Читать книгу Leben auf brüchigem Eis - Eveline Luutz - Страница 7
2
ОглавлениеTante Annelies erwartete uns bereits unruhig. Ihr phänomenales Gedächtnis hatte trotz allen Kummers und trotz aller Aufregungen sicher gespeichert, dass wir über Ostern bei Frau Krawuttke Quartier bestellt hatten. Die Begrüßung durch die Tante fiel herzlich wie immer aus. Mich umarmte sie warm und anheimelnd; ein vertrautes Gefühl von Sicherheit und Gewogenheit stellte sich augenblicklich ein.
Tante Annelies hatte aus unserem Fehlen auf Friedhelms Beerdigung eigene Schlüsse gezogen, sie wähnte uns ahnungslos, was Onkel Friedhelms Tod betraf. Mama schilderte der Tante mit knappen Worten die Geschehnisse des Nachmittags und machte aus ihrem Unmut keinen Hehl.
„Ick hev mi dacht, dat du nich Bescheid weeßt“, resümierte die Tante ihren Eindruck vom Zusammensein der Verwandten auf dem Leichenschmaus. „Ich hevt nich wusst, ob du von England weder dor bist. Dine Moder und Grisi wollten di Nachricht geben, dat het Grisi Sabine versproken. To mi het Grisi secht, dat du noch in England bist. God, hev ich dacht, denn kummt se in de Nacht. Du wärst nich wech bleben, wenn du schon weder da wärst, du hest tu sihr an Friedhelm hangen. Na und to Hanna secht se, dat se di nicht kunnt erreichen. Ick weeß nich, ob se nich me wusst het, wat se to mi hes secht or ob se im Kopp tüdelig west ist von de ganze Schwindelei.“
Immer, wenn die Tante sehr bewegt war, verfiel sie automatisch ins Plattdeutsche, gerade so, als schlüpfe sie in einen Schutzmantel. Im Platt schien sie sich dann sicherer zu fühlen.
An diesem Abend sprachen Mama und die Tante nur Platt miteinander. Auf diese Art und Weise schien es der Tante einfacher, all das auszusprechen, was sie im Innersten bewegte. Ich saß dabei und beschränkte mich, sprachlos vor Kummer, auf das Zuhören.
Zuerst schilderte uns die Tante Onkel Friedhelms letzte Tage, die von unsäglichen Schmerzen geprägt waren, so dass sein Tod für ihn eine Erlösung bedeutet haben muss. Diese Deutung stellte für die Tante einen Trost dar, den sie benötigte, um nicht selbst ins Bodenlose zu fallen. Tante Annelies hatte ihren Mann viele Monate lang gepflegt, ohne sich selbst zu schonen. Über die Mühsal klagte sie nicht. Bei unserem letzten Besuch, kurz nach dem Jahreswechsel, hatte sie Mama versichert, dass sie die Pflege gerne leiste, weil sie Friedhelm viel mehr als sie je geben könne, schulde. Ich hatte den Sinn dieser Worte, ehrlich gesagt, nicht begriffen, mich jedoch gescheut, Mama um eine Erklärung zu bitten.
Nach Monaten, in denen der Tante kaum eine Minute des Tages für sich selbst verblieb, in denen sie gehetzt von Pflichten, den Tag zu verlängern wünschte, musste ihr die Unmenge an Zeit, die ihr nunmehr gehörte, schwer anhängen. Trotzdem war nach der Beerdigung keine der beiden Töchter bei der Mutter geblieben. Das verwunderte mich.
„Ick hev de heimschickt, to ihre Familien. Ick hev doch wußt, dat ju kummt“, lautete ihre einfache und pragmatische Erklärung.
Später begriff ich, dass die Tante Hanna und Sabine nicht allein deshalb nach Hause geschickt hatte, weil sie über Wochen tagtäglich gekommen waren, um die Mutter in der Pflege ihres todkranken Vaters zu unterstützen. Sie muss sich schon länger mit dem Gedanken getragen haben, irgendwem ihre und Friedhelms Geschichte zu erzählen. Ihre Wahl war auf die Nichte gefallen.
Warum sie Mama für diese Beichte auswählte, darüber kann ich nur spekulieren. Zum einen glaube ich, sah sie in ihr zeitlebens nicht nur Arabella, ihre Nichte, sondern auch das geliebte Kind ihres Bruders. Alle, die meinen Großvater kannten, beteuerten zuweilen, Arabella sei ihm sehr ähnlich. Nicht nur der hohe Wuchs war ihnen gemeinsam, sondern auch die Lebensanschauungen von Vater und Tochter waren wesensverwandt. Sowohl zu ihrem Bruder wie auch zu dessen jüngster Tochter besaß Annelies ein enges und inniges Verhältnis. Zum anderen befürchtete die Tante vielleicht, ihre Töchter könnten, wenn sie alles wüssten, was die Mutter so lange in sich verschlossen hatte, mit Verachtung auf die eigene Mutter schauen: Sie standen der Tante zu nahe. Um all die Dinge ungeniert aussprechen zu können, die der Tante auf der Seele brannten, bedurfte es eines gewissen Abstands. Außerdem wusste die Tante ihre Worte bei Mama wohl verwahrt. Arabella würde das Gehörte nicht breit treten, sie verstand, ein Geheimnis zu hüten. Wenn es dazu noch so etwas wie einen letzten Grund gab, Arabella zu wählen, dann den, dass ihr, genau wie Max, nichts Menschliches fremd war. Sie verurteilte niemanden vorschnell, sondern bezeigte Verständnis und Nachsicht gegenüber allen menschlichen Schwächen. Arabella, dessen muss sich Tante Annelies gewiss gewesen sein, würde sie auch nach ihrer Beichte gern haben, sie würde ihr, einer alten Frau, ihre Zuneigung nicht entziehen.
Zunächst aßen wir Abendbrot, ein Abendbrot, das nicht recht schmecken wollte angesichts von Friedhelms verwaisten Platz am Küchentisch. Nach dem Essen öffnete Mama eine Flasche schweren roten Weins und wir tranken den ersten Schluck im Gedenken an den Onkel. Mama nippte nur an ihrem Glas, dann begann sie unvermittelt davon zu sprechen, was Friedhelm ihr bedeutet hatte.
