Читать книгу Abenteuer Halbmond - Evadeen Brickwood - Страница 7
Kapitel 1
ОглавлениеEine warme Brise trägt mich sanft hierhin und dorthin. Stille. Nichts. Nur Wärme. Eine Stimme dringt zu mir durch, holt mich zurück. Ruhig und bestimmt.
“Drei, Sie kommen zurück - zwei, Sie werden jetzt aufwachen - eins, Sie öffnen Ihre Augen und können sich an alles erinnern... ”
Dr. Albrechts Stimme erreichte mich wie aus weiter Ferne. Die Bilder hinter dem Nichts verblassten. Dr. Albrecht - ich erinnerte mich an ihn. Er hatte mich hypnotisiert.
Gerade noch hatte ich mich als zwölfjährige Version meiner Selbst gesehen. Dunkelblond, schlank, mittelgroß, volle Lippen und graue Augen. Jung und verletzlich. Traurig. Eigentlich mochte ich mich mit zwölf.
“Das haben Sie gut gemacht, Isabell,” lobte Dr. Albrecht und schaltete den Kassettenrecorder ab. Folgsam öffnete ich meine Augen und nahm einen tiefen Atemzug.
Dr. Albrecht sah auf seine Armbanduhr, dann auf die Wanduhr. Wahrscheinlich, um sicherzugehen, dass es tatsächlich schon so spät war. Es wurde kühler, roch nach Bohnerwachs. Der bequeme Liegesitz, auf dem ich die letzte halbe Stunde verbracht hatte, drückte mich auf einmal hier und da.
“Mhmm.” Ich reckte und streckte mich ausgiebig. Es dauerte immer eine Weile bis ich mich wieder an ‘Heute’ gewöhnt hatte.
‘Heute’ - das war im Sommer 1977, in meiner Heimatstadt Karlsruhe.
Ich war schon fünfzehn und meiner Meinung nach ein ganz gewöhnlicher Teenager. Ich machte Sport, mochte Musik, hatte ab und zu einen Pickel und lehnte mich gegen meine Eltern auf. Deswegen war ich hier. Meine Eltern waren nämlich der Meinung, ich sei zu ‘schwierig’. Rebellisch sogar. Dr. Albrecht sollte dem Abhilfe schaffen.
Verkehrslärm schallte zu uns herauf. Der Kaffee auf dem breiten Arztschreibtisch roch schal und die Uhr an der weißen Wand gegenüber zeigte 14.30 Uhr an. Eine Straßenbahn klingelte. Die Gegenwart hatte mich wieder.
Diese neuartige Hypnose-Behandlung dauerte nun schon ganze zwei Monate und förderte so einiges aus meiner frühen Kindheit zu Tage. In den siebziger Jahren wurden gern solche neuen Methoden ausprobiert - man fand das wohl modern. Mir sollte es recht sein.
“Wir haben noch Zeit, uns die wichtigsten Stellen auf dem Band anzuhören. Und ich habe da noch ein paar Fragen an Sie.”
“Klar doch Doc,” sagte ich keck.
Ich setzte mich auf und sah zu, wie er sich mit dem Kassettenrecorder zu schaffen machte. Soweit ich es beurteilen konnte, war Dr. Albrecht schon steinalt.
Mindestens dreißig. Sein schütteres Haar und die Krähenfüße um die bebrillten Augen waren ein klares Zeichen fortgeschrittenen Alters. Außerdem trug er einen weißen Arztkittel und sprach mich immer mit ‘Sie’ an. Er musste ziemlich clever sein und erinnerte mich an ein Poster von Albert Einstein. Nur dass er nicht so verrückte Haare hatte. Dr. Albrecht war der einzige Erwachsene, der mir richtig zuhörte.
Das mit der neuen Therapie war an sich ‘ne tolle Sache. Am Anfang hatte ich natürlich keine Lust dazu gehabt, aber dann gewöhnte ich mich dran. Unter Hypnose erlebte ich alles genauso wie damals, nur dass ich eben dabei die Kontrolle hatte. Hinterher redeten wir immer darüber. Diesmal hatten die Erinnerungen mit einem Telefongespräch begonnen, das ich als Zwölfjährige mit meinem Vater führte.
‘Papa, sie liegt einfach nur im Bett und sagt nichts und starrt die Wand an. Ich hab’ Angst. Komm’ nach Hause!’
‘Bist du sicher, dass sie nicht einfach nur wieder schmollt? Ich habe soviel Arbeit heute. Warst du wieder frech zu ihr?’
‘Nein, ganz bestimmt nicht. Wir haben nichts angestellt.’
Meine ältere Schwester Evelyn fing zu heulen an und meine kleine Schwester Paula verkroch sich unter dem Esstisch.
‘Hat sie was eingenommen?’
Das wussten wir nicht. Sie nahm immer so viele Pillen. Papa beeilte sich nach Hause zu kommen und ein Ambulanzfahrzeug nahm meine Mutter mit. Wir fühlten uns schuldig, weil Papa nicht mit uns redete. Meine Mutter war danach für zwei Monate in ‘Kur’ gegangen.
Während dieser Zeit schickte uns die Krankenkasse eine heftige Walküre von einer Pflegerin, die sich um die Familie kümmerte. Sie hatte eine unmoderne Hochfrisur und kommandierte uns mit schriller Stimme herum… Dr. Albrecht stoppte die Aufnahme.
“Wie empfanden Sie die Abwesenheit ihrer Mutter?” fragte Dr. Albrecht.
“Hmm, irgendwie schuldig und ich mochte die Pflegerin noch weniger als meine Mutter,” meinte ich und beantwortete noch drei oder vier weitere Fragen. Ich hatte es gelernt meine Gefühle in Worte zu fassen. Das war gar nicht so übel.
“So, ich glaube das reicht für heute,” sagte der gute Doktor auf einmal.
Ich sah verdutzt zur Wanduhr auf. Es war schon kurz nach drei. Höchste Zeit. Der Psychologe setzte noch einen letzten Kringel hinter seine Notizen und begab sich wie immer in den ledernen Stuhl hinter dem Schreibtisch.
“Tja, wir sind fast am Ende unserer Therapie angelangt,” meinte er auf einmal und warf seinen Kugelschreiber in eine flache Glasschale. “ Ein voller Erfolg. Sie können stolz auf sich sein, Isabell. Wir brauchen noch eine…vielleicht zwei Sitzungen.”
“Ja, vielleicht. Ich muss jetzt gehen,” sagte ich ungeduldig und schlängelte mich aus dem weichen Liegesessel heraus. “Morgen schreiben wir eine wichtige Klausur.”
Dr. Albrecht schob seine Goldbrille zerstreut den Nasenrücken hinauf. Er wollte anscheinend noch etwas sagen. Ich pflanzte mich zappelig auf den Holzstuhl vor dem Schreibtisch und sah ihn erwartungsvoll an.
Kaum jemand wusste von der Therapie und ich spreche eigentlich nie mit meiner Familie darüber. Das war mir zu peinlich. Die Mädchen in meiner Klasse waren viel zu unreif, um sowas wie Hypnose zu verstehen. Die hätten sich bestimmt über mich lustig gemacht. Nur meine beste Freundin Renate wusste davon und war okay damit.
‘Ist das nicht Klasse? Ein richtiger Psychologe,’ hatte ich ihr nach der ersten Sitzung begeistert berichtet.
‘Wozu brauchst du einen Psychologen?’ Sie sprach das Wort aus, als handle es sich um verdorbenes Essen.
“Na, du weißt ja, meine Mutter und der ganze Mist.”
‘Warum geht sie dann nicht zum Psychologen?’
‘Vielleicht weil sie erwachsen ist?’
Vielleicht sollte ich nicht mal mehr Renate von meiner Mutter erzählen. Sie könnte noch denken, ich sei genauso verrückt.
‘Das ist der einzige Grund? Erwachsene haben wohl immer recht, was?‘
‘Was denn sonst?’
‘Wie bekloppt. Ich bin froh, dass meine Mutter einigermaßen Ok ist.’
Ihre Mutter war geschieden und arbeitete halbtags. Renate war ein Schlüsselkind, das von Vollzeit-Müttern gebührlich bedauert wurde.
‘Ja, du hast’s gut.’
‘Trau’ keinem über dreißig,’ hatte Renate mich gewarnt. ‘Du kannst das nicht alles für bare Münze nehmen was der Typ dir verklickert.’
Ich vertraute Dr. Albrecht aber trotzdem.
Renate war dünn und hatte lange dunkel-gefärbte Haare. Einfach Klasse. Das einzige Mädchen in der Klasse, das es wagte sich die Haare zu färben. Ihre dunklen Augen waren fast zu groß für das kleine Katzengesicht und der schmale Mund zeigte oft einen zynischen Zug. Das war eben ihre Art mit einer unfreundlichen Welt umzugehen. Zynisch war gut. Renate war nicht so verbiestert wie andere Mädchen, nur ein wenig spröde eben. Es gab unserer Freundschaft genau die richtige Distanz.
‘Frau Beilstein ist hier,’ knarrte die Sprechanlage auf dem Schreibtisch. Dr. Albrecht drückte auf einen Knopf. “Danke Elisabeth. Eine Minute noch.” Was mir der gute Doktor in dieser ‚Minute‘ sagte, war verblüffend: weil ich ein so gutes Subjekt sei, wolle er die Sitzungen fortsetzen. Inoffiziell. Wie bitte?
“Sie würden sich hervorragend für meine experimentellen Versuche eignen, Isabell. Als Erweiterung meiner Arbeit mit Jugendlichen möchte ich Patienten weiter zurückführen. Vielleicht haben Sie schon mal was von Regression gehört.”
Ich dachte nach. “Nein, was ist das denn?”
Um die Sache zu beschleunigen, erklärte er es mir kurz und bündig. Wir hatten nur eine Minute Zeit! Ich rutschte auf dem Stuhl hin und her.
“Sie meinen – bevor ich geboren wurde?”
“Sozusagen. Ich werde ein Buch darüber schreiben.”
“Sozusagen? Aber das ist doch unmöglich! Wir leben doch nur einmal.”
“Das ist ja genau das, was ich erforschen möchte. Mit Ihrer Hilfe. Es gibt da schon einige dokumentierte Fälle in den Vereinigten Staaten. Dr. Stephenson zum Beispiel. Sie sind zwar noch minderjährig, aber wir könnten ihr Geburtsdatum und den Namen ändern. Nur zu Forschungszwecken.”
Aha, ein Geheimnis! Das nahm ja eine interessante Wendung. Dr. Albrecht hatte wahrscheinlich jedes erdenkliche Buch zu dem Thema gelesen. Er erzählte mir von einer Frau, die sich doch tatsächlich an ein früheres Leben erinnerte. Das konnte ich bestimmt auch.
“Was ist, wenn man in...Timbuktu gelebt hat, spricht man dann auch…”
“Arabisch? Vielleicht. Das heißt Xenoglossie. Wenn man unter Hypnose in einer Fremdsprache spricht, die man nie gelernt hat.”
