Читать книгу Geschenkte Tage - Evelyn Falz - Страница 5
Der Tag, der alles veränderte
ОглавлениеLeise knisterte das kleine Beutelchen in meiner Tasche. Wir waren mal wieder unserem gemeinsamen Hobby nachgegangen. Ein Hobby, auch Freizeitbeschäftigung oder Steckenpferd genannt, ist eine Tätigkeit, die der Ausübende freiwillig und regelmäßig betreibt, die dem eigenen Lustgewinn oder der Entspannung dient, so definiert Wikipedia. Hobby – das muss nicht immer etwas Anerkanntes wie Kunst oder Sport sein, oder? Und überhaupt: Was ist schon anerkannt?
Ich jedenfalls bin für mein Leben gern mit meiner allerbesten Freundin – meiner Mutter – bummeln gegangen. Mal haben wir ein Schnäppchen gefunden, mal nicht. Sie hat mich immer gut beraten und mir viel Aufmerksamkeit geschenkt – und umgekehrt. „Oh, das steht dir gut! Nein, das ist nichts für deine Figur, schauen wir weiter.“
Niemand sah meiner Mutter an, wie alt sie tatsächlich war. Sie hatte eine gute Figur (was ich ihr gönnte, mich aber manchmal auch ein klein wenig neidisch machte), sorgfältig gefärbte und frisierte Haare (als sie mit den Armen nicht mehr so gut über den Kopf greifen konnte, half ich ihr dabei täglich) und war immer schick, aber nie übertrieben gekleidet. Ihre Zähne waren fast alle noch echt und der Mund leicht betont mit einem zart schimmernden Lippenstift.
Einzigartig war auch ihre Haut. Nicht mehr straff wie bei einem jungen Menschen, aber doch mit einer natürlichen Glätte und butterweich. „Die Haut hat es verdient, dass sie täglich gecremt wird“, war ihr Motto. Und das sah man.
Als sie noch bei uns wohnte und später in den Semesterferien war noch meine andere allerbeste Freundin dabei – meine geliebte Tochter Kristin. Meine Prinzessin. Drei Generationen zusammen unterwegs – schnattern, lachen, stöbern und als Abschluss einen Cappuccino mit Sahne in unserem Lieblingscafé. Wir sind immer aufgefallen, auch aufgrund unserer optischen Ähnlichkeit. Drei Frauen mit dunklen Haaren und braunen Augen. Meine Familie erfüllte mich mit großer Freude und Stolz.
Kristin, Evelyn und Eva-Maria im Barockgarten Großsedlitz, Juli 2006
Ich bin 1956 in der sächsischen Kleinstadt Lichtenstein zwischen Chemnitz und Zwickau geboren und – ich denke das war eine bewusste und gewollte Entscheidung meiner Eltern – als Einzelkind aufgewachsen. Meine Mutter Eva-Maria, von ihren Bekannten liebevoll Eva oder Evi, von mir „Mutti“ genannt, wurde 1929 geboren, stammte ursprünglich aus Schlesien und war im Winter 1946 mit ihren Eltern und ihrer Schwester in einer dramatischen Flucht nach Sachsen gekommen. Wieder bei null anfangen, nur die Habseligkeiten dabeihaben, die man tragen konnte.
Sie erzählte oft und gern von ihrer Kindheit in Schlesien. Vom „Kascheln“, was so viel bedeutet wie schlittern auf dem Dorfteich, von ihrer Schulklasse und dem Haus. Aber auch von der Flucht. Wie die Räder am Auto abmontiert wurden, weil sie irgendjemand gerade benötigte. Und wie sie ihr geliebtes Fotoalbum auf dem Ofen liegen ließ. Es war einfach zu hektisch gewesen. Ihr halbes Leben hat sie sich darüber geärgert. Zum Glück wurde die Familie in ihrer neuen Heimat den Umständen entsprechend gut aufgenommen. Zunächst arbeitete meine Mutter als Näherin in einer kleinen privaten (für diese Zeit in der DDR immer seltener werdenden) Textilfabrik, später als Erzieherin. In dieser Stadt lernte sie auch meinen Vater Walter kennen. Er war für mich ein liebevoller und herzensguter Papa, der mich über alles vergötterte.
