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Kapitel 2

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Das winterliche Begräbnis erschien mir wie ein nebeliges Gewirr an unwirklichen Aktivitäten. Tanten und Cousinen machten viel Getue um meine Mutter. Wir Kinder wurden ignoriert und mussten nett zu allen sein. Da war keine Zeit zum Trauern.

Eine Woche bevor Papa starb, konnte ich dieses seltsame Gefühl nicht abschütteln, dass etwas Schreckliches passieren würde. Er lag bewusstlos im Krankenhaus. Angeblich auf dem Weg der Besserung. Mein Onkel fuhr uns nach einem Besuch dort nach Hause.

“Was willst du mit dem Auto machen, wenn er stirbt,” fragte er meine Mutter gedankenlos. Hieß das etwa, sie wussten etwas, das ich nicht wusste? Heiße Wut-Lava stieg in mir hoch.

“Was fällt die ein, so zu reden?” fuhr ich ihn an. ”Noch ist er nicht tot. Ihr seid alle so materialistisch! Alles woran ihr denken könnt ist Geld und materielles. Habt ihr denn gar kein Herz?”

Meine Mutter starrte mich schuldbewusst an und ihr Bruder wusste nicht was er sagen sollte. Meine Schwestern schwiegen. Das machte mich noch wütender. “Halt’ an. Lass’ mich hier ‘raus,” forderte ich.

Bevor meine Mutter mich zurechtweisen konnte stand ich schon im Schneematsch draußen. Es war mir egal, dass ich ganz taub wurde vor Kälte, als ich durch die verschneiten Straßen zum Park eilte. Meinem vertrauten Zufluchtsort.

Die Rasenflächen waren etwas aufgetaut und der Boden war sumpfig. Es war mir egal. Ich heulte ziemlich viel, als ich so durch das matschige Grass watete. Es war besser alleine zu sein beim Heulen.

Als ich halb-erfroren zu Hause ankam, war Oma Heydenreich, meine Großmutter mütterlicherseits, schon da und klapperte geschäftig in der Küche herum. Sie stellte schweigend einen Teller heiße Suppe vor mich hin. Niemand erwähnte den Vorfall im Auto. Es wurde nicht viel geredet bei den Heydenreichs. Dafür gab es immer Essen.

Das Telefon klingelte und wir hörten gedämpfte Stimmen im Flur. Das Krankenhaus. Papa war gerade gestorben…

Am nächsten Morgen machte ich mich wieder Richtung Schlosspark auf, aber ich machte nicht halt. Ich ging weiter durch den Wald, dann über die schneebedeckten Felder. Es hatte wieder geschneit über Nacht. Ich stampfte durch den weichen Schnee, der mich tröstend einhüllte.

Danach hatte ich die Trauer im Griff.

Zum Entsetzen aller war ich stundenlang unterwegs gewesen. Meine Mutter schien weniger gefasst. Ich sah sie kaum noch bis zur Beerdigung und meine Schwestern sogar noch weniger. Wir sprachen nicht darüber was passiert war. Nur meine alte Oma Bertrand und ich trösteten uns gegenseitig, entfernt von all den Tanten und Cousinen. Auf den Gedanken mit Dr. Albrecht zu sprechen kam ich erst gar nicht.

Oma Heydenreich war rundum freundlich und pragmatisch. Sie hatte schon viele Angehörige begraben. Bekam man da Übung mit der Zeit?

Leider reichte ihre Großherzigkeit nicht ganz für Menschen anderen Glaubens aus. Vor allem nicht, wie sich herausstellte, für die Familie meines Vaters.

Wenn sie aus ihrem kleinen Dorf bei Heidelberg zu Besuch kam, hatte sie entweder gerade eine Wallfahrt nach Lourdes hinter sich oder war gerade dabei eine solche zu planen. Sie brachte Naschereien für ihre Enkelkinder mit, die ein cleverer Geschäftsmann an die Frommen dort verscheuerte. Eine Flasche Weihwasser durfte auch nicht fehlen.