Xenoglossie - ein ziemlicher Brocken von einem Wort. Dass es so etwas überhaupt gab! “Hmm, weiß nicht so recht. Hört sich ‘n bisschen komisch an. Außerdem muss ich viel auf die Schule lernen,” protestiere ich halbherzig.
“Ich überlasse Ihnen die Entscheidung. Wenn Sie nicht wollen, finde ich schon jemanden. Die Schule geht ja vor. Das ist vollkommen normal.”
Ich hasste das Wort ‘normal’.
“Warum ausgerechnet ich? Haben Sie die anderen Patienten auch gefragt? Ich bin doch erst Nummer 13 auf Ihrer Liste von ‘schwierigen Jugendlichen’.” Das war ironisch gemeint, das mit der 13.
“Ja, ich werde es auch mit anderen Patienten versuchen. Aber Sie eignen sich dazu bisher am besten, denke ich.” Denkt er!
“Klasse, Ihr bestes Versuchskaninchen.”
“Sozusagen.”
“Ich muss mir das erst mal überlegen.”
“Natürlich, nehmen Sie sich Zeit, Isabell. Nur nicht zu lange. Bis nächstes Mal? Elisabeth, Sie können jetzt —”
Das Gespräch hatte natürlich länger als eine Minute gedauert. Eher zehn. Ich war hervorragend geeignet und meine Mutter würde die Motten kriegen, wenn sie davon wüsste. Hah. “Ok, ich hab’s mir überlegt,” sagte ich schnell. “Ich mach’ mit.”
Der Doktor brauchte mich. Nicht als Patientin, sondern als sein bestes Versuchskaninchen. Nicht die anderen. Mich. Die fünfzehnjährige Isabell. Ich würde in seinem Buch vorkommen. Das machte mich irgendwie stolz. Nur unter einem anderen Namen und älter, aber das war ja egal. Durfte sowieso niemand was davon wissen.
Wir vereinbarten noch einen Termin am folgenden Donnerstag um die gleiche Zeit. Dann drängte ich mich an der fleischigen Frau Beilstein vorbei und sauste die breite Treppe hinunter. Unten angelangt öffnete ich flugs das Schloss an meinem Fahrrad und wollte mich schon auf den Sattel schwingen, da musste ich an die gerundete Figur meines anderen Ichs denken.
Ich sah kritisch an mir herab. Von Rundungen und einem wohl entwickelten Busen war an meinem schlanken Körper nicht viel zu sehen. Zwei sanfte Wölbungen wo andere Mädchen in meinem Alter schon ordentlich was drauf hatten. Egal, beschloss ich, wenigstens kann ich Sport machen!
Als ich so auf meinem Fahrrad durch den Nachmittagsverkehr nach Hause strampelte, dachte ich nochmal über alles nach. Ich musste kichern und wäre fast bei Rot über die Ampel gefahren. Eine Straßenbahn klingelte wie wild.
Dr. Albrecht machte sich viel Mühe, die frühen Erinnerungen aus mir herauszulocken. Endlich interessierte sich mal jemand für meine Gefühle. Eine tolle neue Methode, das mit der Hypnose. Dabei hatte ich mich am Anfang total dagegen gesträubt. Die Fahrradreifen knatterten über die Bordsteinkante. Ich nahm eine Abkürzung und fuhr zu dicht an einer alten Frau vorbei, die ihren Dackel spazierenführte.
“He, du Lümmel!”
“Tschuldigung!” rief ich halbherzig zurück.
Hier in der Gegend gab es nur Wohnungen. Ich mochte die alten Sandsteinbauten entlang der breiten Straße lieber. Hier wohnten die Reichen.
Bestimmt waren die Räume groß und elegant mit riesigen Fenstern und Balkonen, edlen Teppichen und Möbeln, von denen man nur träumen konnte. Wir dagegen wohnten in einer Sozialwohnung im billigen Viertel, weil meine Eltern drei Kinder hatten.
Ich bog um die vertraute Ecke in unsere Straße und dachte zum hundertsten Mal, wer wohl die idiotische Idee hatte das Haus Nummer 8 senfgelb anzustreichen. Wenn man hoch blickte bewegten sich Spitzengardinen von unsichtbarer Hand. Ich legte das Fahrrad an die Kette und stieg die Treppe hoch. Zwei Stufen auf einmal.
“Isabellsche!” Ich wäre fast in Frau Speidel hineingestolpert, die Tratschtante von ganz oben. Sie fügte meinem Namen immer ein -sche an. Eigentlich an die Namen aller, die sie als Kinder ansah. Frau Speidel gehörte zu der Gruppe Erwachsener, die es sich anscheinend zum Ziel gemacht hatten, mir mein Leben zu erschweren.
“Isabellsche! Wart e Momentle...”
Sie musste ihr halbes Leben im Treppenhaus verbringen, so oft wie man sie dort antraf. Das Treppenhaus war wie die Hauptstraße in einem senkrechten Dorf. Frau Speidel wusste so ziemlich alles über jeden im Haus. Ach was, alles über jeden in der ganzen Straße. Und über alle Filmschauspieler noch dazu.
“Oh, tut mir leid, wiederseh’n Frau Speidel.”
Ich schaffte es, mich auf den nächsten Treppenabsatz zu retten. Außer Sichtweite war es leichter sich aus dem Staub zu machen.
“Also... habt ihr denn so lang Schul’?” rief sie neugierig hinterher.
“Ja.”
“Also weisch,... zu meiner Zeit…” Da ließ ich schon die Tür zur Wohnung ins Schloss fallen. Der Geruch von Eintopf.
“Hast du was gegessen?” fragte meine Mutter aus der Küche. Sie wollte reden. “Ja,” log ich und verzog mich schnell ins Kinderzimmer.
Ich konnte auf keinen Fall die Therapie diskutieren. Nicht nur, weil ich keine Lust dazu hatte. Meine Eltern durften auch nichts von dem Experiment bei Dr. Albrecht erfahren. Mit denen konnte man sowieso nicht reden. Sie waren meiner Meinung nach total verbohrt. Konventionell und engstirnig.
Mit fünfzehn hatte ich schon eine gute Vorstellung davon, was das bedeutete. Schließlich redete jeder über Konventionen. Meine Eltern, das waren Walter und Hannelore Bertrand. Kein ideales Ehepaar.
Papa arbeitete an der Technischen Universität und kam jeden Tag zum Mittagessen nach Hause. Abends reparierte er oft noch Fernseher, um mehr Geld zu verdienen. Drei Kinder waren ein teurer Spaß. Er gab seinem ‘Vatersein’ die Schuld an denen sich lichtenden Haupthaaren und die Kochkunst meiner Mutter war für seine füllige Mitte verantwortlich. Königsberger Klopse vor allem, seine Lieblingsspeise. Am Anfang hatte ich sie auch mal gemocht, aber so oft wie die’s bei uns gab, hatte ich meine Meinung jetzt geändert. Ich wollte Müsli.
Hinter der Bezeichnung ‘technischer Angestellter’ verbarg sich der wichtigste Mann an der Uni. Als wir noch jünger waren, sieben oder acht, hatte er Evelyn und mich manchmal mit zur Arbeit genommen. Sein Auto hatte einen angestammten Platz in der Tiefgarage und Papa hatte sein eigenes Büro mit Werkstatt. Bunte Kabel mit Klemmen hingen von Regalen voller Werkzeuge und Schrauben herab.
Er erklärte uns geduldig, was er so machte. Papa konnte einfach alles und wurde oft angerufen. Dann musste er gehen.
Wir drehten uns auf dem Schreibtischstuhl links und rechts und tranken Cola für 50 Pfennige aus dem Flaschenautomaten im gebohnerten Gang. Die große schwenkbare Lupe über dem Schreibtisch war unser Lieblingsspielzeug. Wenn man die kleine Lampe daran anknipste, war darunter alles riesig zu sehen. Zigarrenstummel im Aschenbecher, Schrauben und Briefmarken. Papa hatte uns früher gern um sich gehabt. Etwas davon war manchmal noch zu spüren.
Er liebte seinen Schrebergarten, wo er in einem großen Beet die Atmosphäre von Masuren nachempfand. Mit Pflanzen aus dem nahen Schwarzwald. Papa war in Masuren aufgewachsen und sehnte sich oft nach seiner Heimat zurück. Der Schwarzwald erinnerte ihn an Masuren, sagte er.
Meine Mutter war Hausfrau. Eine, die immer adrette Schürzen trug, immer kochte und ständig unsere Vierzimmer-Wohnung putzte. Ihre blonden Haare hatten wohl mal füllig geglänzt, aber zu viele Dauerwellen, die jede anständige Hausfrau unbedingt benötigte, hatten ihnen den Garaus gemacht. Das Ergebnis erinnerte mich eher an Schafwolle. Manchmal kam ich aus der Schule nach Hause und fand das Wohnzimmer abgeschlossen vor.
‘Ihr macht mir nur alles wieder schmutzig und ich habe mich den ganzen Morgen mit den Sofas abgeplagt,’ sagte sie dann mit wenigen Variationen, und sowas wie ‘Isabell, du kannst gleich den Mülleimer runtertragen und dann das Geschirr spülen. Komm, komm, keine Müdigkeit vorschützen!” sagte sie mit so vielen Variationen, dass ich schon gar nicht mehr zuhörte. Sie putzte auch eifrig die Fassade der Familie, denn ‘was sollen denn die Leute denken...‘. Als ob das irgendwen interessierte.
Dabei war meine Mutter nicht immer Hausfrau gewesen. Sie trauerte ihren glorreichen Tagen als Oberschwester im Kurkrankenhaus Baden-Baden nach, von denen wir natürlich jede Einzelheit kannten.
‘Ja, Emmerich Kalman war einer meiner Patienten. Da, die Vase hat er mir zum Abschied geschenkt. Nein die mit den Fischen drauf. Nur die reichsten und wichtigsten Leute kamen zum Kuraufenthalt nach Baden-Baden.’ Wir hatten keine Ahnung wer Emmerich Kalman war. Oder die meisten anderen Namen, die sie immer einfließen ließ .
Unsere Mutter liebte so langweilige Radiomusik von Tschaikowsky und dem Holzschuhtanz, und sie liebte es, uns im Befehlston bei unseren häuslichen Pflichten anzutreiben. Am meisten hasste ich Fensterputzen. Sie duldete keine Widerrede.
Wenn wir es wagten krank zu werden, wurden wir tagelang ins Bett gesteckt und fachgerecht gepflegt. Wir bekamen Haferschleim und Kamillentee und Besuchszeiten waren begrenzt. Da war es besser gesund zu bleiben.
Mittlerweile wusste ich, dass meine Mutter wegen ihrer schwierigen Kindheit so war wie sie war. Anscheinend hatte sie so eine Art Vertrag mit Papa geschlossen, dass er sie immer gegen die Kinder unterstützen musste, egal was.
