Читать книгу Rose of India - Eveline Keller - Страница 12
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Vor über neun Monaten war Ambers größter Wunsch, eine Kreuzfahrt durch den Indischen Ozean zu machen, tatsächlich in Erfüllung gegangen. Und zu Beginn fühlte sich alles an wie ein Traum. Sie war gerade frisch verliebt. Noch nie war es mit einem Mann so lustig und abwechslungsreich im Bett gewesen. Raul, der ein echter Glückstreffer zu sein schien, hatte für sie beide gebucht. Sie wollte sich während der nächsten zwei Wochen, ausschließlich ihrem neuen Schatz widmen, und er sich nur ihr.
Das Reiseprogramm versprach zudem einiges an Unterhaltung. Sie würden in Ägypten an Bord gehen, vom Roten Meer in den Golf von Aden fahren, am Horn von Afrika vorbei, nach Karachi und dann der Küste folgen, bis nach Bombay. Landgänge wurden geboten, sie konnten berühmte Hafenstädte besuchen, orientalische Basare leerkaufen und Museen besichtigen. Nach dreizehn Tagen würde die Reise in Bombay enden, und nach einer Übernachtung im Hotel, würden sie nach Hause fliegen.
Hätte sie geahnt, welch folgenschwere Ereignisse sie erwarteten, wäre sie wohl nie an Bord gegangen.
Am Morgen vor dem Flug brachte Amber eine aufgeregte Melanie mit ihrer kichernden Freundin Sara zum Bahnhof. Die beiden reisten in ein zweiwöchiges Kletterlager in den Bieler Jura.
Dann fuhr sie direkt zum Flughafen, flog nach Kairo und von da aus nach Hurghada. Sonnenschein war hier garantiert, das war nach dem verregneten Sommer in der Schweiz genau das Richtige. Ein Taxi brachte sie an den Pier. Wo sie mit Freudentränen in den Augen vor dem strahlend weißen Schiff stand und ihr Glück kaum fassen konnte.
Die MS Salander war kein Riesenschiff, dafür aber mit vielen Extras ausgestattet. Denn man legte ebenso Wert auf genügend Platz für die Passagiere wie auf einen tadellosen Service. Ihre Platzzahl war gewollt beschränkt, für luxusverwöhnte Gäste, die gerne Ferien unter ihresgleichen machten.
Amber würde sich nach allen Regeln der Kunst verwöhnen lassen. Faulenzen stand ganz oben auf ihrer Wunschliste; sich das herzhafte Lachen wieder zurückholen, das ihr im Alltag abhandengekommen war, gleich danach, und dazu würde sie sich eine knackige Bräune besorgen. In ihrem Liebesnest, der Honeymoon-Suite, würde sie all das nachholen können, was sie bisher vermisste. Falls sie Abwechslung suchte, bot die Wellness-Oase alles, was das Herz begehrte. Massagen, wo sie sich in Honigcreme aalen, den schlaffen Körper in Heilschlamm beleben oder sich nach dem Dampfbad mit Mandelöl beträufeln lassen konnte. Stand ihr trotzdem der Sinn nach etwas Nervenkitzel, könnte sie sich im Spielcasino die Zeit vertreiben.
Einziger Wermutstropfen war, dass Raul mit einem anderen Flug anreiste, damit seine Noch-Ehefrau, von der er sich bald trennen würde, nichts merkte. Er hatte die Teilnahme an einer „Internationalen Konferenz der Hersteller von künstlichen Hüftgelenken“ als Grund für die Reise vorgeschoben.
Amber verliebte sich auf Anhieb in die romantische Suite mit kleinem Entree, stilvoll eingerichtetem Wohn- und Schlafraum mit Himmelbett, großen Fenstern und einem kleinen Balkon. Ein Schrankzimmer und Badezimmer rundete das Ganze ab.