Ich hatte eine sehr schöne und wohlbehütete Kindheit. Wir wohnten in der dazugehörigen Villa der Textilfabrik, einem früher sicherlich wunderschönen Haus mit rotem Samt auf dem Geländer, Buntglasfenstern und Oberlicht. 1926 fuhr der damalige Fabrikant das erste Auto im Ort.
Leider war die Villa bereits in den 50er- und 60er-Jahren sehr vernachlässigt worden. In den frühen Jahren der DDR wurden solche Schätze nicht gewürdigt.
Ich wohnte mit meinen Eltern im Erdgeschoss, die Eltern meiner Mutter im ersten Obergeschoss.
Meine Mutter blieb wegen mir zehn Jahre lang zu Hause. Das war ungewöhnlich für die 60er-Jahre in der DDR, in der es mehr und mehr üblich war, dass auch Frauen in Vollzeit arbeiten gingen.
Es war eine ärmliche Zeit, wir hatten nie wirklich viel Geld. Auf dem Jahrmarkt gegenüber gab es für mich immer nur zwei Lose, eine Zuckerwatte und eine Fahrt. Eine Matrosenfigur habe ich mir immer gewünscht! Trotzdem vermisste ich nichts. Ich habe immer das bekommen, was ich brauchte, vor allem viel Zeit und Liebe.
„Da machen wir was draus“: Wunderschöne Kleider hat mir meine Mutter genäht, ich war für die damalige Zeit immer schick angezogen. Legendär war ihre Umarbeitungstaktik von alter Kleidung der Westverwandtschaft. Da wurden Mäntel aufgetrennt und neu verarbeitet. Aus weiten Röcken wurden enge Kleider.
Wir verbrachten einfache, aber schöne Urlaube auf Hiddensee, im Harz, im Sächsischen Elbland und waren stolz auf unseren Trabi.
1972 begann ich meine Lehre als Zahntechnikerin. Eigentlich war es nicht mein Traumberuf. Aber meine Großeltern waren zu Besuch bei meiner Tante und hatten dort einen Zahntechniker kennengelernt. Voller Begeisterung erzählten sie von dieser wundervollen Arbeit und schon hatte ich meinen Lehrvertrag unterschrieben. Meinen eigentlichen Wunsch, ein Lehramtsstudium, konnte ich aufgrund meiner Kirchenzugehörigkeit leider nicht verwirklichen. So war das damals in der DDR.
Zwei Jahre später lernte ich meinen Mann Christoph kennen. 1975 heirateten wir. Wir wohnten auch in der alten Villa, in der ich aufgewachsen war. Drei Generationen unter einem Dach. 1980 – meine Großeltern mütterlicherseits waren verstorben – bekam ich meine Tochter, mein absolutes Wunschkind, und wir begannen unser großes Projekt: ein gemeinsames Haus. Wieder sollten drei Generationen unter einem Dach leben.
Mit vereinten Kräften wurde unser Traum Realität. Mein Mann und mein Vater am Betonmischer, meine Mutter und ich als Helfer und Pausenversorger für die Handwerker. Mit viel Eigenleistung und starken Nerven konnten wir 1983 in unser Doppelhaus einziehen. Das Haus ist so konzipiert, dass jede Familie ihre eigene Wohnung samt eigenem Eingang und Garage hat, in der Mitte jedoch eine Verbindungstür besteht, sodass wir ohne das Haus zu verlassen, jeweils die andere Wohnung betreten können. Heizung und Garten wurden gemeinsam genutzt. Man kann schon von einem Generationenhaus sprechen. Reibereien gab es kaum, den einen oder anderen Kompromiss muss man einfach machen. Wenn mein Mann da war, gestanden uns meine Eltern unsere wohlverdiente Ruhe zu und zogen sich zurück. Vor allem mit kleinem Kind habe ich es immer genossen, schnell mal zu Mutti gehen zu können.