Sie erzählte uns mit Vorliebe von alten Damen in Rollstühlen, die durch das Wasser geheilt wurden, von Päpsten und Heiligen und Stigmata.

Aber Oma Heydenreich hatte eine Vergangenheit. Während sie mit siebzehn nämlich im Haushalt einer wohlhabenden jüdischen Familie in Frankfurt gearbeitet hatte, ereignete sich das Unaussprechliche, was in der Geburt meiner Mutter resultierte. Der Anfang aller Schmähungen, die meine Mutter in dem kleinen Dorf erdulden musste, und der zu Oma Heydenreichs lebenslanger Sündentilgung führte.

Sie hatte danach den erstbesten Mann geheiratet, den sie für geeignet hielt, ihre angeschlagene Ehre wieder auferstehen zu lassen. Der war gewalttätig und schenkte ihr zum jährlichen Hochzeitstag einen neuen Sohn, bevor er im Krieg verstarb. Sechs Söhne insgesamt, was ihr ein silbernes Mutterkreuz einbrachte. Wenn Oma Heydenreich mal nicht gerade ihren Heiligenschein polierte, regierte sie den Haushalt vom Schrein ihrer Küche aus.

“Hanne, du kannst doch die Trauerfeier nicht in einer evangelischen Kirche abhalten. Das kommt gar nicht in Frage,” kommandierte sie meine Mutter herum. Sie duldete keinen Widerspruch, wie sie so in sanft zischelnden Töpfen rührte.

“Aber was ist mit Oma Bertrand…” seufzte meine Mutter.

“Ach Papperlapapp, Oma Bertrand und ihre… Familie!” Oma Heydenreich machte an dieser Stelle das Kreuzzeichen. “Sie müssen entweder zu einer richtigen Kirche mitkommen oder sie können von mir aus ganz fortbleiben.”

“Ich muss doch ihre Wünsche respektieren. Walter war schließlich ihr Sohn,” versuchte meine Mutter zu verhandeln.

“Respektieren? Was wissen diese Menschen schon von Respekt vor unserem Herrn. Ich war ja immer dagegen, dass du diesen Walter – Gott habe ihn selig – geheiratet hast.”

Die beiden gingen bald einkaufen – es musste für Verpflegung für die bucklige Verwandtschaft gesorgt werden. Mir wurde befohlen, die Stellung zu halten, falls noch mehr Verwandte kamen.

Es klingelte. Ich erwartete eine unbekannte Tante oder Cousine, die ich auf einmal küssen sollte. Es stand aber eine ältliche Kundin meines Vaters vor der Tür. Sie wollte uns mitfühlenderweise wissen lassen, wie unzuverlässig die heutigen Krematorien doch seien - und vielleicht zur Trauerfeier eingeladen zu werden.

“Man kann nie sicher sein, ob die Asche der richtigen Person in der Urne landet oder net, wisse se.” Hatte ich richtig gehört?

“Ach…” Ich war sprachlos.

“Ja, wisse se,” fuhr sie eifrig fort. “Als der Vadder meiner Freundin Else kremiert wurde, war sie davon überzeugt, dass Körperteile einer anderen Leiche mit dabei waren… ein Arm oder ein Bein... Die schmeiße oifach alles zamme, diese Beerdigungsinschtitute.”

Es fiel mir schwer ihrem Wortschwall zu folgen. Woher nahm diese Fremde das Recht mich zu belästigen?

“Wie konnte Else da sicher sei, dass was sie in der Urne mitbekam wirklich ihr Vadder war, frag‘ ich Sie?”

Ich hatte meine Stimme wiedergefunden. “Ja, also... es tut mir leid, aber ich muss jetzt gehen. Viel zu tun. Danke für Ihren Besuch.”

Ich musste die Frau buchstäblich zur Tür hinausschieben. Dann lehnte ich mich gegen die Wand und heulte.