Nachdem sie ihre Sachen eingeräumt hatte, duschte sie, cremte sich mit einer nach Orangen riechenden Lotion ein und flocht sich violette und weiße Bänder ins natürliche schwarze schulterlange Haar. Sie schlüpfte in ein hellbeiges Mieder, mit lila Spitzen am Dekolleté und Strumpfhaltern, dazu zog sie rosaseidene Strümpfe an. Prüfend drehte sie sich vor dem bodenlangen Spiegel. Ihre Brust wurde nach oben gepresst, die schlanke Taille lenkte den Blick auf die runden Hüften und die hübschen Beine, Sandalen mit hohen Absätzen dazu machten es komplett. Sie sah aus wie eine Rokoko-Puppe, verspielt und sehr sexy.
Zufrieden legte sie sich aufs Bett, blätterte in einem Magazin, wählte ein Abendessen von der Menükarte aus und wartete. Minuten reihten sich zu Stunden und Ambers erwartungsvolle Hitze kühlte sich immer mehr ab. Sie versuchte Raul auf dem Handy anzurufen, erreichte jedoch nur seine Mailbox. Sie begann zu frösteln in der leichten Wäsche. Schließlich griff sie sich resigniert ein buntes Cocktailkleid aus dem Schrank, zog es an und gesellte sich zu den anderen Gästen, die sich zum Begrüßungs-Apéro in der Messe versammelt hatten.
Inzwischen hatte die MS Salander unter begeistertem Beifall abgelegt. Der Kapitän hielt eine kurze Rede, hieß alle herzlich willkommen und machte die Gäste miteinander bekannt. Diese kamen aus allen Teilen Europas, von Russland und Norwegen bis Portugal und der Türkei. Die entstehenden Gespräche wurden, je nach Sprachkenntnissen, mit Gesten reich untermalt und liefen meist auf eine Aufzählung verschiedener Feriendestinationen hinaus.
Amber war nur mit halbem Herzen bei der Sache und eben im Begriff, sich nochmals aus der Bowle zu bedienen, als sie ein bekanntes Gesicht erblickte. War das wirklich David Maler; und wer war die schwangere Frau an seinem Arm? „Möchtest du dich setzen? Wäre es nicht bequemer, wenn du die Füße hochlegen könntest? Magst du noch einen Gemüsedip? Nein, kein Salzgebäck, das schadet dir in deinem Zustand.“
Der ehemalige Partylöwe trug seine Frau praktisch auf Händen. Alle waren entzückt von den beiden - bis auf Amber. Ihr Magen hob und senkte sich beim Gedanken, den beiden vorgestellt zu werden. Das war so ätzend! Bewusst umging sie die Turteltäubchen großräumig. Was hätte sie auch sagen sollen? „Gratuliere David, eine weitere Frau geschwängert?“ Sie wollte das junge Glück nicht zerstören.
Irritiert wandte sie sich der nächsten netten Dame zu, die sich ihr vorstellte: „Mia Reber, und das ist Raul, mein Mann.“
Er lächelte ihr zu, ohne mit der Wimper zu zucken.
Amber biss beinahe in ihr Glas.
„Raul ist in der Gesundheitsprothesen-Branche tätig. Wir kommen gerade von einer internationalen Konferenz in Kairo.“
Da stand ihr Raul. Gestern noch hatte er ihr die wahre Liebe geschworen. Die Luft zwischen ihnen vibrierte, doch Mia fuhr unbeirrt fort. „Da sag ich: ‚Chrauli‘ - das ist sein Kosename – also, Chrauli, bald sind wir zwanzig Jahre verheiratet. Wie wäre es, wenn wir auf einer Kreuzfahrt feiern würden? Wie in dieser Serie von äh - Dings. Das ist doch mal eine Abwechslung zu Marbella oder Fiji.“
Die Frau, die Raul abschätzig ‚Elefäntli‘ nannte, bebte vor sympathischer Lebendigkeit. Sie sah wie die jüngere Schwester von Miss Marple, der Hobby-Detektivin aus den Agatha-Christie-Krimis, aus. Okay, sie war nicht schön, und sicher stand Rauls sorgsam konserviertes Sunnyboy-Aussehen höher im Kurs, aber sie hatte Pfiff.