Meine Mutter arbeitete in ihren letzten Berufsjahren am Empfang einer Zahnarztpraxis. Zu dieser Zeit starteten wir drei Damen morgens immer gemeinsam. Zuerst Oma aussteigen lassen, dann Kind in die Schule bringen, dann selbst zur Arbeit fahren. Wir genossen das Leben in unserem „Drei-Mädel-Haus“. Gemütliche Abende in unserem selbstgebauten Kaminzimmer oder auf der Terrasse und der jährliche Großeltern-Enkel-Urlaub waren Pflichtprogramm. Meine Tochter fühlte sich sehr wohl bei Oma und Opa und bekam natürlich jeden Wunsch von den Augen abgelesen.
Meine Mutter war immer meine allerbeste Beraterin und Freundin, sowohl in alltäglichen Dingen, wie auch in wichtigen Lebensentscheidungen. Im Sommer 1989 wollte sich mein Mann unbedingt selbständig machen.
Ein Einzelhandelsgeschäft in der DDR zu eröffnen – das war ein völlig atypisches Vorhaben in dieser Zeit. Von der unmittelbar bevorstehenden Wende hatten wir nicht die leiseste Ahnung. Dazu musste er natürlich seinen zwar nicht allzu geliebten, aber sicheren Job in der Wismut SDAG (Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft), einem russischen Unternehmen im Erzbergbau aufgeben, ein Geschäft anmieten, Ware, die in der DDR sowieso mehr als rar war, heranschaffen, sich um die Buchhaltung kümmern, und so weiter, und so weiter.
Was heute selbstverständlich klingt, war in einem Land nach 40 Jahren Planwirtschaft ein Mammutprojekt, vor allem da erst noch eine Kohleheizung eingebaut werden musste. Aber mein Mann zog das durch. Am 12. November 1989 eröffneten wir unser Geschäft im benachbarten Heimatort meines Mannes. Meine Mutter unterstützte uns, sodass ich nach einigem Überlegen auch meine Stelle als Zahntechnikerin aufgab. Nun als Rentnerin stand sie selbst im Laden und verkaufte mit großem Enthusiasmus Jogginganzüge und Seife. Es kam so viel Ansturm, dass wir nicht alle Kunden auf einmal in das Geschäft lassen konnten. Also musste es schubweise gehen. Wir ließen die Kunden in Gruppen herein, schlossen ab und nachdem alle ihre Einkäufe getätigt hatten, wurde gewechselt. Das wäre heute unvorstellbar, doch großer Andrang war in der DDR keine Seltenheit, wenn es etwas Besonderes zu kaufen gab.
Doch die Zeit der begeisterten Kunden in unserem Geschäft war bald vorbei und die Leute kauften lieber in den Einkaufszentren der größeren Städte ein, die in kürzester Zeit aus dem Boden gestampft wurden.
Wegen drei Geschäften, einem Großhandel, vielen Betrügereien, einigem Pech und so manchen internen Fehlern mussten wir 1997 Konkurs anmelden. Von da an hatten wir viele Jahre zu tun, uns einigermaßen über Wasser zu halten. Meine Eltern unterstützten uns immer sowohl finanziell, als auch mit der sehr nötig gewordenen Ermutigung. „Ihr schafft das, wir stehen hinter euch. Es geht immer weiter, schaut nach vorn.“ Solche Worte haben gutgetan.
Ermutigung erhielt ich immer auch im Glauben. Der Besitzer der „Textilfabrik Gottfried V.“, in welcher meine Mutter nach der Flucht landete, war eine der tragenden Säulen und aktives Mitglied der Landeskirchlichen Gemeinschaft. Welch ein Segen! Schon seit ich mich erinnern kann, war ich zunächst in der Landeskirche und später auch in der Landeskirchlichen Gemeinschaft meines Heimatortes eingebunden. Meine Mutter hat mich sehr im Glauben geprägt. Durch sie gehörten Kinderstunde, Junge Gemeinde, Konfirmation und später unsere gemeinsame Chormitgliedschaft als fester Bestandteil zu meiner Woche. Aber auch daheim hatten wir viele Jahre unsere tägliche kleine Andacht mit Bibellesen und Gebet.
