Tears for Krauts« auftreten, wo er sein Buch Vergesst Auschwitz vorstellte. Broders Buch wendet sich gegen den »deutschen Erinnerungswahn«, der zur dauernden Kritik an Israel führe. In dieser Zeit nach 9-11 aber ging es erst einmal darum, Deutschland wieder auf die richtige kriegerische Linie zu bringen.

An einem lauschigen Abend im August 2005 treffen sich ein paar semiprominente Medienvertreter am Nockherberg, ein Biergarten in München, erinnert sich Rainer Meyer, ein konservativer Journalist, der unter dem Namen Don Alphonso bloggt, damals noch für die FAZ und heute für die Welt. Zu den Teilnehmern dieses »prowestlichen Heimatabends« zählen der frühere Stern-Redakteur Dirk Maxeiner, die Welt-Autoren Michael Miersch und Hannes Stein, der in New York lebt, und eben auch Broder, der damals noch für den Spiegel schrieb. Auch Stefan Herre sei dabei gewesen, dem die Blogplattform Myblog gehört. Die unzufriedenen Amerika-Freunde wollen, schreibt Don Alphonso, »Schröder und das Feindbild Rot-Grün weg von der Macht haben, und an deren Stelle Angela Merkel, die mit Bush in den Krieg ziehen wollte«. Es soll auch »gegen den islamistischen Terror und für Israel« gehen.

Sie bekommen Merkel, nicht durch eigenes Zutun, aber das macht sie nicht glücklich. Die Truppe, laut Don Alphonso bald untereinander zerstritten, driftet ins Rechtspopulistische ab. Broder gründet mit Miersch und Maximer die Website Achse des Guten. Die Achse ficht fortan gegen Genderwahn, Klimahysterie und gefakte Statistiken über Ausländerkriminalität; ein feuilletonistisches Correctiv von rechts. Herre baut Myblog zu einer israelfreundlichen, islamfeindlichen Nachrichtenseite um, Politically Incorrect, die heute als PI-News firmiert. PI-News, ein vielgelesenes antimuslimisches Medium, ist eine Plattform für Pegida, die Initiative gegen Zuwanderung aus dem arabischen Raum und auch für Rechtspopulisten wie Geert Wilders und Marine Le Pen.

In den USA hatte derweil John »Bomb-Bomb-Iran«-McCain, der Wunschkandidat der Neocons, gegen Barack Obama verloren, den ersten schwarzen Präsidenten der USA. Die Antideutschen fanden damit neue Gesinnungsgenossen; Obama-hassende Islamfeinde wie Pam Geller, die glaubt, der Massenmord von Srebrenica sei eine Erfindung der Medien und Obama sei ein in Kenia geborener Araber. Oder Robert Spencer, ein ehemaliger Maoist, der sich für »die gute Art von islamophob« hält. Beider Blogs dienten dem norwegischen Massenmörder Anders Breivik als Inspiration. Antideutsche beteiligen sich im Gleichklang mit dem NPD-Sprecher Jürgen Gansel an Hasskampagnen gegen Obama. Die »Antideutsche Gruppe Hamburg« nannte Obama einen »weltfremden Utopisten«, einen »falschen Messias« und den »ersten amerikanischen Demagogen seit den Dreißigerjahren« (wer war denn dieser letzte Demagoge vor Obama? Franklin Roosevelt?). Die Hamburger beziehen sich auf Norman Podhoretz, einen der Urväter der Neokonservativen. Damit machen sie aus Sicht der US-Liberalen die Transformation vom Nutzlosen ins Schädliche.

Mit dem Ende der Bush-Regierung hatten die Neokonservativen in einschlägigen Think Tanks Zuflucht gefunden. Die Antideutschen waren nun eine unnütze Erblast, wie die glücklosen deutschen Kommunisten, die im Hotel Moskau saßen und nicht wussten, ob sie per Genickschuss oder im Gulag enden würden. Den Demokraten sind die Antideutschen sowieso suspekt, da sie nur knapp am anti-schwarzen Rassismus vorbeischrammen. Konservative Amerikaner aus dem Heartland mögen deutsche Traditionen; das Oktoberfest, Wiener Schnitzel und Lederhosen. Für die sind Antideutsche bizarre Selbsthasser. Die Frage, warum gehen die Antideutschen nicht nach Amerika, wenn sie das so toll finden, ist einfach zu beantworten: weil die da keiner will.