Bereits als kleines Kind litt meine Mutter darunter, dass ihre Mutter, meine Großmutter, sie unmissverständlich ablehnte. So sehr sie sich mühte, den Wünschen ihrer Mutter zu genügen, nichts konnte sie ihr recht machen; Großmutter blieb dem Kind Arabella gegenüber kühl reserviert, während sie Grisi – sofern sie das überhaupt vermochte – verhätschelte. Opa Max, Mamas Vater, mühte sich, die Abweisung seiner Frau zu kompensieren. Er versuchte, seinen Lebenshunger auf seine Töchter zu übertragen, er verschenkte seine überquellende Freude und Zärtlichkeit an beide. Arabella nahm diese Gabe voller Zutrauen an, während Grisi ihrem Vater stets nur halbherzig zugetan war. Mit einem Auge schielte sie immer zur Mutter hin, allzeit darauf bedacht, sich zuerst deren Billigung zu sichern. Verzog Großmutter das Gesicht angewidert, wenn Max wieder einmal übermütig mit seinen Töchtern tollte, dann entwand sich Grisi Großvaters Armen und heftete sich augenblicklich an Großmutters Rock. Arabella indes fand bei ihrem Vater die Zuwendung, nach der sie gierte und genoss sie in vollen Zügen. Das Buhlen um die Gunst ihrer Mutter, um ein paar Streicheleinheiten, hatte sie irgendwann aufgegeben. Sie entwickelte ein gesundes Selbstbewusstsein, das aus der vorbehaltlosen Liebe ihres Vaters gespeist wurde. Solange ihr Vater lebte, besaß meine Mutter in ihm einen starken und verlässlichen Rückhalt in der Familie, aus dem sie Kraft und Sicherheit bezog. Opa Max liebte Arabella so wie sie war: wild, risikofreudig, zutraulich, lebensfroh und voller Energie. Arabella, das war sein Kind. In ihr fand er das gleiche Naturell wieder, das auch ihm eigen war. Er und die Kleine besaßen verwandte Seelen. Das sichere Hinterland meiner Mutter brach weg, als Opa Max ganz plötzlich an einem Schlaganfall starb. Die Anzeichen für seine Krankheit hatte er über Jahre hinweg beharrlich ignoriert. Er konnte nicht anders denn aus dem Vollen leben. Ein halbes Leben gab es für ihn nicht.
„Leben ist immer lebensgefährlich!“, so lautete einer seiner Lieblingssprüche.
Auf etwas zu verzichten, was das Leben in seinen Augen lebenswert machte, bloß um ein wenig Zeit herauszuschinden, das wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Das Leben war allzeit jedes Risiko wert.
Er starb mit einundsechzig Jahren. Mit seinem Tod brach für meine Mutter der Halt in der Familie weg, sie stand von einem Tag auf den anderen allein da. Nicht ein Mal kam Großmutter nach Max’ Tod nach Krambzow, gerade so, als sei mit ihrem Mann auch endlich die ungeliebte Tochter gestorben. Meine Großmutter hatte das Leben dieser Tochter nie gutgeheißen, im Beruflichen ebenso wenig wie im Privaten. Vielleicht hätte sich meine Großmutter eines Tages mit ihrer jüngeren Tochter arrangiert, hätte Arabella sich Großmutters gebietendem Wunsch gefügt, Medizin zu studieren und Gertruds Nachfolge als Ärztin in Geestade anzutreten. Jedoch was kümmerten Arabella die Wünsche ihrer Mutter. Es war ihr Leben und sie dachte nicht daran, sich dieses aus der Hand nehmen zu lassen.
Vor allem die Liebe zwischen meiner Mutter und meinem Vater, Fernando Gomez, billigte Großmutter niemals. Nur ein einziges Mal brachte Mama ihn mit nach Hause. Damals lebte ihr Vater noch. Opa Max war dem Paar wohl gesonnen, aber Großmutter artikulierte ihre kalte Abweisung offen. So blieb es bei diesem einen Besuch, obwohl meine Mutter und mein Vater elf Jahre lang miteinander lebten – allerdings ohne Trauschein. Mein Vater war bereits verheiratet und er hatte eine Tochter, als er ins Land kam. Er war vor der Pinochet-Diktaturaus Chile geflohen. Frau und Tochter musste er im Ungewissen über ihr Schicksal zurücklassen. Großmutter indes interessierte sich nicht für die außergewöhnlichen Lebensumstände von Fernando Gomez. Sie lehnte ihn ab und wünschte gar nicht erst, ihn näher kennen zu lernen. Opa Max indes mochte Fernando, obwohl er wusste, dass dieser Mann seiner Tochter irgendwann einen bitteren Schmerz zufügen würde. Fernando Gomez machte nämlich zu keinem Zeitpunkt einen Hehl daraus, dass er, sobald als möglich, nach Chile, in seine Heimat, zurückkehren wolle. Das wusste auch Arabella. Trotzdem war es ausgerechnet dieser Mann, an den sie ihr Herz gehängt hatte. Irgendwann – dieser Zeitpunkt war weit weg – würde Fernando fortgehen. Was kümmerte sie jetzt schon das Irgendwann?
Irgendwann, der hartnäckig verdrängte Zeitpunkt, trat ein, kurz nachdem Opa Max gestorben war. Fernando beschwor Arabella eindringlich, mit ihm zu gehen. Er würde die Scheidung einreichen und mit ihr, der Frau, deren Leben er seit elf Jahren teilte, alt werden wollen, ihre gemeinsame Tochter aufwachsen sehen. In den elf Jahren, die er fernab seiner Heimat gelebt hatte, war Carmen, seine Ehefrau, für ihn eine Fremde geworden und er ihr ein Fremder. Arabella lehnte den Vorschlag ab, nicht aus Mitleid mit der unbekannten Frau Gomez, nicht, weil sie Fernandos Versprechen misstraute, sondern weil sie wusste, dass das Heimweh ihre Liebe aufzehren würde. Ein gutes halbes Jahr vor Fernandos Rückreise gebar Arabella eine Tochter, Eva. Mich!
Das Haus in Krambzow war saniert, Mama besaß eine gute Arbeit und mich, ihre Tochter. Aber sie stand ganz allein da.
Nach Max’ Tod hatten sich Annelies und Friedhelm verpflichtet gefühlt, seiner jüngsten Tochter beizustehen, ihr die Unterstützung zu gewähren, welche die eigene Mutter Arabella beharrlich versagte. Onkel Friedhelm war ohne große Worte als eine Art Ersatzvater für Mama eingesprungen. Für mich verkörperte er, solange ich denken kann, eine Mischung aus einem guten Onkel und einem liebevollen Opa.