Ich möchte aber auch nicht die Kehrseiten einer so engen Beziehung verschweigen. Besonders erinnern kann ich mich an die Momente, wenn ich mit meinem Mann und meiner Tochter in den Urlaub fuhr. Meine Mutter schaute immer ein wenig traurig und wehmütig, als würde ich sie für immer verlassen. Und schon klopfte das schlechte Gewissen bei mir an. Im Nachhinein betrachtet, war ich eigentlich nie unabhängig und frei. Dieser Umstand trug sicherlich zu den Entwicklungen, die noch folgten, bei. Und es gab auch ab und zu Zoff zwischen meiner Mutter und mir. Ich nenne es bewusst nicht Streit, weil es nur um Nichtigkeiten ging. Laut und kurz – so würde ich unser Austragen von Diskrepanzen bezeichnen. Und trotzdem: Ich bereue nichts.
Nach dem Tod meines Vaters Ende 2002 wohnten wir dann mehr zusammen als getrennt. Trotz eigener Küche nahm meine Mutter jede Mahlzeit bei uns ein. Oft habe ich abends noch eine Weile mit ihr zusammen ferngesehen, damit sie nicht so allein war. Mein Mann beschwerte sich nie. Auch nicht bei den gemeinsamen Urlauben. Zu dritt mit der Schwiegermutter. Dafür gebührt ihm allerhöchster Respekt!
Die Kehrtwende des so glücklichen unbeschwerten Lebens begann am 29. Januar 2007.
Es war Sonntagmittag und meine Tochter war mit ihrem Mann Stefan zum Mittagessen da. Üblicherweise bereitete ich das Sonntagsessen nach dem Tod meines Vaters mit meiner Mutter gemeinsam zu. Jeder trug seinen Anteil dazu bei. Es gab Schweinebraten mit selbstgemachten Mehlklößen und Rotkraut. Ich kann mich noch genau daran erinnern.
Beim Essen stieß meine Mutter versehentlich ihr Glas um, was an sich nicht tragisch ist. „Ich hole schnell ein Tuch“, sagte ich. Seltsamerweise reagierte sie darauf überhaupt nicht. Meine Mutter war immer eine sehr ordentliche und gepflegte Frau. Sauberkeit und eine perfekt geputzte Wohnung waren für sie selbstverständlich. Manchmal hat sie es auch übertrieben, fand ich. Ein Fleck auf ihrer Bluse – undenkbar!
Nach dem Essen legte sie sich wie üblich zum Mittagsschlaf hin und ich musste sie wecken, damit wir es noch zur Gemeinschaftsstunde, die um 17 Uhr begann, rechtzeitig schafften. Wir hatten eigentlich immer Hektik, wenn wir irgendwo hinwollten. Besonders wenn es eine feste Zeit gab. Schnell nochmal ins Bad, den Herd kontrollieren, nochmal die Haare kämmen. Fast am Auto in der Garage angelangt, musste sie nochmal hoch in die Wohnung. So ging das immer. Immer auf den letzten Drücker. Mein Vater hat das jahrelang mit einer Seelenruhe ertragen. Ich konnte das nie. Es machte mich immer wahnsinnig. Beim Aufwachen sprach sie sehr langsam.
„Schau, die Blätter bewegen sich ganz langsam.“ Sie starrte aus ihrem Schlafzimmerfenster in den Garten. Ich nahm das zur Kenntnis, dachte mir aber nichts dabei.
In der Landeskirchlichen Gemeinschaft sang sie dann nicht mit, wirkte apathisch und abwesend. Völlig verändert. Rein aus dem Bauch heraus dachte ich sofort an einen Schlaganfall.