„Was für ein bezauberndes Kollier“, bewunderte eine hinzutretende Brünette, die Amber als Managerin einer Kosmetik-Kette vorgestellt worden war.
„Chrauli hat es mir zum Hochzeitstag geschenkt“, strahlte Mia, was reihum beeindrucktes Kopfnicken auslöste. „‚The Rose of India‘ heißt der Rubin. Nur die wertvollsten Steine erhalten Namen.“ Dann senkte sie geheimnisvoll ihre Stimme: „Er fördert die Liebe, behütet das Leben und soll für besseren Sex sorgen.“ Sie winkte ab. „Was für uns ja kein Problem ist. - Und er besitzt heilende Kräfte.“ Wieder lauter: „Der Juwelier in Kairo hat uns Geschichten erzählt, eine abenteuerlicher als die andere. Ursprünglich hat ihn der Scheich von Mosambik seiner ersten Frau zur Hochzeit geschenkt.“
Mia reckte ihr umfangreiches Dekolleté zur näheren Betrachtung vor. „Ist er nicht wunderschön?“ Alle bestaunten den roten Edelstein, der, von Diamanten eingefasst, an einer goldenen Kette um ihren Hals hing. Er machte sich sehr hübsch in dem Tal zwischen den weichen Hügeln und funkelte wie eine Königin, die Hof hielt.
Amber fehlten die Worte. Schließlich quetschte sie ein „Ja, sehr, sehr …“ hervor, blinzelte mit brennenden Augen. „Oh, entschuldigen Sie, mir ist da was ins Auge geraten“, und verschwand in Richtung Frauentoilette.
„Ah, das tut mir leid“, rief ihr Mia hinterher und zu Raul gewandt: „Sympathisch und offensichtlich alleine. Chrauli, wir müssen was für das arme Ding tun, sie ist scheu. Du kennst mich, ich verkupple für mein Leben gerne Menschen. Mal sehen…“
Nichts von den Absichten ihrer neu gewonnenen Freundin ahnend, marschierte Amber in ihre Kabine, riss den Koffer hervor und stopfte ihre Kleider hinein. Nichts wie weg hier! Dieser hinterhältige Lügner, dieser schleimige Heuchler! Er hatte sie als Mätresse eine Etage höher einquartiert, während er bei Mia den liebevollen Ehemann mimte.
Ohne anzuklopfen trat Raul ein und breitete seine Arme aus. „Hier lässt es sich leben. Ist das nicht die schönste Kabine auf dem ganzen Schiff? Aber für mein Mausibällchen ist mir nichts zu teuer! Nun gib mir mal einen richtigen Begrüßungskuss, mit vollem Körpereinsatz.“
Er hätte sich nicht mehr irren können.
„Du Heuchler! Lügner! Was macht deine Frau hier? Die Kreuzfahrt war meine Idee, es sollte uns den Alltag vergessen lassen, ohne deine Frau und ohne meine Tochter.“
„Ah, du hast eine Tochter? Ist sie hübsch?“
Amber kochte.