„Ohne meinen lieben Friedi“, so resümierte Mama traurig, „ich weiß nicht, ob ich das ausgehalten hätte. Er war für mich wie ein zweiter Vater. Das weiß Grisi genau. Ich habe es ihr oft genug gesagt. Es ist einfach eine Unverschämtheit von ihr, mir nicht mal Friedhelms Tod mitzuteilen, zumal sie es Sabine versprochen hatte.“
Tante Annelies zog Mamas Kopf zu sich heran und knuddelte sie liebevoll.
„Lass gut sein, du hast dir nichts vorzuwerfen. Du hast Friedi, solange er lebte, Gutes getan und Gutes gewollt. Du bist so anders als deine Schwester. Immer erinnerst du mich an meinen Bruder, so voller Kraft und so fröhlich. Bei dir merkt man, dass du mit deinem Leben zufrieden bist. Du kannst von deinem Glück abgeben, bist nicht ewig wehleidig und neidisch auf alles und jeden. Aus Neid kann nichts Gutes wachsen; so macht man sich keine Freunde. Manchmal beklagt sich Grisi bei mir, sie könne nicht verstehen, wieso alle Welt dich mag. Sie tut mir leid … Gott, wer möchte schon mit endlosen Klagen überschüttet werden? So richtig aus vollem Herzen einem anderen ein gutes Wort schenken, das habe ich bei deiner Schwester nicht erlebt. Sie hat gar nichts von meinem Bruder geerbt, manchmal ulke ich: Sie ist ein Kuckuckskind.“
„Aber sie kann doch ihr verkorkstes Leben nicht mir anlasten“, warf Mama verzweifelt ein.
„Das ist wohl wahr. Man muss das Glück würdigen, das einem zuteilwird und nicht argwöhnisch auf das der anderen blicken, immer messen und wägen. Ich habe in meinem Leben ein unbeschreibliches Glück erfahren …“
Mit diesen Worten, beinahe flüsternd, als sei ihr das selbst heute noch peinlich, vertraute die Tante meiner Mutter an diesem Abend etwas an, das mich in erstauntes Schweigen versetzte. Sie erzählte, wie sie Friedhelm kurz nach dem Krieg kennengelernt hatte.
Solange ich denken kann, bezeichnete die Tante Friedhelm als den größten Glücksfall ihres Lebens. Jeder Mensch brauche wenigstens ein Mal im Leben Glück und ihres trage einen Namen: Friedhelm. Diese Sätze, sie prägten sich mir tief ein. Ich entsinne mich, dass ich, noch klein, ich ging in die zweite oder dritte Klasse, meine Mutter einmal fragte, was dieser Satz bedeute. Mama erklärte mir, dass die Tante in Onkel Friedhelm den Mann getroffen habe, den sie mehr als alles andere auf der ganzen Welt liebe.
„Mehr als Hanna und Sabine“, vergewisserte ich mich, um Verstehen bemüht.
„Ja, mehr als ihre Kinder“, beteuerte mir meine Mutter.
Später kamen wir in unseren Gesprächen so manches Mal darauf zurück, prüften und wendeten die Worte hin und her. Ich hatte die Aussage der Tante immer besser verstanden, nicht weil die Erklärungen präziser geworden waren, sondern, weil ich in den langen Jahren, die wir einander kannten, mit allen Sinne erlebt hatte, wie liebevoll Onkel und Tante miteinander umgingen. Aus meinen Beobachtungen schloss ich, dass ihre Augen, ihre Gesten und ihre Körper immerfort von ihrem glücklichen Miteinander kündeten. Ich weiß nicht, ob ein solches Glück einer Erklärung bedarf. Irgendwann hatte ich aufgehört, rationale Gründe dafür zu suchen. Wenn es überhaupt so etwas wie eine schlüssige rationale Erklärung für Tante Annelies’ Behauptung gab, dann bekam ich sie an jenem Abend, da uns die Trauer um Onkel Friedhelm einte, geliefert.
Als der Krieg aus war, war Annelies neunzehn Jahre alt und eine überaus hübsche junge Frau. Sie lebte mit ihren Eltern, nahe Kogenhagen, in einem Haus am Waldrand. Ihr Vater, Hans Ludewig, war Förster und das Forsthaus sein Zuhause. Das Haus stand abseits der Siedlung, regelrecht abgelegen. Jeden Morgen und jeden Abend bedurfte es eines langen Fußmarsches, ehe Annelies das Gut erreichte, auf dessen Feldern sie arbeitete. Geld bekam sie keines, aber satt zu essen und eben Naturalien, Mehl, ein paar Eier, Getreide, Dinge, die damals nicht mit Gold aufzuwiegen waren.
Eines Nachts drangen die Russen in das abgelegene Haus ein. Sie suchten nach desertierten Wehrmachtssoldaten, die es freilich im Haus nicht gab, dafür aber zwei Frauen, welche sogleich ihre Aufmerksamkeit erregten. Der noch junge Offizier griff sogleich nach Annelies. Ihre Mutter schrie gellend, man solle ihre Tochter in Ruhe lassen und sie stattdessen nehmen. Man nahm sie beide. Annelies wurde in dieser Nacht von drei Männern vergewaltigt. Danach wünschte sie sich, voller Scham und Verzweiflung, nur noch zu sterben. Jedoch sie überlebte, fortan von panischer Angst vor jedem männlichen Wesen beherrscht. Sobald ein Mann dichter als einen Meter an sie heran trat, fing ihr Herz zu rasen an, traten ihr dicke Schweißperlen auf die Stirn und vermochte sie an nichts anderes als an Flucht zu denken. Selbst eine zufällige Berührung bei der Arbeit konnte sie nicht mehr verkraften. Ihr Leben schien nach jener Nacht für alle Zeit zerstört. Alles, was Annelies bislang als in höchstem Maße begehrenswert erschienen war: heiraten, Kinder bekommen, all das wirkte nunmehr abstoßend, schmutzig und roh. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie sich jemals wieder freiwillig von einem Mann berühren lassen würde. Sie wollte nur eines: in Ruhe gelassen werden.
Endlich herrschte Frieden, ein Zustand, der ihr noch vor ein paar Monaten als höchster aller Wünsche galt. Ihr Bruder würde hoffentlich gesund aus dem Krieg heimkehren, die Furcht, er könnte, kurz bevor alles vorüber war, noch sterben, würde abfallen. Endlich war Frieden, aber für sie besaß er keinen Wert mehr. Sie mied ihre Freundinnen und das Dorf. Am liebsten hätte sie sich in ein Erdloch verkrochen, um zu sterben.