Das einzige Interesse, das der militärisch-industrielle Komplex der USA an den Antideutschen haben könnte, ist ihr Talent, die deutsche Linke zu spalten. Denn das können sie gut; wo auch immer die Antideutschen sich einbringen, fliegen bald darauf die Fetzen, innerparteiliche Streitereien brechen aus, Wortführer legen seltsame Wendungen hin und Parteien verschwinden unter der Fünf-Prozent-Hürde und dann ins politische Nirwana.

Die letzte linke deutsche Initiative, die im amerikanischen Sicherheitsapparat auf Misstrauen stieß, war die Piratenpartei, die mit Wikileaks und Julian Assange aufstieg, die Kriegsverbrechen der USA in Afghanistan enthüllte und die Depeschen von US- Diplomaten veröffentlichte. Als Ed Snowden die Überwachung durch die NSA offenlegte – etwa das Anzapfen von Merkels Handy – kochte die Stimmung über. 2013 drehten die US-Journalisten Glenn Greenwald und Laura Poitras den Film Citizenfour, der die Geschichte von Snowden erzählt. Poitras lebte in Berlin, weil sie fürchtete, dass der US-Sicherheitsapparat ihr Filmmaterial beschlagnahmen könnte. Unterstützt wurden sie von Deutschen wie Daniel Domscheit-Berg, dem ehemaligen Weggefährten von Assange und Geschäftsführer der Piratenpartei Brandenburg, die damals auf einem nicht zu stoppenden Höhenflug war.

Dann kam Anne Helm. Die bekennende Antideutsche war ebenfalls prominentes Mitglied der Piratenpartei. Im Februar 2014, zum Jahrestag der Bombardierung von Dresden twitterte Helm ein Foto von zwei nackten Frauen mit bemalten Brüsten, die »Bomber Harris« für die Zerstörung der Stadt danken. Eine davon war Helm, die andere die antideutsche Piratin Mercedes Reichstein. Als ob das noch nicht reichte, sekundierte ihnen Julia Schramm, ebenfalls ein antideutsches U-Boot bei den Piraten. Schramm setzte den Tweet »Sauerkraut, Kartoffelbrei – Bomber Harris, Feuer frei« nach. Und Helms heutiger Ehemann und Mit-Pirat Oliver Höfinghoff twitterte, ganz auf Goldhagen-Linie, vom »deutschen Tätervolk«.

An der Vernichtung von Dresden arbeiten sich Antideutsche gerne ab – so sendeten die Ruhrbarone einen lustigen Tweet zur Temperatur in Dresden im Februar 1945: 950 Grad. Reichstein, die sich den russischen Femen-Frauen zugehörig fühlt (ein Gefühl, dass diese nicht teilen) fackelte sogar selbst ein bisschen: Sie warf einen Brandsatz auf die russische Botschaft. Daraufhin setzte ein formidabler Shitstorm ein, begleitet von dem üblichen Opfergetue der drei Frauen. Das mutierte zügig in einen parteizerreißenden Zwist. Viele Piraten, die sich für Freiheit und Bürgerrechte engagiert hatten und nicht für organisierten Massenmord, traten aus; ganze Landtagsfraktionen wandten sich ab. Als die Systemadministratoren die Server ausschalteten, versanken die Piraten im Meer, denn praktisch begabt sind die Antideutschen nicht.

Im Jahr 2014, als Citizenfour herauskam, hätten die Piraten einen Siegeszug antreten sollen, vergleichbar mit den Grünen nach Tschernobyl. Stattdessen versenkten sie sich selbst im Streit um einen Kriegsverbrecher wie Harris, den woke Briten inzwischen vom Podest stoßen. Ist es wirklich Zufall, dass die Piraten gerade zu dem Zeitpunkt implodieren, an dem der US-Überwachungsapparat am nervösesten ist? Wer weiß. Natürlich wäre es möglich, dass drei dumme antideutsche Mädels aus Versehen große Politik gespielt haben. Jedenfalls, wenn die CIA eine derart präzis gesteuerte Cointelpro-Operation organisieren könnte, warum kriegt sie das dann bei den Islamisten nicht hin?