Bisher telefonierte meine Mutter sonntagabends gewöhnlich gegen 20 Uhr längere Zeit mit ihrer Schwägerin Gerti in Bayern. Das war seit dem Tod ihres Bruders im Jahre 2001 ein festes Ritual. Sie schaltete dazu immer gemütliche Beleuchtung ein und schloss die Rollläden. Dann quatschten die Damen ausgiebig. Diesmal war alles anders: helle Beleuchtung, die Rollläden waren oben, das Telefonat war kurz. Sehr seltsam. Auf die Frage des „Warum“ bekam ich nur eine knappe und schroffe Antwort: „Warum nicht? Es gibt nichts Neues.“
Am nächsten Tag fuhren wir zur Sparkasse und auf den Friedhof. Das war oft unsere Runde. Erst einmal schien alles in Ordnung, die Kontoauszüge holte sie wie gewöhnlich selbst.
Ich beobachtete sie genau. Jeden Schritt, jede Geste, jede Äußerung. Nach dem Mittagessen öffnete sie einen Schoko-Vanillepudding und starrte in den Becher.
„Das Muster sieht aus wie Amerika.“
Dabei rückte sie die Pflanzen auf der Fensterbank zurecht. Sehr eigen, dachte ich mir. Ich rief ihre Hausärztin vorsichtshalber an, verzichtete jedoch auf einen Hausbesuch. Ich wollte die ganze Sache erst einmal beobachten. Die Hausärztin rief nochmal an. Ich schilderte ihr meine Beobachtungen. Noch hing kein Mundwinkel nach unten. Auch eine Lähmungserscheinung war glücklicherweise nicht zu beobachten. Sie riet mir aber, falls ich unsicher wäre, Mutter unbedingt ins Krankenhaus zu bringen.
Am nächsten Morgen war sie unauffällig, aber sehr langsam, wie in Zeitlupe. Durch unser Zusammenleben fiel mir das sofort auf. Ich kannte doch jede Gewohnheit und jedes Verhalten von ihr. Zum Kaffeetrinken hatte ich eine Fruchttorte vom Bäcker geholt, die sie nur mit der Gabel zerhackte. Nachmittags bekam sie oft Besuch von Freundinnen oder besser gesagt Bekannten. Ältere alleinstehende oder verwitwete Damen. Eine schöne Abwechslung für beide Seiten. Ich unterstützte diese Besuche und fuhr die Frauen oft abends heim, wenn es schon dunkel geworden war. Doch diesmal wollte sie ihre Bekannte nicht hereinlassen.
Am späten Nachmittag kam meine Tochter von der Arbeit. Sie hatten gleich nach dem Studium eine Arbeit in der Nähe gefunden und baute nun mit ihrem Mann im Nachbarort ein Haus. Da ihr Mann noch in Bayern arbeitete und pendelte, wohnte sie unter der Woche bei uns. Wir schauten meine Mutter besorgt an, versuchten mit ihr ins Gespräch zu kommen. Gemeinsam wollten wir sie mit einem Modekatalog etwas ablenken. Und natürlich testen, was sie verstand und wie sie reagierte. Doch sie konnte keine vollständigen Sätze mehr bilden und auch nichts mehr lesen. Erschreckend!
Schließlich fassten wir einen Beschluss: Wir bringen sie in die Notaufnahme ins Krankenhaus. Dieses befindet sich nur einen Steinwurf von unserem Wohnhaus entfernt und gehörte durch diese unmittelbare Nähe schon immer irgendwie zu unserem Leben dazu. Trotzdem war es ein seltsames Gefühl, nun die eigene Mutter dort hinzubringen. Zunächst wurde sie untersucht. „Herzrhythmusstörung, kein Schlaganfall“, sagte die junge Ärztin. „Sie sollte heute Nacht dableiben.“
Wider Erwarten tat sie das auch. Eigentlich vermeidet sie, wenn es geht, Krankenhausaufenthalte. Außer zu meiner Geburt und später noch einmal wegen einer Unterleibsgeschichte war sie nie im Krankenhaus gewesen.