Wenn sie einen ihrer Wutanfälle bekam, hatte sich Klein-Isabell in Schränke verkrochen. Bestimmt hatten meine Magenkrämpfe und Kopfschmerzen etwas damit zu tun. Dann versteckte ich mich einfach so, auch wenn sie mal wieder gute Laune hatte. Ich traute ihr einfach nicht.
Als ich älter wurde, begann ich mich aufzulehnen.
‘Du hast jedes Recht dich zu wehren,’ hatte Renate gesagt, als ich ihr mal einen besonders blauen Fleck zeigte. “Warum sollst du ausgerechnet Fensterputzen, wenn du zu müde dazu bist und auf die Klausur lernen musst?”
Und das tat ich dann auch. Ich wehrte mich. Das heißt, ich flüchtete.
Bei jeder Gelegenheit fuhr ich mit meinem Klappfahrrad in den Schlosspark, der sich in meilenweiter Freiheit ausbreitete. Endlich Ruhe! Der Park nahm mich in seine grünen Arme, wenn ich Sorgen hatte, und tröstete mich. Ich liebte die Ruhe, ich liebte die Anlagen, den See und die bunten Azaleenbüsche. Hier spielte ein paar geduldigen Zuhörern auf meiner Gitarre vor. ‘If I had a Hammer’ und ‘Blowing in the Wind‘ und all so was.
Danach schwang ich mich wieder auf den Sattel und fuhr mit der baumelnden Gitarre am Lenkrad wieder nach Hause. Am liebsten hätte ich ja im Park gewohnt. In einem schönen Haus, viel kleiner als das Schloss. In einem der Teehäuser, vielleicht. Das wäre dann mein richtiges Zuhause gewesen.
Meine Schwester Evelyn war ein Jahr älter als ich und schon fast genauso launisch wie meine Mutter. Paula war drei Jahre jünger und das verzogene Nesthäkchen. Beide hatten im Gegensatz zu mir eine helle, sommersprossige Haut und hellblonde Haare. Genau wie unsere Mutter.
Kein Wunder also, dass ich ‘anders’ war. Ich sah anders aus, war unfügsam und aufmüpfig und hatte mich zum schwarzen Schaf der Familie entpuppt. Ein Teenager, der sich einfach nicht anpassen wollte. Ein Rebell.
Wir Kinder stritten uns meist genau wie unsere Eltern, aber oft handfest und unfair, mit Kinnhaken und Haareziehen. Irgendwann würde ich mein eigenes Haus haben, träumte ich, wenn ich im Schlosspark war. Dort würde es ruhig sein. Friedlich. Streiten verboten. Ich hatte die brillante Idee gehabt aus dieser Kriegszone wegzuziehen. Zu meiner Großmutter, die in einer kleinen Einzimmer-Wohnung zwei Häuser weiter wohnte.
Oma Bertrand war Papas 82-jährige Mutter. Eine ehrwürdige, calvinistische Witwe, die immer in lange schwarze Kleider und graue Schürzen gekleidet war. Oma Bertrand kam uns Kindern fast wie ein Dinosaurier vor, so alt war sie. Ihr dünnes weißes Haar war zu einem streng geflochtenen Knoten hochgenadelt, ihre Haut war verrunzelt und voller Altersflecken, aber ich liebte sie.
Mir machte es nichts aus. Sie mochte mich und meinte oft, wie sehr ich der Familie ihres gefallenen Mannes glich. Wie konnte ich sie da nicht lieben? “Es waren französische Hugenotten, mein Kind. Adelige, denen der Preußenkönig Friedrich Wilhelm II vor Generationen Land in Ostpreußen gegeben hatte. Dann mussten wir alles zurücklassen und vor den Russen flüchten.”
Die Geschichte mit der Flucht über die Danziger Bucht kannte ich schon auswendig. Angeblich waren die Bertrands ziemlich gutaussehende Adelige gewesen. Papa glich ein wenig einem jungen Marlon Brando. Das sagten zumindest alle. Nicht schlecht für mich.
Oma Bertrand lächelte zahnlos und seufzte, wenn sie sich an ihren Mann erinnerte, dem sie zehn Kinder geschenkt hatte. Sie sah dann fast wieder schön aus. In der Wohnung meiner Eltern ging derweil der Krieg für die Bertrands weiter.
“Sie zieht mir auf keinen Fall zu deiner Mutter. Du hast versprochen, sie in meinem Glauben zu erziehen. Außerdem ist Isabell viel zu jung, um auszuziehen,” hörte ich meine Mutter eines Abends aufbrausen, als ich mal wieder im Flur lauschte. Mein Herz sank. Ich durfte nicht zu Oma Bertrand ziehen.
“Na gut, Hannelore, wie du meinst.” Papa hatte offensichtlich keine Lust sich auf ein Streitgespräch einzulassen. “Dann zieht sie eben nicht zu meiner Mutter.”
“Vielleicht hat sie ja einen Gehirntumor.” Ich schnappte nach Luft.
“Hannelore, sie ist in der Pubertät. Da ist es doch normal rebellisch zu sein. Die Schule ist wohl auch anstrengend. Der Stoff wird ja immer schwieriger.” Papa faltete seine Tageszeitung zusammen und legte sie neben den Aschenbecher. Oje, ging jetzt wieder ein Streit los?
“Aber Evelyn und Paula schaffen ihre Schularbeit doch auch, und Magdas Tochter hat keine Probleme mit ihrer Schule. So ein braves Mädchen.”
Magda Pfeiffer arbeitete bei der Post und war ungeheuer langweilig. Außerdem war sie die einzige Freundin meiner Mutter. Wahrscheinlich, weil sie ihr nie widersprach. Papa hielt das auch für das Beste.
“Hast du gesehen, wie zornig Isabell mich heute angeschaut hat?” fuhr sie fort, so richtig schön in Fahrt. “Nach allem was ich für die Kinder tue. Undank ist der Welten Lohn. Sie meinte doch tatsächlich, dass Adam und Eva in der Bibel nur symbolisch gemeint seien. Kannst du das glauben?” zeterte meine Mutter weiter. “Wo sie nur solche Sachen herhat? Vielleicht sollte ich morgen gleich einen Termin beim Arzt machen.”
Ich hatte den Verdacht, dass es dabei weniger um mich ging. Sie hatte eine Schwäche für Ärzte.
“Na gut, wenn du meinst es sei unbedingt notwendig unsere Isabell wieder zu irgendeinem Quacksalber zu schleppen, dann mach’ das. Du hörst ja doch nicht auf mich.” Papa zündete eine Zigarre an. Süßlicher Rauch durchzog den Flur.
“Walter, wie kannst du so etwas sagen? Ich höre zu.”
“Ich habe dir doch gerade gesagt, dass mit ihr nichts verkehrt ist. Nur weil sie eine andere Meinung ist, hat sie noch lange keinen Gehirntumor. Vielleicht solltest du sie einfach in Ruhe lassen, dann gehen die Kopfschmerzen schon wieder weg.”
“Aha, jetzt ist es also wieder meine Schuld. Isabell bringt es immer fertig sich zwischen uns zu drängen. Wir zanken uns schon wieder wegen ihr. Ich arbeite mich schließlich in Grund und Boden für dich und die Kinder. Da darf ich wohl ein wenig Respekt erwarten.”
Meine Mutter fing an zu schluchzen. Es ging auf die gefährliche Grenze zu. Ich musste mich einschalten, sonst würden sie sich wieder stundenlang in die Haare kriegen. Ich platzte ins Zimmer und fing an wie ein Rohrspatz zu schimpfen.
“Könnt ihr euch mal einen Tag nicht streiten? Verdammt, da kann sich ja kein Mensch beim Lernen konzentrieren!”
Die beiden sahen mich verblüfft an.
“Da hörst du’s Walter,” rief meine Mutter. “Sie flucht und schimpft als wäre ich ihre Dienstbotin. Ihr gehört eine ordentliche Tracht Prügel!”
Mein Vater schickte mich mit einer Kinnbewegung aus dem Zimmer und musste sie trösten. Das Schluchzen verstummte. Mein Eingriff hatte gewirkt. Immerhin ging das Gespräch jetzt in normalem Ton weiter.
“Ich bin mir nicht sicher, dass Prügeln da einen Unterschied macht. Um ehrlich zu sein, glaube es macht es alles nur noch schlimmer.”
“Wieso? Mir hat das als Kind doch auch nichts geschadet.”
Mein Vater hüstelte wissend, aber es war sinnlos mit ihr zu diskutieren.
“Ich sehe schon, ich rede doch nur gegen die Wand. Ich brauche jetzt meine Ruhe,” sagte er. Papa nahm seine Pfeife und setzte sich hinten auf den Balkon, um wie so oft die Sterne anzusehen, während meine Mutter in der Küche mit dem Geschirr herumklapperte.
Meine Mutter setzte sich durch, sie war angeblich mit ihren ‘Nerven am Ende’. Ich musste wieder in die Klinik zu einer Untersuchung. Meine Patientenakte war sicher schon am Platzen. Mein schreckliches Benehmen wollte sich trotz der Schläge einfach nicht bessern. Außerdem ich hatte es gewagt, zurückzuschlagen. Das passte Papa wiederum nicht.
Alles nur wegen so einem blöden Buch.
Meine Mutter hatte das Buch ‘Die gute Ehe’, in dem Evelyn ein Kapitel über Sex entdeckt hatte, im Kühlschrank gefunden. Ich hatte es dort schnell versteckt, als sie zur Tür hereinkam. Über Sex wurde bei uns nie geredet und wir mussten uns eben anderweitig informieren.
‘Warum entschuldigst du dich nicht einfach?’ hatte mir Evelyn mal wieder vorgeworfen. ‘Du bist doch blöd, dich immer so stur zu stellen.’
Die hübsche, blonde Evelyn schluckte gewöhnlich ihren Ärger und Schmerz hinunter, was sie dann später an mir ausließ. Am liebsten verhöhnte sie mich vor ihren Freundinnen.
‘Was ist denn schon so schlimmes daran ein Buch zu lesen, das sogar noch ihr gehört?’
‘Darum geht es doch gar nicht. Du warst frech zu ihr. Willst du, dass sie Papa sagt, dass er dich schlagen soll, wenn er heute Abend von der Arbeit kommt?’
‘Ich werd‘s ihm erklären. Du kannst von mir aus nachgeben, aber ich werde das nicht tun!’ erwiderte ich trotzig und Evelyn gab seufzend auf.
‘Ach, lass sie doch einfach,” mischte sich Paula ein. “Die hat doch’n Knall.’ Paula verstand es hervorragend ihre eigenen ‘Sünden’ auf uns ältere Schwestern abzuschieben und wir mussten dann alles ausbaden.
‘Du musst gerade reden. Du Biest,’ rief ich aufgebracht.