Nach diesem Fiasko enterten die antideutschen Piraten die Linken. Dort schlugen sie erstmals auf dem Parteitag in Magdeburg von 2016 Wellen, als ein selbsternannter Antifaschist namens G. der Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht eine Torte ins Gesicht warf und sie »nationalistische Abweichlerin«, beschimpfte. Wagenknecht, die heute bei der Linken kein Amt mehr hat, ist eine der beliebtesten Politikerinnen in Deutschland, eine der wenigen, die für die Rechte der Arbeiterklasse eintritt. G. war für das antideutsche Blog Straßen aus Zucker akkreditiert, das von der Rosa-Luxemburg-Stiftung alimentiert wird. Er soll auch Mitglied bei der bereits erwähnten »AG No Tears for Krauts« sein. Seinen weiteren politischen Werdegang habe ich nicht verfolgt, aber in ein paar Jahren werden wir wissen, ob die Linke noch im Bundestag ist. Mitte September sind sie bei sechs Prozent – die Hälfte ihres einstigen Höchststandes.

Bomber Arthur Harris ist übrigens auch für die Bombardierung der irakischen Zivilbevölkerung im britischen Kolonialkrieg von 1922 verantwortlich. Aber noch keine Antideutsche ist auf die Idee gekommen, sich mit bunt bemalten Möpsen vor eine Moschee von Bagdad zu setzen und Bomber Harris zu danken (oder auch George W. Bush), obwohl die ja alle so araberkritisch sind. Es ist wirklich schade, dass die Antideutschen nicht international denken.

Mit Donald Trump sind die Antideutschen in eine Krise geraten. Zwar ist Trump mit dem langjährigen israelischen Premier Bibi Netanyahu eng befreundet und gerierte sich offen antideutsch, was heißt: gegen Angela Merkel, gegen die deutsche Einwanderungspolitik und gegen die deutscheste Ikone überhaupt, die bezopfte Greta. Aber das ist leider nicht die Art von Antideutschtum, das die Antideutschen mögen, insoweit sie noch nicht zur AfD abgewandert sind. Schon gar nicht mag das die gewöhnliche, Deutschland-schlechtfindende Linke. Überdies steht der US-Präsident dem Spektrum der weißen Übermenschen – Ku-Klux-Klan-Männern, Skinheads, Proud Boys – ein bisschen zu nahe. Ab einem gewissen Punkt ist es einer breiteren Öffentlichkeit schwer zu vermitteln, Politiker wie Trump zu hofieren und sich trotzdem als Antifaschist zu bezeichnen. Selbst der stets meinungsstarke Broder weigerte sich, seinem Kollegen Jan Fleischhauer, damals noch beim Spiegel, etwas Nettes über Trump als Zitat zu liefern. Sich vor jemanden stellen, der Journalisten als Feinde des Volkes bezeichnet? Nee, bei aller Liebe, aber das sei ihm zu verrückt, sagte er.

Hingegen fühlte sich das liberale Establishment in den USA mit Trump zum ersten Mal dazu veranlasst, die deutsche Geschichte gegen die eigene Regierung ins Feld zu führen und den US-Präsidenten und seine Anhänger in die Nazi-Ecke zu stellen. »Trump ist Hitler«-Vergeiche wuchsen aus dem Boden wie atomverseuchte Pilze nach Tschernobyl, sogar bei seriösen Zeitungen wie der New York Times und der Washington Post. Um es mit George Lucas zu sagen: Die Nazikeule schlägt zurück. Aber Trump ist nur der Anfang. Die Stimmung bei seinen Wählern – von denen viele glauben, er sei noch der heimliche Präsident – hat sich nicht geändert. Wenn die Rechten einen charismatischen Kandidaten aufstellen, der nicht alt, dick und weniger offensichtlich ausschließlich an seinem eigenen ökonomischen Fortkommen interessiert ist, könnte es in den USA noch ganz anders krachen. Aber keine Sorge, die Antideutschen machen auch das mit.