„Ach komm, mach mir jetzt keine Szene, ja. Eine Frau, die mich mit Vorwürfen eindeckt, reicht mir.“ Er warf in einer einnehmenden Geste die Arme hoch. „Ich weiß nicht, was du hast. Wir sind zusammen, können uns täglich treffen. Ich habe bereits Privatstunden in Yoga gebucht. Verstehst du?“, kicherte er und bewegte seine Hüften vor und zurück. „Jeden Morgen, zehn Uhr dreißig bin ich bei dir.“
Bisher hatte sie sich nie an seinen blöden zweideutigen Sprüchen gestört, jetzt bekam sie Gänsehaut davon. War sie so blind gewesen? Amber stieß ihn angewidert von sich, als er sie umarmen wollte. „Bist du übergeschnappt! Das sollte unsere Traumreise werden, erinnerst du dich: Zusehen, wie der Wind die Wellen kräuselt und die Sonne sich im Wasser spiegelt“, zischte sie, seine Worte wiederholend, die er ihr schwärmerisch ins Ohr geflüstert hatte. „Nur wir zwei, den ganzen Tag, wie uns Gott schuf. Nicht nur ein Quickie zwischendurch!“ Jetzt nur nicht in Tränen ausbrechen. „Wie hast du dir das vorgestellt: Du machst mit deiner Frau eine Kreuzfahrt, und ich soll mich jederzeit bereithalten. Etwa so?“ Sie spreizte provozierend die Beine, und er bekam Stielaugen. „Vergiss es!“
Er sah das anders: „Aber Mausi – komm, das wirst du kaum merken. Wir richten uns gemütlich ein, und ich komme zu dir, so oft es geht. Vergiss alles andere und genieße einfach die Reise.“
Etwas zwischen den wild in den Koffer geworfenen Kleidern weckte plötzlich seine Neugierde. „Zeig mal her. Was hast du da Nettes. Ah, das ist mein Mädchen! Komm, lass uns das ausprobieren.“ Strahlend vor Freude betrachtete er ein Sexspielzeug nach dem anderen. „Ein Mundknebel …, Ah, das sind asiatische Perlen? Da bleibt kein Auge trocken, wirst sehen. Oh, ein Mieder für mich, hm. Du machst mich fertig. Was ist d…?“ Weiter kam er nicht.
Sie packte alles in die Tüte zurück und warf sie auf den Flur hinaus.
„Was machst du da?“ Bevor er sich versah, ereilte ihn dasselbe Schicksal und er hörte, wie innen der Riegel vorgeschoben wurde. „Los, mach auf! Böses Mädchen! Ich versohl dir den Hintern!“, grinste er, während er an die Tür pochte.
Der Passagier, der just in dem Moment vorbei kam war David. Immer hellhörig bei Streitereien, fragte er: „Na, Herr Reber, was verloren?“
Der flüsterte zur Tür gewannt, hinter der er Amber wähnte: „Ich komme wieder heute Nacht. Bis dann.“
Sie antwortete mit einem Tritt gegen die Tür.
“Weiber“, murmelte Raul, schnappte sich die Tüte und ging kopfschüttelnd davon.
Amber verbarrikadierte am Abend die Tür mit einem Stuhl und überstand die erste Nacht soweit unbehelligt. Nach dem Frühstück betrat sie gestärkt das Deck. Hier ließen sich teigig weiße Gäste von der Sonne mehr Farbe verleihen und warteten darauf, dass die würzige Meeresluft ihre Bäuche wieder zum Knurren brachte. Amber hoffte, dass Raul es nicht wagen würde, sie inmitten der anderen zu belästigen. Die warme Sonne würde ihren Seelenschmerz etwas lindern. Sie rückte sich etwas abseits einen Liegestuhl zurecht. Seufzend streckte sie sich aus, rutschte nach rechts, nach links, bis sie eine bequeme Position fand. Sie entnahm ihrer Badetasche ein Buch und blätterte interessiert darin. Wann hatte sie das letzte Mal gelesen? Vor einem Jahr? Als Kind hatte sie dauernd ihre Nase in Büchern gehabt - was war bloß aus ihr geworden.
In freudiger Erwartung schlug sie es auf und war bald in eine mittelalterliche Welt mit Fürsten und Prinzessinnen versunken. Ein geheimnisvoller, schwarzer Ritter gewann wichtige Schlachten für den König und rettete Hofdame samt Hofstaat. Endlich hatte er seinen Widersacher gestellt, holte aus, um ihn mit dem Schwert zu durchbohren…
„Spürst du das, Baby?“, drang da Davids Stimme zu ihr hinüber. „Schau, Liebling, ich stell dir die Liege in den Schatten.“ Er half seiner Frau, sich hinzusetzen, obwohl ihr Bauchumfang noch sehr moderat war und sie sich normal bewegen konnte. Überhaupt schien Jessica die Schwangerschaft gut zu bekommen, sie sah frisch wie der Morgentau aus. Keine Spur von aufgeschwollenen Füssen oder roten Flecken im Gesicht. Ihr honigfarbener Teint schimmerte samtweich, und die blonden Haare hätten für eine Shampoo-Werbung Verwendung finden können – , die perfekte Spannkraft. Amber hatten die Haare wie müder Schnittlauch dauernd im Gesicht gehangen und sie fast wahnsinnig gemacht. Neidisch dachte sie: Manche Frauen haben das Glück, Supergene in die Wiege gelegt zu bekommen. Und obendrauf kriegen sie auch noch die nettesten Männer ab.