Das Forsthaus, in welchem Annelies groß geworden war, das sie so sehr liebte, auf einmal war es ihr unerträglich. Ebenso die Blicke der Leute, in denen sie – trotz ihres Schweigens – Wissen und Vorwurf zu lesen meinte. Sie wollte weg aus Kogenhagen, weg von den Erinnerungen an jene Schreckensnacht.
Arbeit fand sie in der Stadt, in der Fischfabrik und einen Platz im Wohnheim, in einem spartanischen Zimmer, das sie sich mit drei anderen Frauen ihres Alters teilte. Während ihre Mitbewohnerinnen die Enge und die fehlende Intimität des Zimmers immerfort beklagten, fühlte sich Annelies darin allzeit sicher und wohl. Die Arbeit gefiel ihr. Die girrende Lebenslust ihrer Mitbewohnerinnen schwappte ein wenig auch auf sie über.
Ganz allmählich schwächte sich die Angst vor Männern ab und irgendwann fand sie sich bereit, mit den Gefährtinnen aus dem Zimmer zum Schwof zu gehen. Sobald sich jedoch ein Mann näherte, um Annelies zum Tanz aufzufordern, begann ihr Herz ängstlich zu klopfen. Es kostete sie Überwindung, mit einem Mann zu tanzen, sich von einem Fremden anfassen zu lassen. Doch im selben Maße, wie neuer Lebensmut in Annelies reifte, versiegte die Angst mehr und mehr. Schließlich hatte sie – genau wie die Freundinnen – so etwas wie einen Verehrer, der sie regelmäßig zum Tanz aufforderte und der sie nach dem Tanz zum Wohnheim geleitete. Nach zaghaften Annäherungen tauschte Annelies schließlich irgendwann auf dem Heimweg ein paar Küsse mit ihm. Bis hierhin fand sie alles in Ordnung. Dem Freund freilich war das nach geraumer Zeit nicht mehr genug. In einer lauen Sommernacht begehrte er mehr. Er hielt Annelies’ flehentliche Bitte, von ihr abzulassen, zunächst für einen Jux, der seine Lust zusätzlich anstachelte. Es spornte seinen Ehrgeiz an, den Widerstand zu brechen, der ihm, in dieser Heftigkeit unerwartet, entgegenschlug. Ungeachtet ihrer Panik und der nackten Furcht in ihren Augen, ungeachtet der flehentlichen Blicke, schob er seine Hand unter Annelies’ Kleidung. Mit der anderen Hand öffnete er seine Hose. In ihrer nackten Angst kam Annelies gar nicht auf den Gedanken, lauthals um Hilfe zu schreien. Sie erstarrte förmlich und wurde in dieser schönen Sommernacht erneut vergewaltigt. Erst als alles vorüber war, als der Mann seine Hose zuknöpfte und zu sprechen anhob, löste sich der Krampf und Annelies begann laut gellend und verzweifelt zu schreien. Der Mann bat sie, ruhig zu sein. „Es ist doch gut“, versuchte er Annelies zu beschwichtigen.
Aber Annelies befand sich in einem schweren Schockzustand, sie schrie durchdringend. Als sie trotz seines Bittens die Stimme noch lauter erhob, schlug er sie mit der flachen Hand k. o. und verschwand eilig in der Dunkelheit des Parks.
Sie muss ohnmächtig gewesen sein, denn als sie zu sich kam, beugte sich ein unbekannter Mann über sie, der ihrer Angst sogleich neue Nahrung bot. Sie brüllte wie ein Tier, bis der Krankenwagen kam und sie noch immer schreiend ins Spital brachte.
Am nächsten Tag besuchte sie zuerst ein Polizist, um sie nach dem Vorfall in der Nacht zu befragen, dann ein schüchterner junger Mann, der ihr ein paar Feldblumen brachte und sich dafür entschuldigte, ihr Angst eingeflößt zu haben. Er und ein Freund hatten auf dem Heimweg ihre Schreie gehört. Sie wollten helfen. Eilig hasteten sie durch den Park, in die Richtung, aus welcher der Hilferuf erschallte. Sie sahen einen Mann in die Dunkelheit entliehen. Annelies fanden sie Minuten später in einem Gebüsch, leblos. Zunächst glaubten sie die Frau tot, dann aber regte sie sich und der Freund eilte, einen Krankenwagen zu rufen, während der junge Mann bei ihr blieb und versuchte, beruhigend auf sie einzusprechen.
„Es tut mir leid, dass wir zu spät kamen, um das zu verhindern. Das sind jetzt schlimme Zeiten, beinahe wie im Krieg. Es tut mir so leid, Annelies“, versicherte der fremde Helfer.
Er kannte ihren Namen. Er kannte sie. Er wusste von ihrer neuerlichen Schande. Wer war der Unbekannte? Sie vermochte ihn nirgends zuzuordnen. Ängstlich erfragte sie seinen Namen.
Der Fremde hieß Friedhelm Mertens. Sein Vater war Waldarbeiter im Kogenhagener Forst gewesen. Annelies hatte Friedhelm niemals zuvor gesehen, auch an seinen Vater besaß sie nur vage Erinnerungen. Aber sie kannte die tragische Familiengeschichte der Mertens’. Drei ihrer vier Söhne waren im Krieg gefallen. Als auch der jüngste, Friedhelm, kurz vor Kriegsende die Einberufung zum Militär bekam, packte die Mutter der Wahnsinn. Der Vater ertränkte fortan seine Sorge um den einzigen verbliebenen Sohn im Schnaps. Annelies’ Vater, der Revierförster, verstand seinen Waldarbeiter nur zu gut. Er ermahnte ihn wieder und wieder, nicht betrunken zur Arbeit zu kommen, aber er „roch“ jeden Tag erneut über Karl Mertens’ Fahne hinweg.
Eines Nachts, kurz vor Ende des Krieges, als unzählige Militärautos auf dem Rückzug über die Landstraßen rasten, wurde Karl Mertens überfahren. Er hatte sich irgendwo betrunken und, die volle Straßenbreite ausschreitend, den Heimweg gesucht, als das Auto ihn frontal rammte. Er war sofort tot.
Als der jüngste Sohn wohlbehalten aus der Gefangenschaft heimkehrte, fand er von seiner Familie niemanden mehr. Dieses Schicksal hatte Mitgefühl erregt, es hatte in und um Kogenhagen lange für Gesprächsstoff gesorgt und war auch Annelies bekannt. Was sie nunmehr am meisten erstaunte und zugleich beunruhigte war die Tatsache, dass der junge Mann Schuld an ihrer Misere empfand, er, der wahrlich schuldlos an ihrem Leid war. Er besuchte sie in den Folgetagen öfter. Mitfühlend erkundigte er sich, ob er ihren Eltern Bescheid geben solle.