Die meisten linken deutschen Bewegungen sind heute entweder im Obskuren versackt oder sie sind Mainstream. Mit Corona haben sich die meisten Linken nachhaltig mit dem deutschen Staat versöhnt und nun kann ihnen der Beamtenapparat gar nicht kräftig genug durchgreifen, vor allem, wenn sie im Risikoalter sind. Die Grünen erinnern sich nur noch ab und zu an ihre antideutschen Wurzeln, etwa, wenn sie das Wort »Deutschland« aus dem Wahlprogramm streichen wollen. Sie solidarisieren sich mit amerikafreundlichen kosovarischen Terroristen gegen postkommunistische Serben, fliegen zum Eisessen nach Kalifornien und werden bei transatlantischen Vereinen herumgereicht.

Volker Beck spricht auf der Jahreskonferenz von AIPAC, dem American Israel Public Affairs Committee. Ralf Fücks hat das Zentrum Liberale Moderne gegründet, zu dessen Gesellschaftern Eckart von Klaeden gehören, der frühere Leiter der Abteilung Politik der Daimler AG, der ehemalige US-Botschafter John Kornblum sowie Deidre Berger vom Büro des American Jewish Committee in Berlin. Annalena Baerbock versprach, der umstrittenen Nord-Stream-2-Gas-Pipeline den Hahn abzudrehen (die für die USA eine ökonomische Konkurrenz ist), unterstützt die Stationierung von US-Truppen und findet, Deutschland solle mehr Geld in die Rüstung stecken. Auch Robert Habeck forderte, Waffen in die Ukraine zu schicken, was Teil der außenpolitischen Linie der USA ist. Und die Heinrich-Böll-Stiftung verlangte einmal sogar zusammen mit der Atlantik-Brücke, dem German Marshall Fund und dem Aspen Institute die Aufrüstung der Bundeswehr sowie US-Atomwaffen für Deutschland. Eine erstaunliche Wandlung allenthalben. Soft Power eben.

Für manche hat es sich gelohnt. Joschka Fischer, der die Deutschen davon überzeugte, auf dem Balkan zu kämpfen und danach die Neocons im Stich ließ, lebt heute in einer millionenschweren Villa in Berlin-Grunewald. Er ist Mehrheitsgesellschafter der Beratungsfirma JF&C, wo er PR-Konzepte für Nachhaltigkeit an Siemens, RWE und BMW verkauft. Seine Partnerin ist Madeleine Albright von der Albright Group, eine Consultingfirma für strategische Beratung. Die frühere Außenministerin der USA fand, 500 000 tote Kinder im Irak seien kein zu hoher Preis für die Sanktionen.

Das andere Erbe der Antideutschen aber sind die KB-Funktionäre und (Ex)-Grünen, die ins rechte Lager abgedriftet sind. Jürgen Elsässer leitet die Zeitschrift Compact, die als Sprachrohr der AfD gilt. Offenbar ist es vom anti-arabischen Israelverteidiger zum anti-arabischen Immigrationsgegner doch nicht so weit. Joscha Schmierer verteidigte den Irakkrieg. Matthias Küntzel setzt sich Vollzeit für einen Waffengang gegen den Iran ein. Und Broder hat zarte Sympathien für die AfD entwickelt. »Wenn Sie meine Stimme haben wollen, dann müssen Sie mich überzeugen«, sagte er 2019 vor der AfD-Fraktion im Bundestag. »Ich finde es prima, dass Sie das Existenzrecht Israels bejahen. … Aber das reicht mir nicht, ich erwarte mehr. Sie müssten Ihre Begeisterung für Russland und Putin dämpfen, Ihre USA-Allergie kurieren, Zweideutigkeiten in Bezug auf die deutsche Geschichte unterlassen und sowohl Ihren Mitgliedern wie Wählern klaren Wein darüber einschenken, dass Sie kein Depot für kontaminierte deutsche Devotionalien sind.«

Und zum Erbe der Antideutschen gehören letztlich auch die Reichsbürger, die ebenfalls die Bundesrepublik und ihre Gesetze ablehnen und mit schwarz-weiß-roten Flaggen die Stufen des Reichstags stürmten, etwas, was Trumps Anhänger einige Monate später im großen Stil nachmachen sollen. Immerhin, schwarz-weiß-rot ist als Farbgebung für eine Flagge doch so viel klarer als schwarz-rot-senf.

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