Als sie in ein Zimmer gebracht worden war, besuchte ich sie dort noch einmal. „Mutti, wir schaffen das. Du wirst hier erst einmal untersucht, dann bekommst du bestimmt neue Medikamente und dann hole ich dich wieder ab“, versuchte ich mir und ihr einzureden. Schließlich verabschiedete ich mich mit einem mulmigen Gefühl.
Früh um 8 Uhr klingelt das Telefon. Am anderen Ende war die Assistenzärztin vom Vorabend. „Ihre Mutter hat eine Spritze gegen die Herzrhythmusstörung erhalten. Dabei hatte sie einen Krampfanfall und daraufhin einen Schlaganfall“, erläuterte sie ruhig und sachlich. „Sie wird jetzt zur Computertomografie gebracht, die bisher noch nicht durchgeführt worden ist.“
Das Blut erstarrte in meinen Adern. Mein Körper war wie gelähmt, es zog mir im wahrsten Sinne des Wortes den Boden unter den Füßen weg und ich musste mich setzen. Krampfanfall, Schlaganfall – meine Mutter! Die Begriffe schwirrten mir durch den Kopf und ich hoffte, es sei nur ein böser Traum.
Eine Stunde später klingelte das Telefon erneut. Mit zittriger Hand ergriff ich den Hörer und nannte notgedrungen meinen Namen. Eigentlich wollte ich es gar nicht wissen. Wie sieht ein Schlaganfall schon aus? Gelähmter Körper oder zumindest Körperteile, Verwirrtheit. So will ich meine Mutter nicht!
„Ihre Mutter hat eine schwere Gehirnblutung erlitten und wir setzen uns jetzt mit der Neurochirurgie in Chemnitz in Verbindung.“
Ein dritter Anruf bestätigte die Verlegung nach Chemnitz. Nun war mir endgültig fast das Herz stehen geblieben. Nichts ging mehr. Realität und Schockstarre verschwammen. Vor fast genau vier Jahren war mein Vater nach einem Sturz wegen einer Gehirnblutung nach Chemnitz verlegt worden. Dort war er aufgrund der Schwere der Verletzung trotz langer Operation nicht wieder aufgewacht. Nie werde ich die dumpfen, eintönigen Geräusche auf der Intensivstation vergessen. Nie die Schläuche an seinem Kopf, die das Hirnwasser abtransportieren sollten.
„Ihr Vater ist schon in einer anderen Welt“, waren die Worte des Arztes, als ich meinen Vater das letzte Mal sah. Sollte sich nun das gleiche Unglück wiederholen? Die schlimmsten Gedanken kreisten in meinem Kopf. Vor dem Transport ging ich schnell nochmal ins Krankenhaus auf die Station. Meine Mutter lag im Bett. Ein Mundwinkel hing herunter, sie hatte leichtes Fieber, war nicht richtig ansprechbar. Sie schaute mich nur teilnahmslos an. Typisch Schlaganfall. Welch ein Anblick! Meine arme Mutter! Warum sie? Unter Tränen betete ich mit ihr: „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Herr, bitte behüte meine liebe Mutti, beschütze sie, bewahre sie, heile sie. Du hast die Kraft, du hast die Macht. Amen.“
Im Stillen betete ich weiter. Bitte nimm sie mir noch nicht weg, ich flehe dich an. Herr! Bitte! Ich fürchtete, sie das letzte Mal lebend zu sehen. Dann musste ich das Zimmer verlassen. Sie wurde auf die Trage gelegt und fuhr schon bald im Krankenwagen mit Blaulicht davon. Ich schaute sorgenvoll nach. Nun allein. Ohne sie.
Im Nachhinein stellte ich fest, dass es schon einige Wochen vorher erste Anzeichen gegeben hatte. Mal konnte sie beim Abendessen ihren Arm nicht richtig bewegen. Mal lief sie beim gemeinsamen Spaziergang völlig isoliert, mal konnte sie plötzlich nicht richtig stehen. Eigenartiges Verhalten. Weil es aber nur kurz andauerte, hatte ich es schnell wieder verdrängt. Ich wollte nicht zulassen, dass meine Mutter alt und krank und vielleicht ein Pflegefall werden könnte. Meine beste Freundin!