„Bloß nicht“, wehrte sie ungewöhnlich heftig ab.
Ihr Vater lebte seit jener Nacht, da er der Vergewaltigung von Frau und Tochter machtlos zusehen musste, das Leben eines gebrochenen Mannes, dem der Tod eine Erlösung verhieß. Ihre Mutter war seither verstummt. Sie sprach kein Wort mehr. Sollte Annelies den Schmerz der beiden Leidgeprüften mehren?
Doch wohin sollte sie gehen, wenn man sie entließ? Zurück ins Wohnheim zu den Kolleginnen, ihren Fragen, ihrem Mitleid, ihrem Spott und ihrer Neugier, wagte sie sich nicht. Die Schande hing ihr wie ein Mühlstein um den Hals. Sie wusste plötzlich nicht weiter und begann verzweifelt zu weinen. Der junge Mann stand hilflos vor dem Metallbett. Sollte er einen Arzt herbeirufen? Seine Hilflosigkeit rührte Annelies und bewog sie, ihre Sorgen offen vor ihm auszubreiten. Er versprach, sich rasch um eine Lösung zu kümmern.
Bei seinem nächsten Besuch wusste er die Lösung. Er schlug Annelies vor, zu seiner Großmutter nach Zingst zu ziehen. Die alte Frau lebte allein in einem alten Fischerkaten, ihr würde ein wenig Gesellschaft gut tun.
So geschah es. Annelies bekam die Dachkammer, die Fürsorge einer gütigen alten Frau, täglich eine warme Mahlzeit und an den Wochenenden Besuch von Friedhelm, der sich als Tischlergeselle in Barth verdingte und über der Werkstatt von Meister Schulten eine schmale, nicht heizbare, Kammer bewohnte.
Die anfängliche Furcht vor dem Mann, Friedhelm, wurde ganz allmählich von anderen Gefühlen verdrängt. Annelies ertappte sich dabei, dass sie an den Wochenenden sehnsüchtig auf Friedhelm wartete. Durch das Küchenfenster hielt sie beim Gemüseputzen verstohlen nach ihm Ausschau. Sobald sie ihn erspähte, begann ihr Herz vor Freude zu springen, röteten sich ihre Wangen. Nach dem Mittagessen, wenn Oma Malwine ihr Schläfchen hielt, wanderte das junge Paar, das kein richtiges Paar war, bei jedem Wetter und zu jeder Jahreszeit am Strand entlang. Anfangs mieden sie jede Berührung, jedoch eines Tages ergriff Friedhelm Annelies’ Hand und hielt sie im wortwörtlichen wie im übertragenen Sinne einfach fest.
Vermutlich wäre über Monate hinweg nichts weiter passiert, wäre nicht mit Macht der Winter über Land und Leute hereingebrochen.
Annelies arbeitete inzwischen in der Buchhaltung der Konservenfabrik. Eines Abends, als sie das Büro verließ, waren alle Wege aus der Stadt heraus unpassierbar geworden. In ihrem Büro hatte Annelies nicht bemerkt, dass den ganzen Tag über lautlos weiße Flocken zur Erde geschwebt waren, anfangs vereinzelt, als hätten sie sich verirrt, dann in dichter Folge. Der Berufsverkehr musste wegen unpassierbarer Wege eingestellt werden. Die Straßen und Plätze befanden sich allesamt fest in der Hand des Winters. Lange sann Annelies nach einer Möglichkeit, nach Hause, zu Oma Malwine, zu gelangen. Schließlich stapfte sie zu Fuß los, meinte sie doch die Wegstrecke in ein paar Stunden bewältigen zu können. Sie erkannte ihren Irrtum bevor sie überhaupt den Stadtrand erreichte. Im Laufe dieses einen Tages war so viel Schnee gefallen, dass sie bis zu den Knien darin versank. Der Wind hatte zudem den feinen Schnee überall zu Schanzen aufgetürmt. Nach wenigen hundert Metern fühlte sich Annelies total entkräftet. Der Schnee war in ihr Schuhwerk eingedrungen, die Strümpfe durchnässt. Sie musste sich eingestehen, dass sie das Vorhaben, bis nach Zingst zu laufen, aufgeben musste. Als sie überlegte, wo sie unterkommen, die Nacht verbringen könnte, fielen ihr nur die Fabrik und die Tischlerei, in der Friedhelm arbeitete, ein.
Mühsam kämpfte sie sich durch den Schnee zur Tischlerei durch und wurde dort selbstverständlich aufgenommen. Am Küchenofen wärmte sie sich auf, trocknete sie die nassen Schuhe und Strümpfe. Zusammen mit den Meistersleuten tranken sie Pfefferminztee und klönten sie bis es Zeit wurde, sich schlafen zu legen.
In Friedhelms Kammer war es trocken, warm indes war es nicht. Die kleinen Fensterscheiben waren über und über von Eisblumen bewachsen. Es gab keinen Ofen. Wollten sie warm werden, dann mussten Friedhelm und Annelies unter das dicke Federbett schlüpfen, das Oma Malwine fürsorglich für den Enkel gestopft hatte, beide unter das eine. Sofort signalisierten Annelies’ Sinne Gefahr. Sie zitterte vor Furcht. Zugleich fühlte sie sich warm und behaglich unter dem voluminösen Deckbett.
„Hab keine Angst, ich tue dir nichts“, versicherte ihr Friedhelm.
Er hatte sie noch nie belogen. Dennoch lag sie angespannt auf der Lauer. Sie schlief nicht, sondern lauschte in die Dunkelheit, jederzeit bereit, die Flucht zu ergreifen, während Friedhelm friedlich neben ihr schnarchte.
Am Morgen machte sich Annelies pflichtbewusst auf den Weg zur Arbeit. Es gab keinen Strom und man schickte die wenigen Arbeiterinnen, die es überhaupt geschafft hatten, sich einen Weg durch die Schneemassen zu bahnen, mittags unverrichteter Dinge nach Hause. Annelies suchte wiederum Zuflucht in der Tischlerei. Bis zum Einbruch der Dunkelheit half sie in der Werkstatt Leisten zu verleimen, dann saß sie mit Friedhelm, dem Meister und seiner Frau bei Kerzenlicht um den Küchenofen.