Ein reicher Großonkel zahlte nach der Trauerfeier in der katholischen Kirche, die durch die Abwesenheit der meisten Angehörigen meines Vaters glänzte, für den Leichenschmaus mit Kaffee und Kuchen. Zur Enttäuschung meiner Mutter hatte ich mich geweigert, in den Sarg zu schauen. Ich wollte Papa lebendig in Erinnerung behalten und nicht als Leiche. Meine Mutter wollte in der Kirche keine Szene machen, aber ich konnte ihr das Missvergnügen ansehen.

Der Priester hielt eine nichtssagende Rede. Er hatte meinen Vater nicht gekannt. Wusste nichts vom Blumenbeet und seiner Sehnsucht nach Masuren. Wusste nichts von seiner Enttäuschung am Leben. Die meisten Leute in der Kirche hatten Papa nicht gekannt. Verdammt, ich hatte ihn ja selbst kaum gekannt.

Das fühlt sich alles so falsch an, dachte ich. So sollte sich eine Beerdigung doch nicht abspielen.

Zwar hatte ich keinerlei Erfahrung mit Trauerfeiern – keine – aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass etwas fehlte. Sollte es da nicht ein vernünftiges Ritual geben? Eine Prozession, ein Scheiterhaufen oder angemessenen Gesang.

‘Ram nam satya hai...’ Die monotonen Worte drängten sich mir auf, aber ich wusste nicht was sie bedeuteten. ‘Ram nam satya hai...’ Ja, nicht schlecht. Ich summte während der ganzen Veranstaltung vor mich hin.

Auf dem Weg zur Straßenbahnhaltestelle nahm ich mich in acht, nicht auf gebrochene Pflastersteine zu treten. Wenn ich schon nichts anderes unter Kontrolle hatte, dann wollte ich wenigstens auf heile Platten treten. Ram naja…

“Hört sich wie ein Hippie-Lied an,” sagte meine neueste Freundin Doris. Wir hatten uns nach der Kirche in einem Café in der Stadt verabredet.

“Was für ein Hippie-Lied denn? Hast du das schon mal gehört?”

Ich war längst aus meiner Beatles-Phase herausgewachsen. Doris war irgendwie anders. Intellektuell und kantig und sie sah ein wenig wie Morticia Addams von der Addams Family aus. Ich mochte sie.

Im meinem Freundeskreis machte anscheinend nur Doris das Thema Sterben und Trauerfeiern nichts aus. Im Gegenteil. Sie mochte morbide Themen. Spinnen und ansteckende Krankheiten und solche Sachen.

“Hmm, ’Hair’ vielleicht oder warte - ’Ougenweide’. Die benutzen immer so komische Worte in ihren Liedern. Wie in den ‘Merseburger Zaubersprüchen’: Eirissa suhn didisie...” Sie summte die Melodie.

Im Herbst erst waren wir zusammen bei einem Konzert der Folk-Gruppe ‘Ougenweide’ gewesen und ich ging oft in den Plattenladen, um mir Folk Musik anzuhören. Schließlich hatte ich kein Geld, um Langspielplatten zu kaufen. Ougenweide, hmm. Ich war von der Erklärung beeindruckt.

“Du hast recht. Wahrscheinlich habe ich das Lied irgendwo gehört.” Aber so ganz glaubte ich nicht daran.

“Ich hasse Beerdigungen im Winter,” beschwerte ich mich bei Doris. “Alles ist so dunkelgrau und nasskalt. Das macht alles nur noch viel schlimmer.” Ich schluckte ein paar Tränen hinunter. “Warum muss das so morbide sein? Die Leute benehmen sich so verrückt und heucheln Anteilnahme”

“Beerdigungen sind immer so. Alles ist tierisch morbide. Passend eigentlich,” sagte Doris nüchtern. Ich erzählte ihr von der alten Frau mit dem Krematorium.

“Das ist ja echt ätzend. Wie kommt die Frau dazu dir sowas zu sagen?” regte sich meine neue Freundin auf.

“Keine Ahnung. Meine Mutter wollte auch, dass wir in den offenen Sarg schauen. Total makaber.”