Wir waren jetzt schon zu alt, um uns noch zu raufen, aber ich gab ihr meinen giftigsten Seitenblick.
Ich hatte das Buch dummerweise im Kühlschrank vergessen und es verschwand danach auf Nimmerwiedersehen. Unsere Aufklärung war damit noch lange nicht am Ende. Evelyn hatte schon ein anderes Buch über die Borgia-Päpste im Bücherregal entdeckt und es unter ihrer Matratze versteckt. Verwerflich, aber spannend. Meine Mutter schien nicht zu wissen, welcher Lesestoff da in ihrem Wohnzimmer lauerte. ‘Die gute Ehe’ war ein Kinderbuch dagegen.
Abends rastete unsere Mutter wie erwartet aus. Sie wartete noch nicht mal bis Papa von der Arbeit nach Hause kam. Das konnte ich mir nicht mehr gefallen lassen. Ich schlug zum ersten Mal zurück und es blieb natürlich nicht beim Hausarrest.
Der Kinderarzt konnte nichts Ungewöhnliches finden. “Kopfschmerzen und Magenkrämpfe sagen Sie, Frau Bertrand? Vielleicht sind die Symptome bei ihr ja psychosomatischer Natur. Und das aggressive Verhalten ist ja heutzutage nichts Neues. Gehen Sie mit Isabell zur Elternberatung, da kann man Ihnen vielleicht weiterhelfen.”
“Ja, wenn Sie meinen Herr Doktor,” säuselte meine Mutter. “Sie wissen ja wovon Sie sprechen.”
Wie zu erwarten war, befolgte sie den Rat des charmanten Arztes und ich wurde vorgeladen.
Die Sozialarbeiterin, die sich auf ‘schwierige Jugendliche’ spezialisierte, sah ganz und gar nicht so aus, wie ich mir eine Sozialarbeiterin so vorstellte. Im strengen Kostüm nämlich, mit hochgesteckten Haaren und verkniffenem Mund.
Diese Sozialarbeiterin in ihrem fließenden Kaftan, mit den langen blonden Haaren und klingelnden Armreifen aus Messing, glich eher einer coolen Folksängerin wie Joan Baez. Zuerst musste ich alleine zu ihr ins Büro. Meine Mutter schnüffelte beleidigt, nahm dann aber die Hand meines Vaters und blieb folgsam im schmucklosen Wartezimmer sitzen.
“Isabell,” begann Joan Baez nach einer kurzen Vorstellung. “Versuche dich doch mal daran zu erinnern, wann du zum ersten Mal diesen tiefen Ärger empfunden hast.”
“Weiß ich nicht,” sagte ich verstockt. Warum wollte sie das wissen und wieso sollte ich ihr vertrauen?
“Das weißt du nicht oder du kannst dich daran nicht mehr erinnern?” Sie kritzelte etwas auf mein Formular und betrachtete mich eingehend über dem Rand ihrer riesigen Brille. Die gab ihr das Aussehen einer Eule.
“Ich habe doch gesagt, dass ich es nicht weiß,” erwiderte ich patzig.
“Kein Grund zur Aufregung —” versuchte sie das schwierige Kind fachgerecht zu beruhigen und schrieb noch etwas auf, dass die Armreifen nur so klirrten. Dann rief sie meine Eltern herein.
Die Erwachsenen sprachen über mich, als sei ich nicht anwesend und ich schaltete erst wieder ein, als meine Diagnose bevorstand: beginnende Depression durch ein unbestimmtes Trauma in der frühen Kindheit. Oder so was ähnliches. Joan Baez empfahl einen angesehenen Psychologen, der innovative Hypnotherapie praktizierte. Einen gewissen Dr. Albrecht.
Ein Psychologe! Hatte ich etwa die Probleme meiner Mutter geerbt? War ich drauf und dran so zu werden wie sie? Ich panickte in aller Stille und mein Magen schmerzte.
“Sie sind stehen nicht allein mit diesem Problem, Herr und Frau Bertrand.” Die Sozialarbeiterin sah ermunternd über den Rand ihrer Eulenbrille. Sie sollte sich eine andere Brille zulegen.
“Wir sind hier um Ihnen zu helfen. Ich weiß wie ungewöhnlich sich das anhört – Hypnotherapie. Aber die Zeiten haben sich geändert. Es gibt einfach zu viele rebellische Jugendliche und die alten Methoden greifen nicht mehr. Wir müssen neue Wege finden, dem wachsenden Problem etwas entgegenzusetzen.”
Pah, wachsendes Problem, blah, blah! Brauchte man deswegen gleich einen Seelenklempner? Ich rollte mit den Augen und verkreuzte abwehrend die Arme.
“Oh, ich bin mir nicht so sicher, dass eine dieser neuen und teuren Hippie-Methoden es das richtige ist,” sagte meine Mutter mit einem tiefen Seufzer. “Wir wollen doch nur das beste für unsere Tochter, wissen Sie. Isabell soll doch nur lernen sich richtig anzupassen.”
Heuchlerin! Es war immer so einfach, Außenseitern was vorzuspielen. Mein Vater studierte den bunten Druck von Miló hinter der Frau und sagte nichts.
“Aber sicher, Frau Bertrand, wir verstehen Ihr Problem. Ich versichere Ihnen, Dr. Albrecht hat Erfahrung mit Jugendlichen.” Die Messingreifen klingelten Beifall. “Diese neue Methode ist seriös und hat nichts mit Hippies zu tun. Sie steckt zwar noch im Anfangsstadium, aber die bisherigen Erfolge sind vielversprechend.” Die Sozialarbeiterin schielte ernsthaft. “Zwölf Jugendlichen konnte bisher geholfen werden. Mit ein wenig Glück wird es langfristig in unser Programm aufgenommen.”
Dann war ich ja Nummer 13. Eine Glückszahl, dachte ich aufbegehrend. ‘Hypnose’ hörte sich ausreichend kontrovers an. “Ich würde sehr gern in eine Hypnose-Behandlung gehen,” meldete ich mich zu Wort, um meine Mutter zu reizen. Die Erwachsenen drehten sich erstaunt zu mir um.
“Wirklich? Die Krankenkasse trägt natürlich sämtliche Kosten,” stammelte Joan Baez. Das brachte die Sache unter Dach und Fach. Meine Eltern nickten ihre Zustimmung und die Dinge nahmen ihren Lauf.
“Ja wenn Sie meinen, dass es eine gute Behandlungsmethode ist… Sie kennen sich da ja sicher aus. Wir wollen doch nur das Beste für unsere Isabell.” Oh, wie wütend mich das machte! So ernst hatte es nun auch wieder nicht gemeint.
“Frau Bertrand, ich verspreche Ihnen, Dr. Albrecht wird sich gut um ihre Tochter kümmern.”
Ich begann die Behandlung am Montag nach der Schule. Zunächst sah ich den Psychologen nur feindselig an. Der stand ja auf der Seite meiner Eltern. ‘Wir verstehen Ihr Problem’ hatte die Sozialarbeiterin gesagt. Pah!
Dann überzeugte er mich langsam. Seine Methode war nicht von schlechten Eltern. Ein Erwachsener wollte wissen wie ich mich fühlte! Wir redeten und Dr. Albrecht machte Notizen.
Dann kam die Hypnotherapie. Beim ersten Mal hatte es geradezu ein Erinnerungsfeuerwerk gegeben, was uns beide überraschte. Es dauerte nicht lange bis Dr. Albrecht mich sozusagen eingeschläfert hatte. Ich fand mich sofort als Keinkind wieder.
‘Ich bin drei,’ sagte ich in einem hohen Stimmchen. ‘Mami hat mich in dem kleinen Zimmer bei der Küche eingeschlossen. Ich höre die Haustür zuschlagen.’ Es war mir peinlich, als ich mich später in der Aufnahme selbst hörte.
‘Was sehen Sie? Sie können sich an alles erinnern.’ Dr. Albrechts Stimme war eintönig und beruhigend. Mein unsichtbarer Freund im Hintergrund, während das Kleinkind einen Elefanten aus roter Knete rollte.
‘Evelyn ist im Kindergarten. Mir ist langweilig. In der Schublade ist eine große Schere. Mama braucht sie immer zum Nähen. Ich kann die geblümten Vorhänge damit schöner machen. Mami wird stolz auf mich sein. Die Schere ist schwer, aber ich schaffe es sie zu halten.’
Ich lachte und betrachtete mich dabei, wie ich breite Fransen in den dicken Stoff schnitt. Es machte einige Mühe, aber bald waren die Vorhänge rundherum mit lustigen Fransen verziert.
‘Mama kommt wieder und mag meine Fransen nicht. Papa wird böse sein, droht sie. Ich bin erschrocken.’
‘Lösen Sie sich aus der Szene. Möchten Sie zurückkehren?’
‘Nein.‘ Ich stürzte mich gleich in die nächste Erinnerung. ‘Der Fernseher läuft und ich bin allein zu Hause. Schwarz-weiße Blumen öffnen und schließen sich im Zeitraffer.” Ich war schon woanders ‘gelandet’.
‘Wie alt sind Sie?’
‘Zwei. Mir ist langweilig. Dann kommt eine Tanzgruppe in weiten Hosen und bunten Hemden an die Reihe. Grün und schimmernd.‘ Ich betrachtete das einen Augenblick lang. Hübsch. ’Die Frauen haben einen roten Fleck zwischen den Augenbrauen.’
‘Eine indische Tanzgruppe?’
‘Vielleicht, ich weiß das nicht. Ich bin zu klein. Aber ich will mittanzen. Ich klettere aus meinem Hochstuhl. Da ist Mamis Lippenstift! Ich brauche auch so einen roten Fleck. Ich schmiere mir einen grell-roten Punkt auf die Stirn. Dann lege ich den Lippenstift in die Frisierkommode zurück und watschle in den Flur, wo ich mich im langen Spiegel betrachte. Ich tanze zu der Musik im Fernseher.’
‘Warum lächeln Sie Isabell?’
‘Ich bin so glücklich und tanze vor dem Spiegel.’
‘Gut. Kosten Sie das Glücksgefühl aus… was geschieht als nächstes?’
‘Ich lausche. Ich habe Angst. Schritte im Treppenhaus. Der Schlüssel dreht sich im Schloss. Ich flüchte zum Hochstuhl zurück, aber ich bin zu langsam...’
‘Alles ist in Ordnung. Sie lösen sich aus der Szene. Gehen Sie zu einer anderen angenehmen Erinnerung zurück, wenn sie das möchten.’
‘Ja, meine Mutter lacht mit uns und singt Kinderlieder. Sie liest Märchen aus einem Bilderbuch vor. Mein Vater lehrt Evelyn und mich lesen und malt kleine Hasen und Gesichter, um uns zum Lachen zu bringen. Wir pflücken zuckersüße rote Kirschen im Garten. Ich bin glücklich. Mutti sieht nicht so verkniffen und bitter aus.’ Ich schwelgte in den angenehmen Erinnerungen.
