Читать книгу Geschenkte Tage - Evelyn Falz - Страница 7
Wieder bei Null anfangen
ОглавлениеUnter Tränen ging ich meiner Arbeit nach. Mehr schlecht als recht hielten sich mein Mann und ich beruflich über Wasser. Ich verpackte in dieser Zeit gerade kleine Geschenke für Firmenfeiern, Tischdekorationen in Gaststätten und Werbepräsente. Viel Arbeit für wenig Geld. Aber ich habe mich nie beschwert. Gott hat mich immer getragen und immer dafür gesorgt, dass wir unsere Verbindlichkeiten bedienen konnten. Der große Vorteil an dieser Tätigkeit war, dass ich zeitlich und räumlich unabhängig war. Unser Heizungsraum war mein Arbeitsort. Warm und trocken und ein Teppichboden, auf dem ich jetzt alle paar Minuten kniete und betete. „Gott stehe meiner lieben Mutti bei. Schenke ihr Kraft und Stärke und segne die Ärzte, dass sie die richtigen Maßnahmen ergreifen. Es waren schlimme Stunden für mich. Gegen 20 Uhr rief ich im Krankenhaus an. Sie war noch nicht aus dem OP raus. Gegen 23 Uhr probierte ich es wieder. Nun war sie da. Man habe die Blutung entfernt. „Ihr geht es den Umständen entsprechend.“
„Den Umständen entsprechend?“, fragte ich unwissend. „Was heißt das genau?“
„Wir denken, dass es bergauf geht“, erhielt ich als Antwort.
Danke Herr! Ich wurde ruhiger und konnte durchatmen.
Am nächsten Tag besuchte ich meine Mutter im Krankenhaus. Man warnte mich vor, dass sie einen Verband trage und ein großes Pflaster auf der linken Stirn. „Man führt ihr noch etwas Sauerstoff zu, sie atmet aber schon allein“, erklärte mir die Krankenschwester. Voller Erwartung ließ ich mich an ihr Bett bringen. Diesmal war alles anders als bei meinem Vater. Es war ruhig auf der Station, nicht diese riesigen Maschinen mit ihren dumpfen, monotonen Geräuschen. Sie hing an zahlreichen kleineren Monitoren. Ich stellte mir die bangen Fragen: Wird sie mich erkennen? Wird sie sprechen können? Wird sie reagieren?
Sie reagierte. Und der Verband sah auch gar nicht schlimm aus. Kaum im Raum angekommen, fragte ich sie aufgeregt wie ein kleines Kind: „Weißt du noch wie unser Lieblingscafé heißt?“
„Na Alex!“, antwortete sie wie selbstverständlich. Erleichterung machte sich breit. Große Erleichterung. Beruhigt fuhr ich nach Hause. Am nächsten Morgen rief ich wieder an und besuchte sie nachmittags. Ihr Zustand hatte sich nicht verändert. Im Krankenhaus wollte niemand eine Vorhersage wagen, insgesamt war die Stimmung aber positiv. Dann wurde sie in ein sogenanntes Präventionszimmer verlegt.
Nach drei bis vier Tagen bekam sie plötzlich Fieber und eine Lungenentzündung. Ich persönlich fand es zu kalt dort. Selbst die Ärztin betrat das Zimmer nur mit dickem Kaschmir-Pullover unter dem Kittel. Und wieder hieß es bangen. Eigentlich schlief sie die ganze Zeit. Sie wurde auch künstlich ernährt. Ich konnte die Situation überhaupt nicht einschätzen. Eine Antwort von den Ärzten oder dem Pflegepersonal erhielt ich auch nicht. Nach fünf Tagen bekam ich einen Anruf aus dem Krankenhaus. Wie immer bei unerwarteten Anrufen aus dem Krankenhaus erschrak ich. Immer lebte ich mit der Angst einer schlechten Nachricht. „Wir haben einen Platz bei der Früh-Reha für ihre Mutter beantragt“, wurde mir am anderen Ende mitgeteilt. „In diesem Zustand?“, fragte ich. Das konnte ich nicht nachvollziehen. Sie sollte am Dienstag mit der Reha beginnen. Am Freitag wurde mir mitgeteilt, dass es ihr seit einer Weile besser ging und sie aufgrund Platzmangels verlegt werden sollte. Diese Entscheidung konnte ich überhaupt nicht verstehen.