Als alle sich zum Schlafen begaben, blieb wieder nur das eine Bett. Übermüdet schlief Annelies diesmal rasch ein. Am nächsten Morgen hatte sich an der Situation nichts geändert. In der Nacht war erneut Schnee gefallen und hatte die Wege noch unpassierbarer gemacht. Das Aufstehen lohnte nicht. Friedhelm holte aus seinem Vorratsschrank einen Kanten Brot und etwas Käse. Erstmals in ihrem Leben frühstückte Annelies im Bett. Sie fühlte sich danach so zufrieden, dass sie sich ohne viele Worte in Friedhelms Arm schmiegte. Eine Zeit lang lagen sie still und unbeweglich, dann begann Friedhelm sanft ihre nackte Schulter zu streicheln. Bald streifte er den Träger des Hemdes herunter und berührte mit seiner Hand ihre schwere Brust. Augenblicklich versteifte sich Annelies.
„Hab keine Angst“, redete Friedhelm ihr zu, „hat dir die Berührung weh getan?“
„Nein, das nicht.“
„Ich tue dir nicht weh. Komm, dreh mir dein Gesicht zu, oder hast du kein Vertrauen zu mir?“
Trotz aller Skepsis siegte das Vertrauen. Sie drehte sich zu ihm um und überließ Friedhelm ihre Brust. Er streichelte sie, wog sie in seinen Händen, küsste sie schließlich, leckte und sog daran. Seine Zärtlichkeit behagte ihr so sehr, dass sie genießerisch die Augen schloss. Es störte sie nicht, dass der Mann, der an ihrer Brust knabberte, sich zur gleichen Zeit mit der Hand selbst befriedigte. Ekel hätte sie lediglich verspürt, hätte er versucht, ihr die Beine zu spreizen und in sie einzudringen.
So fand sie es gut. Sie empfand diese Art des Zusammenseins als richtig und normal. Selbst als der Winter sich längst verabschiedete, schlief sie oft auf diese Weise neben Friedhelm. Von irgendwoher hatte er sich ein klappriges Fahrrad beschafft, mit welchem er nun beinahe täglich zu ihr nach Zingst radelte. Ohne einen Anflug von Furcht überließ sie ihm ihre Brüste. Selbst wenn seine Hand über ihren Bauch glitt, blieb sie ruhig und gelassen.
Der alte Fischerkaten stellte inzwischen ihrer beider Heim dar. Die alte Oma Malwine war noch im Winter gestorben. Jedermann in Zingst hielt Annelies und Friedhelm für Mann und Frau. Keiner ahnte, dass die Beziehung dieser beiden Menschen voller Komplikationen steckte. Annelies kaufte nach der Arbeit ein, sie kochte für sie beide und wusch die Wäsche, Friedhelm setzte Haus und Grundstück instand. In den Nächten lagen Annelies und Friedhelm eng aneinandergeschmiegt in einem Bett. Sie berührten und liebkosten sich. Aber im Bett trug Annelies stets einen Baumwollschlüpfer, dem Friedhelm den Beinamen „Liebestöter“ verlieh. Er markierte so etwas wie eine Grenze, welche Friedhelm lange nicht zu überschreiten wagte. Erst im Sommer, es herrschte eine schier unerträgliche Hitze und sie hatten abends noch im Meer ein Bad genommen, fiel diese Schranke.
In den nassen Badesachen waren sie beide über den Deich ins Haus gehastet. Hier entledigte sich Annelies des nassen Badeanzuges. Einen winzigen Moment stand sie ganz nackt da, gleich würde sie den Schlüpfer überstreifen, die Grenze wieder errichten. Jener kurze Moment völliger Nacktheit genügte Friedhelm. Er ergriff ihre Schultern, drehte ihr Gesicht zu sich und bat sie, sich in ganzer Schönheit anschauen zu lassen. Annelies sträubte und schämte sich, doch Friedhelm streifte behänd seine Badehose ab. Er breitete die Arme seitlich aus und forderte sie gutgelaunt auf, ihn anzuschauen. Sie musterte ihn aus einer Mischung von Neugier und Scham.
„Findest du mich hässlich, Liese?“, provozierte Friedhelm sie gutgelaunt.
„Ich finde dich schön.“
„Und ich dich noch viel schöner.“ So prompt wie die Worte fielen, wanderte die Hand über ihren Körper, den Rücken und den Bauch und schließlich zwischen ihre Beine. Automatisch zuckte Annelies zusammen. Die Berührung tat ihr nicht weh und doch bat sie ihn, aufzuhören.
„Nicht, ich bin da so schmutzig.“
„Das bist du nicht. Gerade haben wir gebadet. Du bist absolut sauber. Hab doch keine Angst. Habe ich dir je wehgetan?“
Sie verneinte, duldete die Hand, später den Mund. Es dauerte noch Monate, ehe sie erstmals einen Orgasmus erlebte, das heftige Zucken im Bauch, von wo eine Woge wohliger Wärme ihren ganzen Körper überflutete. Ermattet und überaus glücklich lag sie in den Kissen. Sie glaubte an einen Zufall, der sich allerdings als wiederholbar erwies und einmal nach einem solchen Orgasmus flüsterte sie Friedhelm zu, sie wünsche sich ein Kind von ihm.
Auch das ging nicht so ohne weiteres. Die Zunge zwischen ihren Beinen, das gefiel ihr inzwischen. Sie fand es auch in Ordnung, Friedhelm mit ihrer Hand zu befriedigen. Aber ihre Beine zu öffnen, um den harten Penis in sich aufzunehmen, dazu bedurfte es einiger Anläufe.
„Tja, wie dat Leben speelt, es wundert mi oft. Nie hätt ick glovt, dat ick mal am Sex Freude finden könnt, nach alledem. Friedhelm is de best Mannsbild west, dat ick hev finden kunnt“, schloss sie ihre ungewöhnliche Geschichte.
Nun tropften doch ein paar Tränen auf das Tischtuch, doch selbst die zeugten davon, dass die Tante sich schon seit geraumer Zeit mit dem unabwendbaren Ende von Friedhelms schwerer Krankheit abgefunden hatte. Sie haderte nicht mehr mit dem Schicksal. Anfangs, als die Diagnose noch frisch war, da war sie optimistisch und voller Hoffnung gewesen, dass Friedhelm genesen werde. Bei unseren letzten Besuchen, war diese Hoffnung gänzlich versiegt gewesen. Man musste sich dem Onkel gegenüber nicht verstellen, musste nicht so tun, als fehle ihm im Grunde genommen nichts. Man konnte teilnahmsvoll mit ihm über den Verlauf der Krankheit, über Höhen und Tiefen reden.