‘Das ist gut, das ist sehr gut.’ Dr. Albrecht ließ mich verweilen.
‘Meine Schwester Paula ist ein Baby,’ sagte ich plötzlich. ’Evelyn und ich werden zu einem Nonnenkloster in den Schwarzwald verschickt.’
‘Sie sind… drei?’
‘Ja, meine Mutter soll sich erholen und um das neue Baby kümmern. Sechs Wochen lang müssen wir Salzbäder nehmen und Grießbrei essen.’
Ich schüttelte mich. ‘Ich bin in der ‘Kleinen Gruppe’ und sehe Evelyn nicht oft. Ich mag die Nonnen nicht. Sie haben einen der Jungs auf einen Stuhl gebunden und in den Gang gestellt, weil er vor Heimweh weint. Er schluchzt die ganze Nacht.’ Mir stiegen Tränen in die Augen.
‘Ich falle hin und mein Kopf tut weh. Die Nonnen nehmen mich in die Küche und holen ein riesiges Messer raus, um es auf die Beule zu drücken. Ich schreie und will davonlaufen, weil ich denke sie wollen mich erstechen.’ Mir lief eine Träne die Wange herunter und ich drehte meinen Kopf nach links und rechts, um die Nonnen abzuwehren.
‘Lösen Sie sich aus dieser Szene. Sie sind in Sicherheit, niemand kann Ihnen etwas anhaben.’ Ich beruhigte mich.
‘Ich zähle jetzt rückwärts. Wenn ich bei eins angelangt bin, wachen Sie auf. Drei, Sie kommen zurück…’
Ich brauchte eine ganze Weile, um zu begreifen, dass ich kein Kleinkind mehr war. Die Kassette wurde zurückgespult und das mittlerweile altbekannte Gespräch mit dem guten Doktor fand statt.
“So, das war mehr als genug für den Anfang, Isabell,” meinte der Psychologe.
“Wow, ich kann mich noch an alles erinnern,” hatte ich gestaunt. “Genau wie Sie es gesagt haben.”
“Ja, das ist meistens so. Wir werden beim nächsten mal mehr darüber reden.” Von diesem Tag an fühlte ich mich nicht mehr so wütend und hilflos. Dr. Albrecht war ein echter Zauberer.
Als wir heimlich mit der Regressionen anfingen, war ich schon ein alter Hase. Das war jetzt etwas ganz anderes.
Dr. Albrecht schien beeindruckt zu sein. “Sie haben zwischendurch in einer Fremdsprache gesprochen. Vielleicht können Sie mir das ein oder andere noch erklären.”
“Wirklich?” sagte ich verträumt. “Ok.”
Ich wusste ja, dass Leute manchmal in mittelalterlichem Französisch redeten, auf Quetschua oder auch Chinesisch. Ich war stolz, dass ich sowas konnte. Wie immer spielte Dr. Albrecht hinterher das Band ab. Die Bilder erschienen wieder vor meinem inneren Auge und ich befand mich mehr dort als hier und hatte Tränen in den Augen, als ich auf meine verträumte Stimme lauschte.
‘Ich trage eine... Uniform. Wir kommen in Warna an. Noch jung, vielleicht achtzehn und ich habe braune Haare. Mein Name ist Adam…’
Nach der Beschreibung des kurzen Lebens eines britischen Soldaten während des Krimkrieges, der an gebrochenem Herzen litt und sich deshalb absichtlich in Schusslinie begeben hatte, fand ich mich auf einmal an einem noch fremdartigeren Ort wieder.
Hügel mit spärlichen, rauen Grasbüscheln breiteten sich rings um mich herum aus. Aber nicht dort wo ich stand. Hier umgaben mich prachtvolle, farbige Blüten, gepflegte Rasenflächen, Springbrunnen und Bäume.
Ich sah eine junge Frau mit hellbraunen, geflochtenen Haaren, schön, wenn auch ungewöhnlich, mit grünen Mandelaugen und hohen Wangenknochen. Sie hieß Nusrat, die junge Frau. Das wusste ich einfach. Ich wusste auch, dass ich selbst irgendwie Nusrat war.
Sie saß auf einer geschnitzten Bank an einem klaren Fischteich, in dem sich Blätterschatten im Sonnenlicht spiegelten. Mandarinenten zogen ihre Kreise. Der Garten war von hohen Mauern umgeben.
Im Alter von fünfzehn Jahren fand ich mich selbst ziemlich unhübsch. Aber ich wusste einfach, dass ich es war, die auf dieser Bank saß. Ich konnte das Holz fühlen, roch den würzigen, harzigen Duft.
Es gab da eine gewisse Ähnlichkeit zwischen uns. Ihr Haar war auch hellbraun. Nur meine Augen waren graublau und kein bisschen mandelförmig. Leider hatte ich auch nicht ihre vollen Körperformen. Ich besaß den schlanken Körper eines Teenagers, der Sport liebte. Besonders Rudern.
Nusrat trug ein farbenfrohes Wickelgewand aus bestickter Seide und ziemlich viel teuer aussehenden Schmuck. Ich selbst trug als Schmuck nur einen billigen Anhänger aus grünem Glas an einem dünnen Lederband um den Hals. Teurer Schmuck bedeutete mir nichts. Mir gefiel einfach, wie Sand und Meereswellen das Glas rund geschliffen hatten. Ich versuchte mich wieder auf die Tonaufnahme zu konzentrieren und der Raum um mich herum verschwand im Hintergrund.
‘Ich höre Radschput. Radschput,’ sagte ich auf Deutsch. ‘Imran ist ein Freund aus Kindertagen. Wir haben manchmal heimlich draußen vor den Dorfmauern mit Pfeil und Bogen gespielt. Ich bin ein Mädchen und er gehört nicht zu unserer Kaste, aber wir sind noch so jung. Nicht einfach… die Dienstboten passen auf, aber wir sind gewitzt.’
Ich konnte fühlen, wie ich innerlich lächelte, als ich die Worte aussprach. ‘Mein Vater ist großzügig. Er hat keinen Sohn und lehrt mich sogar mit dem Khanda Schwert zu kämpfen. Mein Pferd heißt Kalyan. Wir gehören einem wichtigen Zweig des Klans an.’
Danach entstand eine Pause. Da war dieser junge Mann, mit dem ich mich unterhielt und der Imran hieß. Ich wusste einfach was gesagt wurde. ‘Wir sprechen. Es gibt ein Problem. Ich bin sechzehn und muss bald heiraten. Es geht um die Ehre der Familie. Ich bin die einzige Tochter.’ Sie war nur ein Jahr älter als ich, sah aber schon fast erwachsen aus. Und Nusrat musste heiraten!
‘Was bedeutet Radschput?’ fragte Dr. Albrecht ruhig auf Band.
‘Ich weiß nicht… unsere Familie, unser Klan… Krieger… Adelige vom Chandra Vamsch,’ stammelte ich, dann fuhr ich in einer fremd klingenden Sprache fort.
‘Die Villa gehört meinem Vater und Dienstboten halten sich im Schatten der Bäume auf, um ein Auge auf mich zu haben. Die Schatten werden schon länger.’ Was ich da gesagt hatte wusste Dr. Albrecht noch nicht, weil er natürlich nichts verstanden hatte. Ich sprach ja Ausländisch.
“Können Sie denn noch verstehen, was Sie da sagen?” Dr. Albrecht stoppte die Aufnahme und sah mich erwartungsvoll an.
“Ich weiß nicht, ob man das ‘verstehen’ nennen kann. Ich weiß es einfach.” Besser konnte ich es nicht erklären. Die Worte klangen guttural. Da waren Gefühle. Traurigkeit, Herzschmerz… ich hatte einen Kloß im Hals. Davon erzählte ich dem Therapeuten aber nichts. Es war mir ungeheuer peinlich. Diese ganzen Gefühle.
Die Kassette spielte weiter. ‘…darf dich nicht länger sehen,’ brachte ich gequält hervor. ‘Mein Vater hat uns ein letztes Treffen erlaubt.’
Der junge Mann trug einen einfachen weißen Turban auf dem Kopf, wie es sich ziemte. Ein langes, weißes Seidenhemd, dunkle Brokatweste und weite Hosen. Unerfüllte Leidenschaft…
“Imran stammt aus einer guten Mogulen-Familie und wir lieben uns. Jedenfalls denken wir das,” erklärte ich Dr. Albrecht.
Was wusste ich schon von Leidenschaft? Renate hatte wenigstens schon Erfahrung mit Küssen. Ich wurde rot. Dr. Albrecht bemerkte mein Unbehagen und hielt die Kassette an. “Möchten Sie weitermachen oder wird es zu schwierig?”
“Ich weiß nicht. Man kann das nicht so genau übersetzen.”
“Das ist ja auch gar nicht notwendig. Ich will ja nur wissen, um was es so ungefähr geht. Wollen es mir sagen?”
“Ja Ok. Ich kann ihn nicht länger sehen, weil ich heiraten muss.”
“Aha.” Dr. Albrecht schrieb und schrieb. Die Kassette lief. Es war eine Weile still. Ich konnte mich atmen hören und Imrans Stimme. Ich werde sterben, wenn dein Vater darauf besteht.’ Imrans Ton war zornig. Seine nußbraunen Augen blitzten.
‘Wir haben nichts dabei zu sagen. Das weißt du doch. Unsere Sitten sind anders. Du bist Moslem. Wir dürfen nicht heiraten. Ich bin Mansur versprochen und muss mich an das Gesetz des Klans halten.’
‘Was sehen Sie jetzt?’ wollte Dr. Albrecht auf Band wissen. ‘Versuchen Sie es zu beschreiben.’
Die Worte machten nicht mehr so viel Sinn. ‘Bin mir nicht sicher. Er ist wütend.’ Ich redete wieder auf Deutsch. Dann wurde es still. Ich war zu sehr mit Imran beschäftigt. Die Kassette surrte.
‘Dann werde ich Mansur herausfordern müssen – zu einem Duell,’ sagte Imran hitzköpfig. ‘Ich werde dich nicht aufgeben. Nicht an einen Mann, den du nicht liebst.’ Hey, das war ja hochromantisch. Ein Duell!
‘Nein, Imran, Mansur ist ein guter Mann. Sie werden dich umbringen. Dann kommt es zur Blutfehde. Willst du das?’
‘Dann muss ich eben fortgehen und vor Einsamkeit sterben.’
Imran legte seine Hand auf meine Schulter und schoss einem der Dienstboten mit dem Namen Pratap, einen kommandieren Blick zu. Pratap hielt sich in unserer Nähe auf, um mich zu beschützen. Um wie seit meinen Kindestagen meine Ehre zu schützen. Der graubärtige Mann zog sich weiter in den Baumschatten zurück.
Swisch, Klick. Der Doktor hielt die Kassette an. Er fragte was ich erlebt hatte und kritzelte Notizen auf seinen Schreibblock.