Eigentlich schlief sie immer nur. Das empfand ich als sehr befremdlich. Beim Chefarzt hatte ich erbeten, dass meine Mutter auf die Intensivstation des Heimatkrankenhauses gebracht werden sollte. Das war der einzig mögliche Kompromiss für mich. Er versicherte mir, dies zu veranlassen.
Am Samstag erfolgte dann die Verlegung nach Lichtenstein. Nach mehrmaligen Anrufen in der Intensivstation wurde mir gesagt, dass meine Mutter nicht angekommen sei. Nicht angekommen? Wie kann das sein? Also rief ich wieder den Chefarzt an – erfolglos. Ich versuchte es nochmal und nochmal. Als ich ihn dann endlich am Telefon hatte, teilte er mir genervt mit, dass der Oberarzt sie in ein Überwachungszimmer hatte bringen lassen. „Da kann ich nichts mehr machen.“
Nun war sie zwei Minuten von unserem Wohnhaus entfernt. Natürlich besuchte ich sie sofort. Wie üblich schlief sie. Gegen Abend ging ich nochmal hin. Irgendwie glänzte ihr Gesicht eigenartig. Sie schlief immer noch. Auf dem Monitor sah ich große Berge. Auf die Frage, warum sie so glänze meinte die Schwester: „Vielleicht wurde sie gerade frisch gecremt.“
Ich ließ nicht locker. „Sind die großen Berge auf dem Monitor normal?“, fragte ich. Die Schwester erschrak, riss die Augen auf und verschwand. Ich war mehr als verunsichert. Was ist los? Was bedeutet das? Kurze Zeit später betrat eine große Crew von Ärzten den Raum. „Sie hat hohes Fieber und muss sofort auf die Intensivstation“, teilte man mir mit. Nein! Hört dieser Alptraum denn nie auf?
Wieder hatte ich Angst und schlaflose Nächte. Ich konnte mich nicht mehr entspannen, mich nicht mehr konzentrieren und keine Freude mehr empfinden. Mein Kopf bestand nur aus Angst. Angst sie zu verlieren. Am Sonntagnachmittag hatte ich einen Termin mit dem Stationsarzt der Intensivstation. Er erklärte, dass meine Mutter eine Urosepsis hatte, eine Urinvergiftung.
„Es gibt eben keine Ersatzteile für einen alten Körper. Wir müssen abwarten“, fuhr er fort. Am Montagabend besuchte ich sie auf der Intensivstation mit meiner Tochter. Es ging ihr etwas besser. Sie konnte sogar auf leichte Fragen antworten. Das freute mich sehr.
Am Dienstag startete die Früh-Reha in Hetzdorf. Einen Tag später konnte ich sie besuchen. Hetzdorf befindet sich in Richtung Dresden, unweit von Freiberg und liegt knapp eineinhalb Autofahrstunden von uns entfernt. Erst geht es über die Autobahn, dann fast nochmal so lange über die Landstraße. Eigentlich bin ich keine ambitionierte Autobahnfahrerin. Beruflich muss ich keine weiten Strecken fahren und privat bin ich auf Langstrecken lieber Beifahrer. Aber es nützte nichts. Dann muss ich mein mulmiges Gefühl eben überwinden, sagte ich mir. Bei der ersten Fahrt war zum Glück mein Mann dabei. Der erste Eindruck der Klinik war positiv: klein, gepflegt, freundlich. Auf den Fluren kamen mir ältere und jüngere Menschen mit Rollatoren entgegen.