„Ich lebe ohnehin schon in der Zugabe“, scherzte der Onkel oft, darauf anspielend, dass er vor vielen Jahren so schwer erkrankte, dass sein Leben auf der Kippe stand. Über viele Wochen hinweg lag er damals im Koma. Seine Genesung stellte ein Wunder dar, an das kaum noch jemand geglaubt hatte. Die Jahre, die seither vergangen waren, betrachteten Tante und Onkel als geschenkte Zeit.
Jetzt erst, nachdem ich die Geschichte ihrer ersten Begegnung, des vorsichtigen Abtastens und Findens, kannte, begriff ich, warum die Tante so innig an Friedhelm hing, was sie damit gemeint haben könnte, wenn sie sagte, es gebe Dinge, die man nie im Leben gut machen könne, selbst wenn man unendlich dankbar sei. Das Leben, das Friedhelm ihr geschenkt hatte, gehörte wohl zu diesen Dingen.
Annelies’ Geschichte berührte mich tief. Ich kannte sie allzeit fröhlich und gütig. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass sie soviel Bitteres durchlebt hatte. Schweigend schritt ich neben Mama durch die schlafenden Gassen, hin zu unserer Ferienwohnung. In dieser Nacht konnte ich lange nicht einschlafen, immer wieder drängte sich das Gehörte in mein Bewusstsein. Die Brandung rauschte leise. Ich jedoch fühlte mich ungeheuer aufgewühlt.
„Hast du gewusst, dass Tante Annelies als junges Mädchen vergewaltigt worden ist?“, wandte ich mich an Mama, die sich ebenfalls schlaflos im Bett herumwälzte.
„Ja und nein. Im Detail kannte ich die Geschichte nicht, aber einmal erzählte mir Papa davon. In welchem Zusammenhang, das habe ich vergessen. Als Tante Annelies heute darauf zu sprechen kam, fiel es mir wieder ein … Das ist wirklich eine bemerkenswerte Geschichte, eine, die unter die Haut geht, trotz ihres guten Endes.“
Am Karfreitag frühstückten wir bei Tante Annelies und fuhren dann mit ihr zum Friedhof. Der Fußweg vom Parkplatz bis zu dem frischen Grabhügel fiel der Tante so schwer als habe ihr die Beichte am Vorabend alle Kraft geraubt. Sie klammerte sich ängstlich an Mamas Arm. In den letzten Wochen hatte die Tante stark abgenommen, aber noch immer war sie recht füllig. Sie verweilte nur ein paar Minuten am Grab, dann drängte sie hastig fort von dem unwirtlichen Ort. Wir setzten sie bei ihrer Tochter, Mamas Cousine Sabine, im Nachbarort ab und fuhren dann nach Geestade hinüber, um nach Großmutter zu schauen.
Wie mochte sie, eine alte Frau, die Aufregungen und Strapazen des gestrigen Tages verkraftet haben?
Anders als bei meinem gestrigen Besuch blinzelte die Sonne durch die spärlichen Wolkenlücken. Das Haus wurde durch die Sonne in ein freundliches, aber kaltes Licht getaucht. Es wirkte nicht bedrohlich wie am Vortag, sondern einladend. Noch ehe eine von uns beiden aus dem Auto gestiegen war, trat Griseldis vor die Haustür und empfing uns mit der ihr eigenen theatralischen Aufgeregtheit:
„Mutti liegt noch im Bett. Sie will niemanden sehen und nicht aufstehen. Tut mir leid. Aber gut, dass ihr kommt, ich habe euch etwas zu sagen …“
In ihrer Stimme schwang Wichtigkeit. Mama ignorierte ihre Schwester und deren Worte vollkommen. Sie entbot Grisi weder einen Gruß, noch schenkte sie ihr einen Blick. Sie gab ihr einfach keine Gelegenheit, die angekündigte Botschaft zu verkünden. Ich, die ich meine Mutter gut kannte, merkte an dieser Reaktion, wie wütend sie noch immer auf ihre ältere Schwester war. Ungeachtet der Botschaft, welche Griseldis verkündete, ging Mama zielstrebig um das Haus herum, zu Großmutters Domizil.
Tatsächlich lag meine Großmutter im Bett, obwohl die Uhr auf Mittag zu eilte. Die Vorhänge im Schlafraum waren zugezogen. Bis zur Nase, als wolle sie sich verbergen, hatte Großmutter das Deckbett gezogen. Indes sie schlief nicht mehr.
Mama klopfte an die weit offen stehende Schlafzimmertür, schritt dann energisch in den Schlafraum und zog mit einem Ruck den Vorhang auf. Das helle Licht eines klaren Frühlingsmorgens flutete ungehindert herein. Griseldis, die uns wie ein Hündchen nachgeeilt war, lehnte triumphierend im Türrahmen.
„Da siehst du es selbst.“
Mama blieb ihr auch jetzt die Antwort schuldig.
„Was soll das, Mutter? Ich will dich abholen, nach Zingst. Oder willst du nicht noch einmal zum Friedhof?“
Der Köder, den Mama ihrer Mutter zuwarf, verfehlte seine Wirkung nicht. Augenblicklich schlenkerte Großmutter ihre Beine aus dem Bett.
„Ja, gut, dann mach ich mich fertig.“
Während Großmutter das tat, besuchten Mama und ich Opa Max’ Grab auf dem hiesigen Friedhof. Es stand ganz allein in der Grabreihe und wirkte verloren, obgleich der Winterschmuck darauf verriet, dass jemand das Grab pflegte. Oft hatte Mama mir gestanden, dass ihr dieses klotzige Grabmal, der große schwarze Granitblock und der mit Blumen bepflanzte Erdhügel, absolut nichts bedeuteten. Nichts verband sie damit, keine Gefühlsregung, keine Verpflichtung und erst recht keine Erinnerung an den lebendigen Max Ludewig, ihren Vater. Dennoch flohen wir manchmal aus Griseldis’ Haus, einem noch unwirtlicheren Ort als dem Friedhof, hierher.