“Hochinteressant. Dass Sie das noch verstehen können…,” staunte er. “Mein erster Fall von Xenoglossie. Das muss ich im Wörterbuch nachsehen – dieses Wort Radschput, das sie erwähnen. Dann noch Mogulen und Chandra Vamsch. Möglicherweise ist das in Indien… Wirklich hochinteressant.”
Über Indien hatte ich mir noch nie Gedanken gemacht. Lag das nicht irgendwo bei China? Wo genau lag China?
“Kennen Sie diesen jungen Mann Imran?”
“Nein, ich kenne ihn nicht,” erwiderte ich bestimmt.
Dr. Albrecht meinte damit die Möglichkeit, dass ich Imran in der Gegenwart als eine andere Person erkannte. Die Frage war bei dieser Art von Hypnose üblich.
Zum Beispiel hatte ich einfach gewusst, dass ein Kamerad aus dem Krimkrieg einer meiner jetzigen Lehrer war. Einer von zwei Lehrern, die ich einigermaßen mochte. Ich kann nicht sagen, ob es die Augen waren oder der Gesichtsausdruck. Ich wusste es einfach. Das würde komisch werden in der Schule, wenn ich ihn wiedersah. Leider war mir dieser Imran noch nicht untergekommen. Schade, er sah wirklich gut aus.
Ich war in Gedanken vertieft, als ich die Praxis von Dr. Albrecht verließ. Wie verabredet wartete Renate im Café Wolf unten auf mich.
“Ist ja total stark!” staunte sie, nachdem ich ihr alles brühwarm erzählt hatte. Sie wusste ja noch nichts von den Regressionen, die wir jetzt machten. Aber ich musste es einfach jemandem sagen.
“Ja, nächste Woche gehe ich wieder hin. Er will ‘rausfinden was für ein Land das sein könnte. Dann machen wir wohl weiter,” erwiderte ich langsam.
“Wieso passiert mir nie sowas Cooles? Am liebsten würde ich Fliege an der Wand spielen und mir das ansehen, wie du in einer fremden Sprache redest und so.”
“Angeblich Radschput. Hast du schon mal was davon gehört?”
“Nein, ich kann’s aber ‘rausfinden. In der Bibliothek.”
Renate war mir etwas zu begeistert. Hoffentlich hielt sie dicht. Alles was ich jetzt brauchte, waren dumme Bemerkungen in der Schule. Ich beschloss abzuwiegeln. “Besser nicht. Was ist, wenn das alles gar nicht stimmt. Vielleicht habe ich ja mal einen Film über so was gesehen.”
“Klar, es kommen ja auch dauernd Filme über Radschput im Fernsehen.” Renate zog ihren Mundwinkel hoch, wie immer, wenn ihr was nicht passte.
“Hey, man weiß nie.” Natürlich machte Renate, was sie wollte.
Bei der nächsten Sitzung befand ich mich sofort wieder am gleichen Ort und fing an Ausländisch zu reden. Dr. Albrecht stoppte mich diesmal sofort. ‘Sie verlassen die Szene. Sie sprechen Deutsch... Sie könn—’
Ich sah dabei zu, wie Dr. Albrecht die Kassette vorspulte. Gut, ich konnte nämlich auch nicht mehr richtig verstehen was ich da sagte.
‘Ich sehe Imran nicht wieder.’ Ich sprach jetzt tatsächlich wieder Deutsch in der Aufnahme. ‘Oh, oh, er fordert meinen Verlobten heraus. Aber einer seiner eigenen Cousins erdolcht ihn, bevor das Duell stattfindet. Man sagt mir nichts davon… Ich verstehe erst später. Meine Schwiegermutter hatte die beiden aufgewiegelt. Ich habe sie noch nicht kennengelernt. Mansurs Familie lebt woanders. Es bricht mir das Herz. Ich denke Imran ist fortgegangen. Ich tue meine Pflicht.’
Meine Stimme war kaum noch hörbar und Dr. Albrecht spulte die Kassette weiter vor. Die quietschte unschön.
‘…nicht mehr wehtun. Gehen Sie weiter zum nächsten wichtigen Ereignis in diesem Leben,’ summte die einfühlsame Stimme des Psychologen. ‘Was sehen Sie jetzt?’
‘Ich heirate Mansur und lerne ihn zu lieben. Er ist Radschput. Wir essen kein Fleisch. Mansur ist nach dem Mann benannt, der seinem Vater einmal das Leben rettete. Ein Muslim. Mein Leben ist gut. Es fehlt mir an nichts. Uns sind drei hübsche Söhne beschert. Die Klan-Ältesten hatten eine gute Entscheidung getroffen. Das verstehe ich jetzt. Es gibt hier auch einen herrlichen Garten. Ich liebe die roten Blumen...’
Die roten Blumen lenkten mich eine Weile ab.
‘Sehen oder hören Sie einen Ortsnamen oder ein Datum?’ unterbrach der Doktor meinen Redefluss, ‘irgendetwas, was darauf hinweist, wo sie sind?’
‘Nein, nichts. Es ist lange her,’ kam meine Antwort.
‘Gehen Sie weiter zum letzten Tag ihres Lebens als Nusrat. Zu Ihrem Todestag.’ Die Szene erschien momentan.
‘Ich liege auf einem Kissenhügel und muss dauernd husten,’ keuchte ich. Meine Brust schmerzte.
‘Sie können wieder atmen. Sehen Sie sich die Szene von oben an, wenn es Ihnen leichter fällt.’ Mein Atem wurde ruhiger.
‘Man hat ein Bett auf die Veranda gestellt. Ich bin alt… Falten im Gesicht und Flecke… ich sage den Dienstboten sie sollen die Kletterpflanzen beschneiden. Ich liebe Blumen —’ Mein Blick schweift zu den grünen Zweigen hinüber, die sich um die Pfeiler rankten. ‘Die Nachmittagssonne wärmt mich. Meine Söhne und deren Familien sind hier.’ Ich wusste noch, dass ich mir die Szene von oben ansah.
‘Alle schauen so ernst drein. Die Vögel zwitschern im Frangipanibaum. Die Blüten riechen so gut. Es tut weh, wenn ich atme. Mein Kopf schmerzt. Alles schmerzt.’
‘Sie haben keine Schmerzen mehr, Sie können ganz normal atmen,’ hörte ich die Anweisungen des Doktors auf Band. ‘Beschreiben Sie was geschieht.”
‘Ich schwebe nach oben. So leicht. Alle weinen. Ich schwebe nach oben… Lasse sie zurück. Ich sehe nach oben. Dunkelblau, schönes dunkelblau. Da ist jemand… ein Licht das größer wird und heller.’
Dann zählte Dr. Albrecht rückwärts und ich war aufgewacht.
Das Anhören der Kassette hatte etwa 20 Minuten gedauert. Puh, das war ja vielleicht was! “Bin ich gestorben?” wollte ich wissen.
“Es scheint so. Fast alle berichten von einem Licht und jemand, der auf sie wartet,” erklärte mir der gute Doktor.
“Hmm.”
Schade, dass ich den Namen des Landes und des Ortes nicht kannte. Nicht mal eine Jahreszahl. Ich wusste nur, dass ich nahe des Himalayagebirges gelebt haben musste. Die Villa stand in einem Tal im Vorgebirge. Von der Veranda aus konnte ich die schneebedeckten Bergspitzen über den Dächern des Dorfes erkennen.
“Faszinierend,” sagte Dr. Albrecht nur und schrieb.
“Kann das wirklich so gewesen sein?” platzte ich heraus. “Ich meine, dass ich jemanden kannte, der Imran hieß, und… dass ich einmal reich und schön war und dann gestorben bin?”
Dr. Albrecht sah verdutzt drein. Er kratzte sich hinterm Ohr, wie so oft, wenn er auf meine impulsiven Fragen keine Antwort wusste. “Hmm, das weiß man noch nicht so genau. Es scheint aber gesundheitliche Probleme zu heilen.”
“Woher weiß man denn, ob das alles stimmt? Vielleicht ist es nur meine Einbildung.”
“Sie haben in einer Fremdsprache geredet und konnten das danach noch verstehen. Unwahrscheinlich, dass das nur Ihre Fantasie war. Vielleicht können Sie sich nächstes Mal an mehr Einzelheiten erinnern. Wir werden dieses Leben noch ein wenig weiter erkunden.”
“Kann ich jetzt diese Sprache sprechen und mich unterhalten und all sowas?” wollte ich wissen.
“Das glaube ich weniger. Das scheinen Ihre Erinnerungen zu sein. Aber vielleicht werden Sie sich jetzt mehr dafür interessieren.”
“Ja, ich kenne sowieso niemanden, der so redet.”
Dr. Albrecht sah auf seine vielen Notizen und ich starrte ihn an. Er sah auf. “Möchten Sie noch über etwas anderes reden?”
“Ich wünschte ich könnte meiner Schwester Evelyn helfen. Sie ist jetzt auch in Therapie, ist selbst zur Beratungsstelle gegangen. Sie verbrennt ihren Arm mit Zigaretten. Evelyn hat mir die roten Stellen gezeigt.”
Er kratzte sich wieder hinterm Ohr. “Ich wünschte ich könnte Ihnen helfen, aber mir sind die Hände gebunden.” Er war dabei besagte Hände zu wringen. “Sie sind meine Patientin und Ihre Schwester ist ja schon bei einem anderen Therapeuten. Wenn Sie sich mit Zigaretten verbrennen würden, wäre das etwas anderes.”
Ich verstand nicht, wieso das etwas anderes war. Erwachsene waren immer so kompliziert. Wenigstens begann sich mein eigenes Leben zu verändern.
Zunächst hörten die Schläge auf.
Das hatte zweifellos an Dr. Albrechts Abschlussbericht gelegen. Ich musste nicht mehr so sehr kämpfen und das mit der Schule ging wieder aufwärts. Meine Mutter war stolz darauf endlich die richtige Medizin für mich gefunden zu haben.
In den Sommerferien bekam ich auch meinen ersten Kuss. Ich fuhr mit dem Stadtjugendausschuss nach Frankreich. Es fiel mir jetzt leichter neue Freunde zu finden und in der Haute Savoie vergaß ich fast, dass meine Mutter meine geliebten Meerschweinchen kurz vorher an den Zoo verschenkt hatte.
‘Du kümmerst dich nicht richtig um die Viecher. Im Zoo sind sie besser aufgehoben,’ meinte sie nur lakonisch.
‘Wie konntest du das machen? Sie werden doch dort an Schlangen verfüttert.’
‘Ich hab’ genug von der Schweinerei. Es ist besser so.’
‘Ich hasse dich, hasse dich!” schrie ich und wusste doch, dass es sich nicht ändern ließ .
In Frankreich blieb nicht viel Zeit für dunkle Gedanken. Unsere langhaarigen, jungen Betreuer hielten uns auf Trab. Wir lernten Selbstverteidigung, Ikebana und wie man Masken aus weißem Gips machte.