„Wenn wir hier mit Rollator rauskommen, haben wir es geschafft!“, sagte ich zu meinem Mann. Meine Mutter war auf der Intensivstation untergebracht und ansprechbar. Die Chefärztin machte keine Prognose. „Wir müssen sehen was wird, es wird auf jeden Fall schwierig. Ihre Mutter ist halbseitig gelähmt. Aufgrund der Lungenentzündung sind noch keine physiotherapeutischen Maßnahmen möglich.“ Welch ein Schlag ins Gesicht! Halbseitig gelähmt! Meine arme Mutter! Wie sollen wir das schaffen?
Dann durfte ich sie besuchen. Seltsamerweise war doch eine Physiotherapeutin da. Wie ein Stück rohes Fleisch wuchtete sie den alten Körper auf die Behandlungsliege. „Na Christoph, da haben wir uns was eingebrockt“, kommentierte meine Mutter das Geschehen nüchtern in Richtung meines Mannes. Ich musste lachen. Wie sehr habe ich mich gefreut!
Am nächsten Tag übernahm meine Tochter den Besuchsdienst, da sie beruflich in der Nähe war. Dann besuchte ich sie jeden Tag. Jeden Tag zwei Stunden Autofahrt, jeden Tag über die Autobahn. Täglich konnte ich kleine Fortschritte erkennen, nach einer Woche sogar große Fortschritte. Und plötzlich erkannte ich, was mir seit Wochen abhandengekommen war und ich so vermisste: Freude! Das wohlige Gefühl zu entspannen, zu lächeln, zur Ruhe zu kommen. Die Anspannung fiel von mir ab. Ich war für alle Kompromisse offen.
Das Programm in der Reha war intensiv: Ein ganz straffer Plan, die letzte Behandlung war oft erst um 16.30 Uhr. Danach ging es schnell auf das Zimmer. „Ich muss schlafen“, waren die letzten Worte meiner Mutter und schon schlummerte sie tief. Leider aß sie in Hetzdorf sehr schlecht. Da sie in den letzten Wochen abgenommen hatte, schmuggelte ich einige Schmankerl in die Reha. Die Diätschnitten ließen wir unauffällig verschwinden. Sie genoss den selbstgemachten Eiersalat von zu Hause. Und ich genoss es, ihr etwas Gutes tun zu können.
„Wer bei uns gut mitmacht, darf aufsteigen!“, erklärte die Schwester mit einem Augenzwinkern. Das heißt, man kann die Intensivstation, die sich in der unteren Etage befindet, verlassen und ein Stockwerk höher auf die normale Station ziehen. Wenn das kein Ziel ist!
Noch in der Intensivstation wurde meine Mutter mit dem Rollstuhl an den Tisch gefahren. Wie immer aß sie beim offiziellen Abendessen nicht viel und wie immer hatte ich meinen Plan B dabei. Doch was war das? Hatte sich da eben die gelähmte Hand bewegt? Tatsächlich! Ich fiel aus allen Wolken! Eine für die dortigen Umstände bereits recht gut genesene Patientin teilte uns mit: „Ja, sie isst schon manchmal alleine!“
Welch ein Fortschritt!
Wenn ich meine Arbeit früh begann, konnte ich gegen 15 Uhr in der Reha sein und die letzte Behandlungsstunde miterleben. Gleichgewichtsübungen an einem Gerät, das aussah wie ein Heimtrainer, an dem die Füße festgeschnallt und die Beine maschinell bewegt werden. Das hatte ich auch noch nie gesehen.
Einmal hatte sie im Zimmer ein kleines Seidentüchlein um den Hals, was ich nicht kannte. „Selbst gemacht. Seidentechnik!“, bekam ich kurz und präzise erklärt. Was ich jedoch auch bemerkte war, dass sie selbst tagsüber ihre Notdurft nicht steuern konnte. Es ging immer in die Windel. Das war sehr gewöhnungsbedürftig für mich. Sie war immer sehr sauber und gepflegt. Ich empfand es trotz der großen Fortschritte als erschreckend. Einmal fuhr ich sie im Rollstuhl durch den schönen Wintergarten, da meinte sie: „Huch, es stinkt aber nach Kraut aus der Küche.“ Irrtum, es kam aus der Hose!