“Wirklich? Sie wollte, dass du dir deinen toten Vater anschaust?” Doris nahm einen Schluck heißen Kaffees und fegte ihre dunkle Mähne nach hinten, damit der junge Mann schräg gegenüber sie gebührend bewundern konnte. Ich sah, dass ihr Manöver funktionierte.

“Ja, gleich hinten im Altarraum. Ich bin nichtmal ‘reingegangen. Sie hat uns das mal wieder einfach so vor‘n Latz geknallt ohne darüber zu reden.”

“Ich glaube ich hätte das gemacht,” Doris biss sich auf die Unterlippe.

“Was? Na schönen Dank auch. Es handelt sich ja auch nur um meinen Vater, nicht um Stalin oder eine ägyptische Mumie.” Ich schüttelte mich.

“Ja, klar ist das nicht das gleiche. Nicht sehr nett von deiner Mutter,” erwiderte Doris schnell und spielte mit dem Teelöffel. Sie tanzte noch den Zuckerstreuer auf dem Tisch herum, dann warf sie ihre Haare wieder spielerisch nach hinten.

“Ach, die macht das immer so. Über nichts wird vorher gesprochen,” beklagte ich mich noch ein bisschen.

“Ich glaube, ich würde mir meinen Vater anschauen.” Doris starrte verträumt vor sich hin, als stünde der Sarg ihres Vaters tatsächlich vor ihr. “Ich war noch nie bei ‘ner Beerdigung. Ich frag’ mich, ob das so ist wie in ‘Harold and Maude’.”

“Wir können gerne tauschen, wenn du willst.” Ich winkte vor ihrem Gesicht hin und her, bis sie mich wieder ansah. “Das ist in Wirklichkeit nicht so wie im Film. Das ist ein richtiger Mensch, den man gut kennt... gekannt hat. Es ist als ob er noch da wäre und alles ist gar nicht wahr.”

“Ich frage mich, ob die Leiche wirklich noch der Mensch ist oder ob der Mensch gar nicht mehr drin steckt.” Oje.

Vielleicht hätte ich Doris von Dr. Albrechts Regressionstherapie und Reinkarnation und allem erzählt sollen; aber dann hätte ich ihr alles erklären müssen und das konnte ich jetzt einfach nicht.

Insgeheim wünschte ich mir, dass Papa in einem Himmel gelandet war, der wie Masuren unendliche Wälder mit Pilzen und Beeren hatte, und einen großen See, in dem er endlos angeln konnte.

“Hast du schon mal was von Karma gehört,” fragte sie mich nach einer Pause, in der wir unsere heißen Getränke schlürften und ein Stück Käsekuchen teilten.

“Ne, was ist das dann?”

“Man muss für seine schlechten Taten im Leben geradestehen, wenn man stirbt, oder so ähnlich. Jedenfalls bezahlt man irgendwann für seine schlechten Taten.”

“Du meinst wie in der Kirche. Man muss Gott, dem Richter, Rede und Antwort stehen und dann wird das Gute gegen das Schlechte abgewogen. Haben wir im Katechismus gelernt.”

“Wirklich? Ich glaube das mit dem Karma kommt eher aus Indien.”

Wie auf Befehl kamen zwei Frauen in bunten Saris und Wintermänteln zur Tür herein geweht und brachten einen eisigen Luftzug mit. Sie sagten etwas zueinander. Ich starrte sie an. Ich verstand nichts. Die Tür schloss sich schnell wieder mit einem Klingeln und die beiden nahmen ihre breiten wollenen Schals ab. Die jüngere Frau lächelte mich an, dann stiegen die beiden die Treppe zur Galerie hinauf.

“Was?”

Doris hatte mich etwas gefragt. “Wie die wohl die Kälte in so dünnen Kleidern aushalten?”

“Weiß ich nicht. Mir ist auch kalt. Komm’, lass uns geh’n. Ich bin todmüde und draußen wird’s schon stockdunkel.” Ich zählte ein paar Münzen auf den Bistrotisch. “Oma Bertrand wird sich wundern, wo ich abgeblieben bin.”