Wanderungen zum Fluss standen auf dem Programm und eine Fahrt zum Markt nach Annecy. Bei einer unserer wöchentlichen Discos geschah es dann. Ich bekam meinen ersten recht feuchten Kuss von einem sechzehnjährigen Franzosen mit dem Namen Jean-Paul.
Er sah so welterfahren aus, mit seinen wuscheligen braunen Haaren und dem offenen Lachen, dass mir der feuchte Kuss fast gar nichts ausmachte. Noch nie war ich einem Jungen so nahe gewesen. Endlich konnte ich mitreden.
Auch bei unserem Ruderclub schienen mich die Jungs neuerdings zu bemerken.
Ein Jahr zuvor hatte mich ein Mädchen aus meiner Klasse gefragt, ob ich nicht ihrem Ruderclub am Rheinhafen beitreten wolle. Meine Eltern waren darüber hocherfreut gewesen und zahlten anstandslos den geringen Jahresbeitrag. Ich bekam sogar ein Clubhemd und ein paar neue Sportschuhe.
“Sport wird dich von Dummheiten abhalten,” hatte Papa damals gesagt. “Mit Jungen zu flirten bringt nur Probleme mit sich.”
Ich hatte keine Ahnung wie man flirtete und war Jungs höchst selten begegnet. Aber ein Jahr später war ich auf einmal nicht mehr unsichtbar.
Dann kam alles noch besser. Ich durfte zu meiner Dinosaurier-Oma Bertrand ziehen. Sie lebte jetzt in ihrer eigenen Welt, voll verstorbener Verwandter und den faszinierenden Leben berühmter Stars und Adeliger, die Frauenzeitschriften und das Fernsehen bevölkerten. Wir lebten in getrennten Welten, aber das machte nichts.
Ein billiger Radiorecorder, den ich zum Geburtstag bekommen hatte, wurde zu meinem Verbündeten. Ich beeilte mich von der Schule nach Hause zu kommen, um in der winzigen Küche den Beginn des ‘Pop Shop’ auf Rundfunk 3 nicht zu verpassen. Es gab eine Stunde lang Musikhits aus den sechziger Jahren, die ich auf billige Kassetten aufnahm. Das war meine Welt. Die Musik umgab mich für den Rest des Tages wie ein unsichtbarer Kokon.
‘Ha, ha said the Clown’, ‘Bridge over Troubled Water’ und ‘Ticket to Ride’. Ich sang meine Lieblingslieder, als ich so am Nachmittag mit dem Fahrrad zum Ruderclub radelte. Ich sang richtig laut, wenn ich wusste, dass niemand zuhörte.
Der Ruderclub am Rheinhafen war mein zweitliebster Zufluchtsort, gleich nach dem Schlosspark. Es roch oft komisch dort. Der Geruch kam von einer Mayonnaisenfabrik, aber ich gewöhnte mich daran. Mir gefielen die elegant auf dem Wasser dahingleitenden Ruderboote und die Ruhe dort. Manchmal skullte ich an Entenfamilien vorbei und manchmal musste ich den Wellen, die die Schiffe verursachten, ausweichen.
Ich war schrecklich schüchtern und wurde rot, wenn mich jemand auch nur anschaute. Meine Wirkung auf Jungs blieb mir trotz der Erfahrung mit Jean-Paul schleierhaft.
Bei einer Club-Party wurde mir Werner vorgestellt. Werner war schlank und hochgewachsen und zwanzig. Es störte ihn nicht, dass ich rot wurde, sobald er mich ansprach. Er küsste mit erfahrenen Lippen und hörte sich geduldig meine verzagten Geschichten über Schule und Eltern und nervige Schwestern an.
“Warum heißt du eigentlich Isabell,” wollte er wissen. “Ist das nicht französisch?”
Ich fand es toll, dass er sich für meinen Namen interessierte.
“Ja, mein Vater stammt von Hugenotten ab. Angeblich haben sie mich nach einer Großtante genannt. Meine Schwestern haben ihre Namen auch von Großtanten: Evelyn und Paula. Eine ziemlich große Familie auf beiden Seiten.”
“Eine große Großtanten-Familie,” scherzte Werner.
“Ha, genau,” lachte ich unbeschwert. “Isabell ist aber immer noch besser als Irene. Meine Mutter wollte mich erst so nennen. Hast du eigentlich Geschwister?”
“Ja, einen Bruder, Dieter. Der ist viel älter als ich. Wir kennen uns kaum…”
Werner wurde mein bester Freund und nach einer Weile hörte sogar das Rotwerden auf. Wir radelten zum blühenden Stadtpark und standen stundenlang an sonnigen Straßenecken herum, lehnten uns an unsere Fahrräder und unterhielten uns über anspruchsvolle Dinge.
Ich vertraute Werner genug, um ihm von Dr. Albrecht zu erzählen. Er fand es erstaunlich, dass eine derartige Therapie schon empfohlen wurde.
“Dieser Dr. Albrecht ist seiner Zeit weit voraus. Hypnose!” staunte er. “Aber er scheint ja Erfolg zu haben. Von einem psychologischen Standpunkt aus leidet deine Mutter wahrscheinlich an manisch-depressivem Verhalten,” erklärte er mir, als wir mal wieder auf einem niedrigen Gartenmäuerchen saßen.
Werner liebte es zu fachsimpeln. Er war nämlich Medizinstudent und wusste über solche Dinge Bescheid. Andere Jungs spielten Fußball und schwärmten für die Bay City Rollers - und mein Freund studierte Medizin. Werner wollte sich später mal auf Psychiatrie spezialisieren. Ein richtiger Experte.
“Gibt es denn nichts was man dagegen tun kann?” fragte ich.
“Deine Mutter bekommt doch sicher Medikamente, oder?”
“Ich denke schon. Sie spricht nie darüber.”
“Typisch. Das muss schwierig sein für dich.”
“Sie hat mir schon oft gesagt, dass ich nicht normal bin und dass sie die einzige normale Person ist, die sie kennt. Sie will immer alle kontrollieren.”
“Oh je! Da stimmt ja so einiges nicht.”
“Ich hab’ mich dran gewöhnt.”
“Lass dich nur nicht unterkriegen.”
“Werd’ ich schon nicht. Ich sehe sie nicht mehr so oft, jetzt wo ich bei meiner Oma wohne und zum Ruderclub gehe.”
Nach solchen Diskussionen schwangen wir uns wieder auf unsere Räder und fuhren zum Park und küssten uns an einem stillen, dunklen Ort. Dann waren die Ferien zu Ende und Werner musste an seine Universität in Ghent zurück.
Ghent war in Belgien. Ich war verzweifelt. Warum musste ich nur so jung sein? Fünfzehn! Ich war zu jung, um nach Belgien zu reisen und Werner zu besuchen. Verdammt! Zudem war meine Mutter sauer auf mich. Ihre Freundin Magda hatte uns zusammen gesehen. Wie wir auf der Straße Händchen hielten.
“Was habe ich dir über Jungs gesagt?” konfrontierte sie mich heftig.
“Jungs? Dass sie alle nur das eine wollen?”
“Musst du immer so vulgär sein? Keine Männerbekanntschaften bis nach der Ausbildung. Denk an deinen guten Ruf. Was sollen denn die Leute denken?”
Sie wollte wohl, dass ich mein Leben als traurige, alte Jungfer beendete. “Männerbekanntschaften? Ich bin erst fünfzehn und hab’ noch gar keinen Ruf. Händchenhalten ist doch keinen scharlachroten Buchstaben wert.”
“Scharlach —? Was soll das schon wieder? Ich mein’ es doch nur gut mit dir.”
“Ja sicher,” sagte ich müde. “Du wirst dich freuen. Werner ist wieder in Belgien. Er studiert dort nämlich.”
“Er ist ein Student? Isabell, du bist fünfzehn!”
Ich schwieg dazu und ging lieber zu Oma Bertrand rüber. Eine Träne kullerte, dann noch eine. Ich vermisste Werner.
Mit der Zeit verschwand er aus meinem Bewusstsein, aber Gottseidank gab es da noch den guten Dr. Albrecht. Andere Teenager interessierten sich nur für so ’n öden Kram wie ‘Saturday Night Fever’ und Discos, zu enge Klamotten und Jungs. Nicht für sowas Interessantes wie Hypnose. Ok, für Jungs interessierte ich mich auch.
Ich wurde bald sechzehn und zuhause gab es anscheinend auch ohne mich Probleme. Evelyn wurde dafür bestraft, dass sie einen Jungen geküsst hatte. Sie beneidete mich um meine Unabhängigkeit, den Ruderclub und überhaupt um alles.
“Ich bin immer an allem schuld und du kriegst was du willst. Ich wünschte ich hätte deinen Mut!”
“Du vergisst wohl, wer hier das schwarze Schaf der Familie ist,” verteidigte ich meine Ehre. “So einfach ist es nun auch wieder nicht.”
Paula war verwöhnt wie immer und interessierte sich nur für sich selbst. Den beiden konnte ich nichts von meinem Leben erzählen. Mein kostbares Privatleben musste unter allen Umständen privat bleiben.
Während den Regressionen bei Dr. Albrecht war ich jetzt für kurze Zeit in das Leben von Adonia eingetaucht. Adonia war eine junge griechische Frau, die bei einer Flutwelle 1563 B.C. ums Leben gekommen war. Ich kannte das genaue Datum. Adonia verblasste nach einer einzigen Sitzung, genau wie der Soldat Adam getan hatte. Ich sprach nur noch Deutsch bei den Sitzungen.
Dr. Albrecht war trotzdem begeistert.
“Ich werde Ihnen ein ganzes Kapitel in meinem Buch widmen, Isabell,” sagte er und ich war stolz.
Das ganze wurde zu einem Hobby, ganz so wie Rudern, und ich begann mich so nebenbei für andere Länder zu interessieren.
Als unser Schulteam die Regionalregatta gewann, durften wir zur landesweiten ‘Jugend trainiert für Olympia’ Meisterschaft nach Berlin fliegen. Wie aufregend, zum ersten Mal in einem Flugzeug zu reisen! Ich wurde von Minute zu Minute welterfahrener.
Die Mädchen im Schlafsaal quasselten ununterbrochen von Jungs und Klamotten und Make-up und ich bekam kaum Schlaf. Mir blieb gar nichts anderes übrig als mitzumachen.
“Oh sieh’ dir nur diesen süßen Minirock an, Nicole. Das passt so gut zu dem orangenen T-Shirt,” jubelte Tina.
“Wahnsinn! Das musst du heute abend anziehen. Unbedingt. Wir treffen die Jungs in der ‘Eierschale’ um sieben. Da braucht man was Schnuckeliges.”
“Soll ich den blauen Lidschatten tragen oder nur schwarzen Kajal?” fragte Tina.
“Beides!”