Immerhin fing sie wieder an, mehr zu sprechen. Nach alledem sah ich sehr hoffnungsfroh in die Zukunft.
Plötzlich klingelte abends mein Handy, auf dem Display stand „Rehaklinik Hetzdorf“. Mein Herz raste. Das Handy hatte ich rund um die Uhr dabei, immer auf einen Anruf gefasst.
Der Stationsarzt teilte mir mit, dass meine Mutter aktiv wurde. Beim Essen hatte sie einen Stuhl weiter rücken wollen, war dabei umgefallen und hatte sich eine Platzwunde am Hinterkopf zugezogen. Sie war schon geklammert worden und er wollte nur wissen, ob Tetanusschutz bestand, was ich bejahen konnte.
„Bitte rufen sie morgen früh wieder an.“
Wieder hatte ich eine schlaflose Nacht. Da es nicht einfach war einen Arzt zu sprechen, musste ich ganz schön emsig sein, doch es gelang mir nach einiger Zeit, den Stationsarzt zu erreichen und auch einen Termin zu bekommen. Auf meine Frage versicherte er mir, dass geröntgt worden wäre, aber für eine CT keine Notwendigkeit bestanden habe. Meine Mutter ging gar nicht groß auf das Erlebnis ein. Ansonsten war die Entwicklung positiv. Es stellte sich heraus, dass der Sturz glücklicherweise nicht besonders schlimm gewesen war.
Nach vier Wochen Aufenthalt wurde mir mitgeteilt: „Nun ist es soweit. Ihre Mutter kann aufsteigen.“ Das hatte ich eigentlich noch nicht erwartet. In dem schönen Kurheim gibt es fast nur Einbettzimmer mit Nasszelle. Das ist an sich sehr positiv. Jedoch war dieses Ich-kann-alleine-aufstehen-und-alles-allein-machen nicht aus dem Kopf meiner Mutter herauszubekommen. Insofern hätte ich in ihrem Fall mehr Ruhe gehabt, wenn sie ein Zweibettzimmer gehabt hätte.
Ansonsten ging es bergauf. Durch meinen täglichen Besuch kannte ich mittlerweile das Personal schon gut. Von den Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Schwestern und Pflegern wurde mir reflektiert, dass meine Mutter eine angenehme Person sei, die auch weiterkommen wolle.
Eines nachmittags war sie noch in einer österlichen Bastelrunde, als ich mich mit einer Ergotherapeutin unterhielt. „Ach, das ist aber eine nette Frau. Schade, dass sie etwas durcheinander ist.“ Das wollte ich überhaupt nicht hören und auch nicht wahrhaben. Also vereinbarte ich ein Chefarztgespräch. Er erklärte mir, dass nach Entfernung der Blutung wieder genug Platz im Kopf sei, sodass sich das Gehirn wieder ausbreiten könne. Sicher gebe es noch Besserungen. Strohhalm komm her!
In der Zeit bemerkte ich aber eins: Meine Mutter konnte sich nicht mehr freuen! Auch wenn ich sie nach meiner Fahrt manchmal im Gang im Rollstuhl angetroffen hatte, freute sie sich nicht mich zu sehen. Oft fragte sie mich nur knapp: „Wo kommst du denn jetzt erst her?“
Wenn ich ging hörte ich: „Na dann geh doch, wenn du denkst ...“ Diese Worte trafen mich schwer. Manchmal musste ich erst die Tränen im Auto versiegen lassen, bevor ich losfahren konnte. Diese Ablehnung war auch eine tiefe Form von Schmerz für mich. Eine solche Erfahrung war mir neu und völlig unverständlich. Nur ganz wenige Patienten bekamen so viel Besuch wie sie. Und ich fuhr 120 km täglich. Mit dieser Veränderung musste ich erst mal klarkommen. Aber mein Herr Jesus half mir, auch das auszuhalten.