Ich hatte das komische Lied bald wieder vergessen, und auch das Gefühl, dass die Trauerfeier anders hätte sein müssen. Zumindest nicht wegen des nicht vorhandenen Scheiterhaufens oder einer Prozession und so ’nem verrückten Zeug.

Nach der Beerdigung jammerte meine Mutter tagein und tagaus. Sie bekam Medikamente, aber ich hatte da so meine Zweifel an deren Wirksamkeit.

“Warum hat er mich auf der Welt allein gelassen? Wie konnte er mir so etwas antun?” jammerte sie. “Ich wünschte er hätte mich mitgenommen.”

“Wir sind doch auch noch da. Was sollten wir denn ohne dich tun?” fragte Evelyn traurig.

“Dass ihr immer nur an euch denkt! Versetze dich doch mal in meine Lage.”

Der Stich traf Evelyn. Ihr standen Tränen in den Augen. “Dann wälzt dich doch in deinem blöden Selbstmitleid,” sagte ich barsch. “Ändert sich doch sowieso kaum was bei dir.”

“Ich habe wirklich keine Nerven für dein schlechtes Benehmen, Isabell. Ach, warum hat er mich nicht mitgenommen. Jetzt muss ich mich allein mit euch dreien ‘rumplagen.”

Das war ihr voller Ernst. Meist bemerkte sie uns kaum und wir ließen sie in Ruhe.

Was sie auch nicht merkte war, wie Paula sich veränderte. Sie kam oft spät nach Hause, verkroch sich in ihr Bett, wollte mit niemandem reden. Die verwöhnte Paula schlug langsam über die Stränge. Im Krankenhaus hatte sie sich von Papa auf der Intensivstation nicht verabschieden dürfen, weil sie erst dreizehn war. Keine Ausnahmen. Niemand hatte sich um sie gekümmert. Ich flüchtete zu Oma Bertrand.

Als alle Verwandten und Trauerkrähen wieder fortgezogen waren, knöpfte Mutti sich meine Dinosaurier-Oma vor. Es gab keinen Platz mehr für sie hier. Oma Bertrands wohlhabende Tochter Bertha kam am Monatsende und holte sie ab, als ich gerade in der Schule war.

Alles was ich wusste war, dass sie in der Nähe von Kassel wohnte. Unsere Fragen blieben unbeantwortet. Alles was wir erfuhren war, dass unsere Mutter ‘endgültig genug’ gehabt hatte. Mir blieb nichts anderes übrig, ich musste wieder zu meiner Mutter ziehen.

Evelyn rauchte jetzt Kette und zog bald zu ihrem Freund. Sie war achtzehn und sehr hübsch, aber es haperte mit dem Selbstbewusstsein. Trotz ihrer Intelligenz schaffte sie die Schule nicht mehr und ich sah, dass sie sich wieder die Arme mit Zigaretten verbrannte. Wir sahen uns nur noch selten.

Ich hatte Glück im Unglück und fand über die Pinnwand an der Universität ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft. Der Zettel hing direkt vor meiner Nase:

’30m2, Innenstadt, 120 Mark/ Monat warm. Tel.: 457 782’ Fantastisch. Ich rief die Nummer an.

“Das Zimmer ist noch zu haben,” sagte ein Physikstudent namens Ingmar. “Ein geräumiges Zimmer mit Waschbecken im vierten Stock. Da gibt es auch noch eine riesige Küche, die wir teilen und eine winzige Toilette. Manfred studiert Meteorologie und ist ziemlich ruhig.”

Ich radelte sofort hin. Ich wurde genommen.

Mein neuer Wohnplatz war auf der obersten Etage eines alten Bürgerhauses an einer der lautesten Hauptstraßen in Karlsruhe. Es war herrlich. Ich bemerkte den Lärm kaum. Die beiden Studenten waren vollkommen zuverlässig und konservativ. Kein bisschen Hippie.