Dagegen sah der werdende Vater aus, wie durch den Wolf gedreht und wieder zusammengesetzt. Seine ständige Sorge um ihr Wohlergehen hatte etwas Asthmatisches.
„Pass auf, dass du nicht ausgleitest! Hast du die Flipflops eingepackt?“
Seine liebevolle Aufmerksamkeit stach Amber wie ein Messer in die Brust. Damals hatte sie niemand begleitet. Keiner hatte sie verhätschelt während der Schwangerschaft, und es war die Pflegerin gewesen, die ihr bei der Geburt Mut zusprach und ihr die Hand hielt.
„Süß, wie sich Herr Maler um seine Frau kümmert. Nicht? Wenn das nicht echte Liebe ist! Bei so viel Glück wird einem richtig warm ums Herz. Finden Sie nicht auch?“, seufzte Mia alias Miss Marple neben ihr. Ihr Doppelkinn wackelte mit ihrem Busen um die Wette, während sie an ihrem Bikini herumzupfte. Er musste ihr einmal gepasst haben, als sie dreißig von den hundertsechzig Pfund leichter war.
Amber sank etwas tiefer in ihren Stuhl und zog es vor, sie zu überhören. Sie hätte sowieso kein Wort herausgebracht, um den Kloss herum, der ihr im Hals steckte.
Warum mussten sie auch alle in ihre Ecke kommen?
Später, am Abend, plagten Amber Zweifel. Hätte es eine andere Lösung gegeben, damals? David war stur geblieben, und ihr war die Schwangerschaft so peinlich, weil sie damit genau die Vorurteile der anderen bestätigte.
Nachdem sie von der Polizei weggegangen war, hatte sie bis zur Geburt gejobbt. Melanie konnte gerade krabbeln, als Amber ein Stipendium aus dem Fond für alleinerziehende Mütter zugesprochen wurde, um Rechtswissenschaften zu studieren. War sie vorher schon gut beschäftigt gewesen, so war nun ihr Leben zum Bersten ausgefüllt mit ‚Räbeliechtli‘ Schnitzen, Semesterarbeiten schreiben, Muki-Turnen und Büffeln für die Zwischenprüfungen. Sie war nie ganz da, immer müde, kam überall zu spät und entschuldigte sich reflexartig für alles Mögliche. Anfangs des achten Semesters wurde Melanie krank und bekam sehr hohes Fieber. Amber wagte es nicht, von ihrer Seite zu weichen. Sie machte ihr Essigsocken und Zwiebelwickel, sang ihr vor, bis es Melanie wieder besser ging. Inzwischen hatte sie wichtige Prüfungen und den Termin für ihre Diplomarbeit verpasst. All das aufzuholen, fehlte ihr die Kraft, außerdem war sie inzwischen pleite. Sie brach das Studium ab und begann bei der Staatsanwaltschaft zu jobben. Nach und nach konnte sie ihre Schulden abzahlen, die Situation beruhigte sich langsam, und als Melanie in die Schule kam, entschloss sich Amber, wieder bei der Polizei einzusteigen, diesmal in die Kriminalabteilung.
Auch heute kollidierte ihre Mutterrolle viel zu oft mit ihren Dienstzeiten. Dann pflügte sie hektisch durch die Aktenberge, um anschließend nach Hause zu eilen, weil Melanie die Grippe plagte oder ein Lehrergespräch fällig war.