Auf der oberen Station war ein katholischer Pfleger, zu dem meine Mutter eine starke Verbundenheit entwickelte und mit dem sie auch über ihren Glauben sprach. Er war sehr nett und kümmerte sich individuell um meine Mutter. So wollte sie zum Beispiel nicht allzu zeitig ins Bett. Üblicherweise gab es um 18 Uhr Abendessen und danach wurde gleich die Abendtoilette durchgeführt. Das war meiner Mutter viel zu früh. So vereinbarte sie mit dem Pfleger einen Deal: Sie wurde immer als letztes fertiggemacht und danach quatschten die beiden noch etwas.
Die Mobilisierung schritt voran. Nach ca. sechs Wochen wurde ich eines Nachmittags wieder mit einem Sturz konfrontiert. Mutter hatte nach dem Mittagsschlaf alleine aufstehen wollen und war dabei hingefallen. Kurz darauf besprachen wir uns mit den diensthabenden Schwestern und Pflegern. Diese erläuterten, dass es doch aufgrund der großen Fortschritte schlimm wäre, wenn sie sich jetzt bei einem Sturz einen Oberschenkelhalsbruch zuziehen würde. Die Schwester und der Pfleger knieten sich vor den Rollstuhl meiner Mutter, schauten ihr in die Augen und sagten: „Frau Brückner, bitte bleiben sie sitzen und rufen sie uns. Wir haben doch so viel erreicht und wollen unsere Fortschritte nicht aufs Spiel setzen.“
Darauf antwortete meine Mutter unbeeindruckt: „Das kann ich nicht versprechen.“ Alle Beteiligten schauten sich ratlos an.
Nach knapp sieben Wochen kontaktierte mich die Sozialarbeiterin und bat um ein Gespräch. „Ihre Mutter ist jetzt soweit therapiert. Möchten sie ihre Mutter zu Hause pflegen oder soll sie in ein Heim? Für das Heim könnte sie jetzt im Rollstuhl entlassen werden, ansonsten könnte die Reha noch zwei bis drei Wochen verlängert werden, damit sie sicher mit dem Rollator umgehen kann.“ Das hörte ich gern, war es doch mein innigster Wunsch zu Beginn der Reha gewesen.
Obwohl meine Mutter jetzt nach Hause wollte, konnte ich sie der Fortschritte wegen zu einer Verlängerung überreden.
Zwei Tage später suchte ich vergebens nach einem Rollstuhl im Zimmer. Er war weg! Das Leben mit Rollator begann! Ein starker Wille ihrerseits und eine ausgezeichnete Physiotherapie führten zu einem unerwarteten Erfolg. Von nun an wurde auch der Stuhlgang besser und bei ausreichendem Zeitpolster schafften wir es rechtzeitig zur Toilette. Allerdings hatte sie Schmerzen durch den Dauerkatheter. Nach einem Gespräch mit dem Stationsarzt beschloss dieser, den Katheter sofort zu entfernen. Damit war das Problem nicht gelöst, aber immerhin die Schmerzen weg.
Eine große Herausforderung war, wie bei vielen älteren Menschen, immer das Trinken. Trotz guten Zuredens ließ sie sich lieber an eine Infusion anhängen, als eine Tasse Tee zu trinken, um ansatzweise genügend Flüssigkeit zu bekommen. Da merkte ich zum ersten Mal, dass zur Nicht-Freude eine gehörige Portion Starrsinn kam.
Auf mich wartete eine weitere neue Herausforderung, mit der ich lange Zeit zu kämpfen haben sollte. Ich hatte die Wellenlänge zu meiner Mutter verloren: unsere gemeinsame Basis, das Fundament unserer Mutter-Tochter-Beziehung. Nur treue Gebete gaben mir immer wieder Auftrieb.