Ingmar war ein schmächtiger Physikstudent im dritten Semester, mit dicker Brille und dickem Motorrad. Manfred war breit und langweilig, aber nett genug, das Telefon in seinem Zimmer mit mir zu teilen. Solange ich den Betrag zahlte, den er jeden Monat haarklein ausrechnete.

Auf einmal hatte ich zwei große Brüder. Wer brauchte schon doofe Schwestern, wenn man zwei große Brüder haben konnte?

Ich war gerade mal siebzehn, aber meine Mutter hatte nichts gegen die Wohngemeinschaft einzuwenden. Ich war endlich frei und fühlte mich schrecklich erwachsen.

Die bescheidene Waisenrente, die ich erhielt, reichte gerade für die Miete und etwas Essen aus. Was ich durch Latein-Nachhilfestunden mit Fünftklässlern verdiente, ging für Bücher und Kleidung drauf. Einmal wöchentlich wusch ich Wäsche bei meiner Mutter. Meist, wenn sie nicht da war. Es ging.

Trotz des stinkenden Ölofens neben dem Waschbecken und dem leckenden Dach, genoss ich ungestörte Ruhe. Ich konnte zu Partys gehen oder Renate bei mir übernachten lassen oder studieren oder Musik hören oder alleine sein, ganz wie es mir gefiel. Nach einer Weile verstummte sogar die kritische mütterliche Stimme in meinem Kopf. Endlich durfte ich meine eigenen Gedanken denken.

Nach ein paar Wochen herrlichen Freiseins erfuhr ich, dass meine jüngste Schwester Paula sich in gefährlichen Kreisen herumtrieb. Sie begann Drogen zu nehmen. Mit dreizehn. Zwar war sie noch zu jung, um auszuziehen, aber sie tat was ihr passte.

Unsere Mutter hatte keine Ahnung davon und als sie sich impulsiv entschied, die erste Auszahlung der Lebensversicherung in einer Mittelmeerkreuzfahrt anzulegen, war Paula begeistert.

Drei Wochen sturmfreie Bude!

Ich tat mein bestes, sie unter Kontrolle zu halten, aber Paula war starrköpfig und sah keinen Grund darin, mir zu erklären, wo sie nachts wieder gewesen war. Sie glitt mir immer wieder durch die Finger.

“Mit wem hängst du schon wieder ‘rum?”

“Lass’ mich zufrieden, Isabell. Du bist stinklangweilig,” gab sie zur Antwort. “Du hast gut reden. Isabell der Rebell.”

Ich versuchte an ihren Kleidern zu riechen. Der süßliche Rauch sprach Bände. “Geht dich ‘n Furz an. Du bist nicht meine Mutter.”

“Ja, Gottseisgebimmelt! Gehst du heute Abend wieder in den ‘Omnibus Club’?” fragte ich und sah zu, wie Paula Müsli in sich hineinschlürfte.

“Ja Ok, und zum ‘One Stop Café’. Wieso?”

“Weil ich das wissen muss. Du bist erst dreizehn.”

“Aber ich sehe viel älter aus. Sagt jeder. Hans denkt ich sollte Fotomodel werden.” Hans war ihr neuester Freund und mindestens 18.

“Versuch’ doch mal dein Gehirn anzustrengen, Paula. Ein Model mit dreizehn? Was weiß Hans denn schon von sowas?”

“Er hat mich diesem Kerl vorgestellt. Der ist Fotograf und will Bilder von mir machen und sogar dafür bezahlen.”

“Hast du noch alle Tassen im Schrank? Hast du Mutti davon erzählt? Du wirst auf keinen Fall zu irgendeinem Fotografen gehen, der dich bezahlen will, verstanden?!” Ich keuchte hilflos und hatte absolut keine Ahnung, wie ich sie davon abhalten sollte.

“Ach ja? Du kannst ja mal versuchen mich zu stoppen, Mami.”

Paula ging natürlich zu dem Fotografen. Und der gab ihr Kokain. Das war alles, was sie mir erzählte.