Heute stand Mama ungewöhnlich versunken vor dem monumentalen Grabstein. Ihre Gedanken wanderten irgendwo umher, sie weilten nicht hier, auf dem Totenacker. Ich beobachtete meine Mutter von der Seite, störte sie nicht. Ich wusste, dass sie von selbst sprechen würde, sobald die Zeit reif war, das Gedachte mitzuteilen. Als Mama aus ihrer Versunkenheit erwachte, flüsterte sie mehr zu sich selbst, denn zu irgendwem sonst gewandt: „Jetzt bin ich ganz allein.“
Wir aßen in Zingst im Fischrestaurant zu Mittag. Während der ganzen Mahlzeit zeigte sich Großmutter einsilbig. Über den gestrigen Tag und seine aufregenden Ereignisse verlor sie kein Wort, als habe sie das alles gänzlich aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Sie wirkte wieder souverän und überaus beherrscht. Nur ihr Schweigen verriet die Anstrengung, welche es sie kostete, diesen Schein zu wahren. Seit gestern schien mir meine Großmutter sichtlich gealtert. Ihre Gesichtszüge waren von den Spuren tiefer Trauer zerfurcht.
Das Essen schmeckte ausgezeichnet. Selbst Großmutter, eine begnadete Köchin, kam nicht umhin, Suppe und Hauptgang zu loben. Trotz des guten Essens und des stilvollen Ambientes blieb die Atmosphäre zwischen uns angespannt. Innerlich bedauerte ich, nicht mit Mama oder mit Tante Annelies hier zu sitzen. Beide, Mama und die Tante, würden trotz ihres Schmerzes niemals so verbissen in ihrer Trauer verharren, diese so zelebrieren wie Großmutter es tat. Meine Mutter und meine Tante vermochten lebendig von Onkel Friedhelm zu erzählen. In ihren Episoden und Erinnerungsfetzen lebte er weiter. Gern hätte ich Tante Annelies’ gestrige Beichte hinterfragt, allein das verbot sich durch Großmutters Anwesenheit. Ich war nur Zaungast gewesen und hatte sehr wohl begriffen, dass die Tante zu meiner Mutter sprach, dass sie ihr etwas anvertraute, wovon wahrscheinlich nicht einmal ihre Töchter wussten. Sie wollte reden und dennoch das Erzählte vertrauensvoll aufgehoben wissen. Es verstand sich von selbst, dass auch ich, der Zaungast, das Gehörte nicht breit trat. Meine Fragen würde ich mir bis zu einem späteren Zeitpunkt aufheben müssen.
Während Großmutter verbittert schwieg, unterhielten Mama und ich uns über mein Studium, über Mamas Arbeit, gemeinsame Bekannte aus Krambzow und Onkel Friedhelm. Großmutter unternahm nicht einen einzigen Versuch, sich in das Gespräch einzubringen oder ihm eine andere Wendung zu geben. Erst als Mama die Rechnung verlangte, kam Bewegung in Großmutter. Sie schob meiner Mutter ihre Börse hin und forderte sie gebieterisch auf, die Rechnung von ihrem Geld zu begleichen.
„Nein, Mutter“, wies Mama die Börse zurück, „ich habe dich eingeladen, also bezahle ich die Rechnung. Lade morgen deine andere Tochter zum Essen ein, dann darfst du bezahlen.“
„Meine andere Tochter halte ich schon ihr ganzes Leben lang aus. Ohne mein Geld wäre dort längst alles zusammengebrochen, das kannst du mir getrost glauben. Die sind wie die Kinder, die jeden Flitter haben müssen. Das Geld rinnt ihnen wie Wasser durch die Finger. Ich wollte dir auch einmal etwas Gutes tun.“
„Schau Mutter, du hast die Achtzig überschritten. Solltest du immer noch glauben, dass das Gute, das ich von dir begehrte, jemals etwas mit Geld zu tun hatte? Mit Geld kann man sich nicht freikaufen, das weißt du doch selbst.“
Großmutter senkte beschämt den Blick und zog sich ins Dickicht ihres Schweigen zurück.
Ich schob Großmutters Rollstuhl durch Zingsts holprige Straßen zum Friedhof hin. Trotz des dicken Mantels und der Decke, welche ich über ihre Beine breitete, fror Großmutter in dem eisigen Wind, der sich uns entgegenstemmte.
Wir verweilten nur einen kurzen Moment. Mama schlug Großmutter vor, Annelies einen Besuch abzustatten, dort könne Großmutter sich aufwärmen und mit ihrer Schwägerin über Friedhelm reden.
„Ich will sie nicht sehen. Ich kann diese fette Kuh nicht mehr ertragen!“, erwiderte Großmutter in einem ungewöhnlich heftigen Gefühlsausbruch. Ihre Stimme hallte schneidend scharf. Mich befremdete sowohl die Schärfe der Ablehnung als auch die Wortwahl. Ganz deutlich spürte ich einen unterschwelligen Hass, den ich mir nicht zu erklären vermochte. Zwischen Großmutter und der Tante herrschte seit Jahr und Tag insgeheim eine Konkurrenz darum, wer zu den Familienfeiern den wohlschmeckenderen Kuchen, das ausgefallenere Abendbrot kredenzte. Diese Konkurrenz betrachtete ich bislang eher als einen sportlichen Wettbewerb. Auch Großmutters nicht eben freundliche Spitzen gegen Annelies’ Köperfülle war ich von früher her gewohnt. Sie kamen mir stets ein wenig albern vor. Die heutige Ablehnung jedoch besaß eine andere Dimension – das bemerkte ich und das bemerkte Mama.
„Was ist los, Mutter?“, versuchte Mama die Gründe für den spontanen Hassausbruch zu erkunden.
„Was ist los?“, äffte Großmutter Mama nach. „Ich hasse diese fette Kuh! Sie hat mir Friedhelm genommen! Ich will sofort nach Hause!“
„Bist du nicht ungerecht, Mutter? Hast du überhaupt einen stichhaltigen Grund, sie derart zu hassen?“
Großmutter ging nicht auf Mamas Einwand ein. Sie grollte schweigend. Lediglich: „Ich will heim!“, forderte sie unwirsch noch einmal.
Wir fuhren sie nach Hause, geleiteten sie in ihre Wohnung und verabschiedeten uns verwundert und erlöst in einem.
Plötzlich fiel mir Großmutters Versprechen vom Vortag ein. Sie sollte nicht meinen, ich habe es vergessen, es bedeute mir nichts.
„Großmutter, du schuldest mir dein Geheimnis“, machte ich meine berechtigten Ansprüche geltend.
„Ich weiß. Noch bin ich nicht tüdelig im Kopf. Ein Jahr hast du Zeit. Doch gut, komm es dir gleich morgen abholen.“
Mit dieser Antwort schob sie mich hinaus und verriegelte hinter mir die Tür.