Mittlerweile war es April geworden. Oft saßen wir zusammen und genossen die ersten Sonnenstrahlen. In der kleinen Parkanlage der Klinik blühten die Kirschbäume in einem Traum von rosafarbenen Kugeln. Umwerfend! Die Reaktion meiner Mutter war ernüchternd: „Na ja.“
Na ja? Ich konnte es nicht fassen! Nach allem was wir durchgemacht haben und nachdem es ein Wunder ist, dass sie überhaupt noch hier im Park sitzen kann, gab es ein Na ja? Überhaupt gab es nicht viel Gesprächsstoff. Früher waren wir richtige Quatsch-Tanten. Wir hatten uns immer etwas zu erzählen: von den Erlebnissen des Tages bis zur Planung des Mittagessens. Das war nun anders. Mutter hatte nichts zu sagen und wollte auch nichts wissen.
Nach kurzer Verwunderung konnte ich meine Irritation aber auch wieder schnell verdrängen. Ich freute mich einfach, dass wir wieder zusammensaßen.
Das wichtigste Utensil meiner Mutter war natürlich der Rollator, aber das machte ja nichts, ich wäre auch mit dem Rollstuhl noch zufrieden gewesen. Halleluja, danke Herr!
Leider gab es immer wieder solche verbalen Zwischenfälle.
Einmal kam während unseres Spaziergangs die Frage auf, wo eigentlich Walter (ihr Ehemann) sei. „Der lässt sich hier überhaupt nicht blicken! Das ist ja auch eine Pappnase.“
Ich war entsetzt! Zum einen sprach sie nie in dieser Form mit oder über meinen Vater und zum anderen war mein Vater seit über vier Jahren tot. Meine vorsichtig formulierte Antwort wurde kommentarlos akzeptiert.
Ich merkte nicht, dass Gott schon den Plan für mich fertig hatte und wir uns mitten in der Umsetzung befanden. Im Rückblick kann ich dazu sagen, dass er mich von der großen, aber auch einengenden Liebe meiner Mutter zu mir und umgekehrt sowie meinem Anspruch, sie nicht enttäuschen zu wollen, trennen musste. Nie hätte ich sonst ihren Tod verkraften können.
Meine Mutter war von da an nicht sonderlich freundlich zu mir und freute sich kaum. Weder an ihren eigenen Fortschritten, noch über meine Nähe. Aber nach Hause, das wollte sie auf jeden Fall.
Meine Mutter gehörte in der Kurklinik neben Bandscheiben- und Schlaganfallpatienten zu den Patienten, die es „im Kopf“ hatten, was natürlich niemand in dieser Form äußerte. Das wollte ich lange Zeit nicht glauben und wahrhaben. Außerdem kannte ich mich auch überhaupt nicht mit derartigen Krankheitsbildern aus. Da das Laufen mit dem Rollator immer besser klappte, hoffte ich natürlich, dass meine liebe Mutter bald auch wieder meine liebe Mutter werden würde und konnte mich nicht mit Desinteresse und Unfreundlichkeit abfinden.
Wieder arbeitete mein schlechtes Gewissen auf Hochtouren. Ich mühte mich ab, ihr alles, aber auch alles recht zu machen. Und alles war selbstverständlich. Mein Mann tolerierte mein neues Leben und fügte sich in den herausfordernden Tagesablauf ein. Obwohl wir durchaus kontroverse Diskussionen mit einer guten Portion Emotionalität führen können – wegen meiner Mutter gab es nie Streit. Das war auch ein großes Wunder.
Mein durch Hetzdorf begründetes tägliches „Hetzprogramm“ sah folgendermaßen aus: früh vier Stunden arbeiten, schnell ein Brötchen essen, eineinhalb Stunden Fahrt in die Klinik. Zwei Stunden Freude und Zuversicht geben. Wenig Reaktion von meinem Gegenüber. Eineinhalb Stunden Fahrt zurück. Haushalt, Einkauf, Erledigungen. Abendessen. Ins Bett fallen.