“Sag’ Mutti nichts davon oder du bist schuld wenn sie einen Herzinfarkt bekommt,” quakte sie am nächsten Tag. Ihre Augen waren verheult.

“Du hast verdammt Recht, ich werde es ihr nicht erzählen! Weil du ihr das nämlich selbst sagen wirst. Was ist, wenn du jetzt drogenabhängig wirst?” schnauzte ich sie an.

“Ach was, ich bin doch nicht drogenabhängig! Ich hab’ auch schon mal Heroin mit Ute zusammen genommen. Ich rauch‘ nur ‘n bisschen Hasch und so. Weiß doch jeder, dass das nicht abhängig macht.” Dagegen kam ich nicht an.

Mindestens die Hälfte meiner Mitschüler rauchten ab und zu Haschisch und hielten mich wegen meines eigensinnigen Widerstands gegen Drogen für einen totalen Spielverderber.

Nach drei Wochen kam unsere Mutter quietschvergnügt von ihrer Kreuzfahrt wieder. Frau Speidel vom vierten Stock, war sehr beeindruckt vom Seidenteppich aus der Türkei und den Keramikvasen aus Griechenland.

“Aber das muss doch ein Vermögen gekostet haben…” staunte ich.

“Was geht dich das an? Es ist schließlich mein Geld. Ich hab‘ mir noch nie etwas gegönnt. Immer sparen müssen wegen der Kinder. Immer nur harte Arbeit und Kinder aufziehen.”

“Ja übrigens, was das angeht…” Paula hatte ihr natürlich nichts von ihren Eskapaden erzählt. “Paula hat öfters die Schule geschwänzt. Sie ist immer mit ihrer Freundin Ute unterwegs und mit ihrem Freund Hans. Hans hat sie neulich einem Fotografen vorgestellt, der ihr Kokain gegeben hat. Der hat er irgendwelche Fotos von ihr gemacht. Ute ist heroinabhängig und zudem noch schwanger und Paula wohnt meist in einer Drogenwohngemeinschaft in der Südstadt.” Ich holte übertrieben tief Luft. “Ich dachte du solltest das wissen.”

“Hast du dir das etwa alles ausgedacht?”

“Nein.”

Ihr Gesicht wurde feuerrot. “Du solltest dich doch um sie kümmern! Kann ich mich nicht mal auf dich verlassen?” schnappte sie und einen Moment lang dachte ich tatsächlich, sie bekäme einen Herzinfarkt.

“Wieso ist das meine Schuld? Sie ist dreizehn und du solltest sie nicht so lange allein lassen. Ich bin siebzehn und Evelyn ist sonstwo.”

“Was fällt dir ein so mit mir zu reden? Ich habe es verdient, ein wenig Zeit für mich zu haben. Nach allem, was ich mitgemacht habe. Zeige gefälligst Respekt!”

“Respekt muss man sich verdienen.”

“Fängst du wieder mit dem Unsinn an, jetzt wo wir alle zusammenhalten sollten? Willst du, dass ich die Sozialarbeiterin anrufe?” Sie warf mir einen drohenden Blick zu.

“Was würde die wohl zu Paulas Verhalten sagen.”

“Ach so ist das, ich bin nicht gut genug als Mutter?” Was sollte ich dazu sagen. Sie war die einzige Mutter, die wir hatten.

Danach redeten wir ein paar Wochen nicht miteinander und ich musste mir eine Hasstirade von Paula gefallen lassen. Das war ja nichts Neues. Es kam aber noch schlimmer.

Eines Abends rief mich eine betretene Paula an. Sie war naiv genug gewesen, ihrem mit Drogen dealenden Freund ein Stück Haschisch, das sie in einem Nutellaglas versteckt hatte, ins Gefängnis mitzubringen. Jetzt brauchte sie auf einmal wieder meine Unterstützung.

“Bist du verrückt geworden?” fuhr ich sie verzweifelt an.

“Oh Isabell, ich war ja so doof. Ich hätte Pfeffer in das Plastiktütchen tun sollen, dann hätten die Spürhunde es nicht entdeckt.”