“Ich hab’ gar kein Make-up,” meinte ich kleinlaut.
“Oh, Isabell. Du musst unbedingt Lidschatten auflegen! Hier, nimm’ welchen von mir.”
Nicole und Tina nahmen mich unter ihre Fittiche als sei ich eine arme Verwandte. Ich ließ es mir gefallen, nur bei den Klamotten weigerte ich mich einen hellgrünen Mini zu tragen. Wir gingen shoppen und in Discos für die wir nicht zu jung waren. Sport war so ziemlich Nebensache.
Nach Berlin begann mich das Hypnose-Experiment von Dr. Albrecht zu langweilen. Ich wollte unkompliziert sein und unkomplizierte Dinge tun, wie andere Teenager auch.
Reinkarnation war alles andere als unkompliziert.
“Wir sollten herausfinden, warum Sie immer wieder zu diesem Radschputen-Leben zurückkehren.” Dr. Albrecht war mittlerweile in der Bibliothek fündig geworden. Radschputen waren eine hohe Kaste der Hindus im Norden Hindustans. Irgendwo zwischen Afghanistan und Pakistan.
“Es muss einen wichtigen Grund dafür geben, warum dieses Leben so wichtig für Sie ist. Vielleicht finden wir ja hier die Ursache für ihre Magenschmerzen.”
“Ja vielleicht,” antwortete ich lustlos. “Aber im Moment habe ich einfach keine Zeit für sowas.”
Dr. Albrecht sah enttäuscht drein. Das ließ sich nicht ändern.
“Ich verstehe schon. Lassen Sie mich wissen, wenn Sie weitermachen wollen, Isabell. Es wäre schade, wenn wir das nicht zu Ende bringen.”
“Mach’ ich wohl. Danke für alles, Doc.” Eigentlich hatte ich nicht vor wiederzukommen, aber man konnte nie wissen.
Bald wurde mir der Ruderclub auch zu langweilig. Das tägliche Training war anstrengend und ich weigerte mich in den Nationalkader aufzusteigen wie ein paar andere Mädchen in meiner Altersgruppe.
“Chrissie und Daniela haben den Kader geschafft,” meinte Heinz bei der nächsten Club-Disco. Er strich sich die langen blonden Haare aus dem Gesicht.
“Aha, deshalb sehen sie so langsam wie Kleiderschränke aus,” kicherte die eher zierliche Tina. “Ich bin froh, dass mich der Trainer nicht für den Kader vorgeschlagen hat.”
“Puh, da hast du recht,” stöhnte ich.
Ich beobachtete Chrissie, wie sie an der Bar stand und Cola bestellte. Ihre Schultern waren jetzt mindestens so breit wie die von Heinz.
“Dazu hab’ ich auch keine Lust. Alles dreht sich nur noch ums Training und Proteinshakes und sowas. Am Wochenende immer nur Regatten. Man hat gar keine Freizeit mehr. Rudern kann doch nicht alles im Leben sein.” Ich jedenfalls wollte mehr vom Leben.
Ich hatte begonnen für die ‘Beatles’ zu schwärmen und hing mir ein ‘HELP’ Poster übers Bett. Renate und ich gingen abends aus. Großmutter Bertrand duldete meine abendlichen Ausflüge und die Beatles-Phase.
Vielleicht bekam sie es gar nicht so genau mit. Sie war nun schon fast taub und sah am liebsten mit Kopfhörern fern.
‘All you need is love…Hey Jude…A ticket to ride…’
John und Paul waren so sensibel. Sie verstanden mich, sangen für mich. Leider verstand ich kaum Englisch. Trotzdem versuchte ich im Park die Lieder auf meiner Gitarre nach zu spielen.
“Kannst du nicht mal von was anderem reden?” Renate hatte einen anderen Musikgeschmack. “Das ist doch so von gestern! Hast du noch nie was von Gerry Rafferty gehört oder von Foreigner?”
“Ja, ja, die kenn’ ich. Fleetwood Mac mag ich auch - und Pink Floyd. Aber die Beatles sind schon Klasse. Schade, dass sie sich getrennt haben, findest du nicht?”
“Nein.” Renate stand vor dem Spiegel und trug sorgfältig blauen Lidschatten auf. Ich rieb übelriechende Fönlotion in meine Haare, um die modische Außenwelle hinzukriegen. Der Fön brummte los, aber meine Oma sah nicht mal auf.
“Ach komm’ schon, ich könnte mir ‘Ticket to Ride’ stundenlang anhören,” meinte ich eigensinnig.
“Ich aber nicht. Bist du endlich fertig?”
“Gleich.” Ich schaltete den Fön aus. “Tschüss Oma, wir geh’n jetzt.” Oma Bertrand tätschelte meine Hand und sah gebannt auf den Bildschirm.
“Weiß sie was du gesagt hast?” wunderte sich Renate.
“Keine Ahnung, sie ist schon sehr alt.”
“Hast du deine Schlüssel?”
“Ja.”
Meist spazierten wir nur mit italienischen Eiskremtüten die Kaiserstraße rauf und runter oder setzten uns auf eine Cola in den ‘Burger King’. Manchmal schauten wir auch in Discos ‘rein, aber nur am Wochenende. Discos waren teuer.
Im September wechselten wir von unserem Mädchengymnasium auf eine gemischte Schule. Ich hatte guten Grund dazu. Renate ging mit aus Solidarität.
Herr Konrad, unser Lateinlehrer schikanierte mich. Ich war zwar lange die Beste in Latein gewesen, aber weil ich immer zum Rudern ging, hatte ich wenig Zeit zum Lernen. Das nahm Herr Konrad mir äußerst übel und ließ die ganze Klasse wissen, was er davon hielt.
“Bücher auf. ‘De Bello Gallico’ Seite 32 dritter Absatz. Isabell, wir würden ja alle sooo gerne ihre Übersetzung hören.”
Seit meinem ‘Sündenfall’ - eine vier in der Klassenarbeit - war ich in die erste Reihe befördert worden und sah nun direkt in das bärtige Gesicht des gestrengen Lehrers. Sein flammendroter Bart verbarg nur schlecht den verächtlichen Gesichtsausdruck. Erst später wurde mir klar, dass Herr Konrad nach Alkohol roch und nicht nach Aftershave.
“Ich habe nur die Konjugation der Verben gemacht. Ich war nicht da, als Sie uns das mit der Übersetzung —”
“Habe schon bessere Entschuldigungen gehört.”
“Aber…”
“Nichts aber. Sie hätten eine Ihrer Mitschülerinnen fragen können. Marion, würden Sie nicht liebend gerne Isabell hier die Hausaufgaben mitteilen, wenn es ihr gefällt danach zu fragen?”
“Ja natürlich, Herr Konrad. Liebend gern.” Marion grinste in meine Richtung. Zumindest konnte ich das Grinsen auf meinem Hinterkopf spüren.
Als sich Herr Konrad der Tafel zuwendete, traf mich ein Papiergeschoss an der Schulter. Dann noch eins. Irgendwann hatte ich genug. Nicht, dass die neue Schule viel besser gewesen wäre. Die Lehrer waren raubeinig und zynisch, aber zumindest musste ich mich nicht mehr mit Herrn Konrad und Papiergeschossen herumärgern. Ich konnte auch raubeinig und zynisch sein, wenn ich musste.
Es gab richtig nette Jungs in unserer Klasse. Walter schielte leicht und hatte eine Hakennase. Er war groß und ungelenk, aber hilfsbereit und angenehm normal. Tarek war Deutsch-Algerier, hübsch, modebewusst und reserviert.
Wahrscheinlich verwirrte es ihn, dass er eigentlich Jungs mochte. Tarek wohnte mit seiner Mutter in einer Wohnung in der Straße beim Bundesverfassungsgericht. Das war nicht weit von der Schule und wir verbrachten dort oft die Freistunden.
Zu unserer Gruppe zählte auch Angie. Leider mochte die Großmutter, bei der sie wohnte, weder moderne Kleidung noch die psychedelische Kultur der siebziger Jahre. Angie war plump, trug eine altmodische Brille und wollte endlich ausziehen.
“Wir hatten doch gestern noch Cola.” Tarek kramte im Kühlschrank der engen und sehr sauberen Küche herum. Vier saubere Gläser standen schon auf dem Tablett.
“Apfelsaft tut’s auch,” sagte Angie gutmütig.
Wir saßen meist in seinem kleinen und sehr sauberen Zimmer und redeten darüber, wie sehr uns die Lehrer auf die Nerven gingen. Der Lehrer, der angeblich Adams/mein Kamerad gewesen war, hatte sich versetzen lassen. Am liebsten hätte ich mehr über Tareks Kultur erfahren und ihm von meinem Radschputen-Erlebnis erzählt. Aber mit Algerien wollte Tarek nichts zu tun haben, und Reinkarnation war bestimmt auch nicht seine Sache. Wir vier bildeten bald eine Clique aus der Renate sich ‘raushielt.
“Ne, ich mach’ lieber mein eigenes Ding,” sagte sie, als ich ihr von unseren Freistunden erzählte.
“Solange du mir nicht den Kopf abreißt, wenn ich mal keine Zeit für dich habe,” sagte ich.
“Sei nicht albern,” meinte sie zornig und stapfte davon.
Leider hatte ich zuhause begeistert von unserer Gruppe erzählt und außer dem Thema Jungs fuchste meine Mutter eine andere Sache noch mehr. “Ich bin ja froh, dass du endlich Freunde gefunden hast, aber warum müssen es denn unbedingt Mohammedaner sein?” Sie meinte natürlich Tarek damit.
“Wieso denn nicht?” Ich rollte mit den Augen.
“Die sind eben… anders.”
“Für dich sind alle Leute anders. Ich bin nicht so wie du. Mir macht das nichts aus. Außerdem ist Tarek kein praktizierender Moslem. Sein Vater ist Arzt in Hamburg und seine Mutter ist Deutsche.”
Ich konnte mir ein wenig Sarkasmus nicht verkneifen.
“Sogar, wenn er es wäre. Keine Angst, ich werde nicht so schnell einen Mohammedaner heiraten und dich vor ‘den Leuten’ blamieren,” stichelte ich. “Auch, wenn ich mit siebzehn schließlich heiraten kann, wen ich will.”
Sie klagte immer öfter, was die Leute über dies oder jenes sagen könnten. Paula prustete etwas zu übertrieben vor Lachen und Mutti machte ein beleidigtes Gesicht. “Wirst du schon wieder frech, Isabell? Das habe ich überhaupt nicht gemeint.”
“Egal,” wehrte ich ab. “Muss’ jetzt sowieso geh’n.”
Zu Oma Bertrands Wohnung. Da konnte ich so sein wie ich wollte. Oma fragte mich nie danach, wer meine Freunde waren. Sie war nur froh, wenn ich da war.
Als ich mich gerade in der neuen Schule eingelebt hatte, passierte etwas ganz unfassbares: Papa wurde krank und starb.