Eines Tages war es dann soweit. Sie lief inzwischen sicher mit dem Rollator im Haus und sollte entlassen werden. Ich musste mich bei der Sozialarbeiterin melden. „In vier Tagen wird ihre Mutter entlassen“, teilte sie mir mit. Vor der Entlassung bat die Sozialarbeiterin meine Mutter um eine Unterschrift für den Schwerbehindertenausweis. „Ohne meine Tochter unterschreibe ich nichts!“, äußerte meine Mutter. Die Sozialbearbeiterin musste lachen. „So etwas ist mir in all den Jahren auch noch nicht passiert. Aber gut, dann unterschreiben sie eben beide.“
Wie nah doch extreme Verhaltensweisen bei meiner Mutter zusammenlagen ...
Auf der jetzigen Station war alles etwas anders. Sie hatte ein hübsches Einzelzimmer, sogar mit Balkon und ich staunte, dass sie auch soweit damit zurechtkam, allein zu sein. Einen ganzen Tag allein war sie in gesunden Tagen eigentlich nie gewesen.
Doch es gab auch mehr Gefahrenquellen. Einmal versuchte die Gute wieder allein aufzustehen und sank dann am Spiegel zusammen. Es war nichts passiert, zum Glück. Beim Schlafen wurde am Pflegebett eine Seite hochgezogen und das Bett selbst wurde ca. 30 cm leicht schräg von der Wand positioniert. So entstand am Fußende eine kleine freie Stelle. Aufgrund ihres starken Willens rutschte meine Mutter so lange, bis sie aus dem Bett herauskam. Man mag es kaum glauben! Wie ein kleines Kind!
Das Essen wurde auf dieser Station in einer Nische am Ende des Flures eingenommen. Dort speisten ca. 15 Patienten. Sie bekamen das Essen fix und fertig vorbereitet und pflegerisch korrekt hingestellt. Wenn man das so sah und dann die anderen Patienten, die zum Teil mit Krücken und Gehhilfen im recht schönen Speisesaal ihre Mahlzeiten unter Kommunikation mit ihren Tischnachbarn einnahmen, musste ich leider wahrnehmen, dass meine Mutti doch (noch) weit davon entfernt war. Eigentlich bin ich ein genauer und tiefgründiger Mensch mit mittelschwerem Hang zum Perfektionismus. Für die Krankheit meiner Mutter und ihren weiteren Weg hatte ich aber wie ein Pferd Scheuklappen auf. Ich wollte es einfach nicht wahrhaben, dass meine geliebte Mutter ein Pflegefall war und verschloss mich dieser Realität.
Das Thema Pflegeheim kam von Anfang an nicht in Frage. Nie und nimmer hätte ich meine Mutter in ein Pflegeheim gegeben. Eine Mischung aus tiefer Liebe, „Du sollst Vater und Mutter ehren!“ und eigenem Stolz, die Herausforderungen zu schaffen, ließ den Gedanken nie aufkommen.
Schon zu Beginn des Aufenthalts in der Klinik wurden wir von der Stationsärztin angeregt, uns ab sofort Gedanken zu machen, ob wir es zu Hause schaffen könnten. Sie machte uns auch klar, dass eine Pflege eine drastische Einschränkung unseres Familienlebens darstellen würde. Mein Mann sagte sofort ein entschiedenes „Nein“ zur Option Pflegeheim und ich schloss mich ihm erleichtert an. Dafür war ich ihm unendlich dankbar.