“Ja, das ist genau das Problem. Nicht, dass es kriminell ist, Drogen in ein Gefängnis zu schmuggeln. Nein, du hättest es professioneller anstellen sollen! Was hast du dir bloß dabei gedacht?“

“Weiß ich nicht. Hans hat mir gesagt, was ich tun soll.”

Die Sache landete vor Gericht. Der Richter gab meiner mittlerweile vierzehnjährigen Schwester eine strenge Verwarnung und brummte ihr achtzig Stunden Sozialdienst in einem Kinderheim auf. Meiner Mutter befahl er, sich gefälligst um ihre minderjährige Tochter zu kümmern.

Sie war zutiefst beschämt. Was sollten die Leute bloß denken - und ihre Familie erst?

Dann beschloss sie es niemandem zu erzählen. Wir durften es natürlich auch nicht, dabei hatten wir so gut wie keinen Kontakt mit den ‘Leuten’.

Als ich mich eines Nachmittags gerade mit meiner sauberen Wäsche aus dem Staub machen wollte, hörte ich wie sich meine Mutter in ihrem Schlafzimmer rührte. Ich wollte ihr nicht begegnen und beeilte mich so leise wie möglich aus der Wohnung zu kommen. Wir gingen uns zur Zeit nämlich wieder aus dem Weg. Ich sprang über die gesprungene Treppenstufe im zweiten Stock und versuchte dabei nicht auf das kaputte Glasfenster direkt zu sehen. Dann lief ich ausgerechnet Frau Speidel in die Arme!

“Guten Tag.” Ich versuchte zu flüchten, aber das war gar nicht so einfach.

“Gudde Tag, Isabellsche, so spät noch bei der Mutter?” schrillte Frau Speidel.

“Ja, Wäsche waschen. Ich muss jetzt schnell nach Hause, um auf eine Klausur zu lernen,” log ich. “Wiederseh‘n.”

“Aha. Geht‘s denn gut mit derre Schul‘? mach’sch denn auch dei Arbeit?” Sie schielte mich Verdacht schöpfend an.

“Ja, gut. Wiedersehen.” Ich wartete nicht auf Frau Speidels Antwort und war zur Haustür hinaus, bevor sie mich in ein Gespräch verwickeln konnte.

“Tststs, die junge Leit heitzudaag…” hörte ich sie noch schwach hinter mir.

Es war besser, wenn ich mich nicht auf derartige Gespräche einließ. Frau Speidel würde meiner Mutter sowieso brühwarm erzählen, dass ich in der Wohnung gewesen war. Verdammt! Schließlich hatte ich schon genug am Hals. Mit der Zeit wurde ich unabhängiger, arbeitete, schrieb gute Noten, bezahlte Rechnungen und wusch meine Wäsche lieber bei Renate zu Hause.

Im Frühjahr ging ich übers Wochenende zu einem Schulseminar aufs Land. Mein Ethik-Lehrer hatte mich zusammen mit drei anderen Schülern vorgeschlagen. Nett von ihm. Wir waren insgesamt dreißig Schüler aus dem ganzen Bundesland.

Ich teilte mir ein Zimmer mit Kathrin. Für siebzehn war sie schon sehr erwachsen, rauchte Zigaretten und hatte einen festen Freund. Ihre geschiedene Mutter hatte angeblich nichts dagegen. Das fand ich einfach fabelhaft. Eine moderne Mutter!

Wir kauften hinter dem Rücken der Lehrer ein Päckchen Zigarillos im Dorf und pafften es auf unserem gemeinsamen Zimmer. Ich kam mir durch das kleine Geheimnis sehr erwachsen vor, aber eigentlich mochte ich Rauchen nicht besonders und Zigarillos schon gar nicht. Um ehrlich zu sein wurde mir schlecht davon.

Als wir wieder in Karlsruhe waren, kannte Kathrin mich plötzlich nicht mehr und ich rührte keine Zigarillos mehr an. Sie erinnerten mich zu sehr an Papas Zigarren.

Abenteuer Halbmond

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