Sie waren eine glückliche, kleine Familie, die meiste Zeit wenigstens. Ihre Tochter sehnte sich zwischendurch einmal nach einem Vater, und Amber nach einem Mann. Doch die Partnerwahl gestaltete sich mit Kind leider komplizierter, spontane Feiern konnte sie vergessen. Alles musste geplant werden, und sie bedauerte es hinterher umso mehr, wenn ein Rendezvous langweilig war und kein Funken springen wollte.
Als die Sonne allmählich ins Meer sank und sich der Himmel über dem Horizont, von orange bis schiefergrau verfärbte, lehnte Amber an der Reling. Sie schaute auf die endlose Weite des Wassers hinaus, das so spiegelglatt war, dass man meinte, darüber laufen zu können. Das Firmament mit den funkelnden Sternen war wie eine samtweiche Decke, die sich Mutter Erde vor dem Schlafen gehen übergezogen hatte.
Eine Nacht, wie geschaffen für geflüsterte Liebesschwüre. In ihren Träumen war da immer ein Mann an ihrer Seite. Eigentlich wäre dazu Raul vorgesehen gewesen.
Und David? Der war in festen Händen. In diesem Moment schmiegte sich sicher seine schöne Frau verliebt an ihn und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Worauf er sie glücklich in seine Arme schloss und küsste.
Amber zog fröstelnd die Schultern hoch. Ein Räuspern verriet ihr, dass sie nicht alleine war. Sie drehte sich um und sah im Licht einer glühenden Zigarettenspitze Jessicas Gesicht. Bevor sie etwas sagen konnte, hörte sie Raul rufen.
„Amber Glättli, bist du da unten?“ Er beugte sich suchend über die Reling.
Ernüchtert zog sich Amber tiefer in den Schatten zurück. Er ging weiter und seine Stimme verlor sich im vorderen Teil des Schiffes. Stille kehrte wieder ein und für ein paar Minuten war nur das leichte Schlagen der Wellen an der Bordwand zu hören.
„Der herrliche Sternenhimmel entschädigt einen für manches, das man entbehren muss“, seufzte Amber.
„Das klingt abgefahren. Sind Sie Mutter Teresa? Oder sind sie auf Diät?“, sagte Jessica und sog genüsslich den Rauch der Zigarette ein. „Kein Wunder, bei den Hüften. - War das nicht ihr äh … Freund?“
Amber blieb stumm.
„Verstehe, Sie haben sich verdrückt“, flüsterte Jessica. „Es geht mich zwar nichts an, aber auch mit Ihrer Figur müssen Sie sich nicht alles bieten lassen. Wissen Sie, der ist doch mit seiner Frau da.“
„Stimmt, es geht Sie nichts an“, schnappte Amber.
„Keine Sorge, ich werde Sie nicht verpetzen, wenn Sie dafür die Honeymoon-Suite mit uns tauschen. Deal?“
„Einverstanden. Aber Sie müssen das Rauchen aufgeben. Mit jeder Zigarette füttern Sie ihr Baby mit Arsen und Quecksilber! Wissen Sie das?“
Jessica seufzte. „Ist ja gut. Hören Sie bloß auf mit der ollen Leier. Sind Sie unterzuckert, dass Sie so aggressiv sind?“ Sie warf die Zigarette weg und trollte sich. Amber atmete auf. Mit dem Kabinenwechsel musste sie wenigstens nicht mehr befürchten, von Raul belästigt zu werden.
Sie blieb noch einen Moment, legte den Kopf zurück, ließ die warme Luft über ihre Wangen streichen und sah eine Sternschnuppe durch die Nacht fliegen. Schnell kniff sie die Augen zu und schickte ihren Wunsch ins All.
Eine Nacht wie diese wäre ideal, um sich küssen zu lassen. Da spürte sie den Hauch einer Berührung auf ihren Lippen. Überrascht schlug sie die Augen auf.
Doch sie war allein.