Das große Band der Liebe hielt mich mit meiner Mutter fest zusammen. Heute nach fast neun Jahren ist vieles im Gesundheitswesen noch besser geworden. Außerdem sind meine eigenen Erfahrungen gereift. Es gibt nicht nur die Wahl zwischen Pflege-nur-zu-Hause und vollstationärer Pflege in einem Pflegeheim. Gerade am Anfang nach einem Krankenhaus- oder Rehaufenthalt ist eine Kurzzeit- oder Tagespflege ein guter Kompromiss, den wir später mit vielen guten Erfahrungen kennenlernen durften.
Wie bereits erwähnt war meine Mutter immer eine sehr hübsche und gepflegte Frau. Es störte mich nicht, dass ich etwas hinter ihr stand. Sie war sehr kommunikativ, beliebt und stand auch gerne mal im Mittelpunkt, jedoch auf eine angenehme Art und Weise. Nun war dieses Bild zerstört. Die Haare waren nicht mehr gefärbt, nur lediglich gekämmt. Durch den Sturz hatte man auch eine Stelle abrasiert, um klammern zu können. In der ersten Zeit nach der Operation wurde ihr Haar auch nicht gewaschen. Sie war ungeschminkt und trug legere Kleidung. Im Fahrstuhl der Reha-Klinik bemerkte sie aber, dass ihre Haare „wie Kraut und Rüben“ aussahen.
Also reiste ich am nächsten Tag mit Schere, Lockenwicklern und Fön an und zauberte als mobile Friseurin ihren Kopf zurecht. Sie wollte schließlich wieder schön sein. Leider fehlte die Farbe.
Nun wurde vieles besser. Der Stuhlgang wurde kontrollierter, die Inkontinenz ließ nach. Immer wenn ich dort war, trainierten wir selbständig zu sein und sie machte auch schön mit. Von der Ärztin und später vom Pflegepersonal hörte ich, dass sie gut händelbar sei. Also Kopf hoch, das schaffen wir!
Der Tag der endgültigen Entlassung aus der Reha rückte immer näher. Doch wie immer war ich voller Freude, sie wieder zu sehen und da kein Anruf gekommen war, ahnte ich nichts Böses. Sie war nicht auf dem Zimmer. Also musste sie noch beim Übungsprogramm sein. Ich wartete. Als das Übungsprogramm hätte zu Ende sein müssen und sie immer noch nicht da war, beschlich mich ein ungutes Gefühl. Also erkundigte ich mich, bei welcher Behandlung sie sich momentan befände. Dazu muss ich erklären, dass alle Patienten in ihrer Tasche am Rollstuhl oder Rollator einen Stundenplan bei sich führten. Darauf konnte man erkennen, welche Übung gerade auf dem Programm war. Balancetraining, Ergotherapie, Logopädie oder Gymnastik gehörten beispielsweise dazu. Es wurde in der Reha wirklich sehr viel getan, um zu retten, was zu retten war. Ich eilte also von Behandlungsraum zu Behandlungsraum. Nichts. Gleich hinter der Klinik begann der Tharandter Wald. Zitternd gab ich im Haus Bescheid, dass ich meine Mutter nicht mehr fände.
„Welche Kleidung trägt Frau Brückner?“
Es war noch immer April und dementsprechend nicht besonders warm. Eine Schwester meinte, am Horizont einen hellblauen Punkt – ihre Strickjacke – zu sehen. Meine Mutter trug fast nur pastellfarbene Jäckchen. Das ganze Haus wurde hektisch. Mittlerweile bekam auch der Chefarzt Wind von ihrem Verschwinden. Die halbe Mannschaft schwärmte aus. Ich wurde mit dem Hausmeister eingeteilt, zu dem hellblauen Punkt am Horizont zu fahren.
Dieser entpuppte sich jedoch als Mülltüte im Straßengraben. Weiter ging es für uns in den angrenzenden Wald. Wir ratterten über Stock und Stein. Mir blieb fast das Herz stehen. Drei Tage vor der Entlassung! Ich betete pausenlos. Ohne Erfolg ging es zurück in die Reha-Klinik. Dort ging es zu wie in einem Bienenstock. Alle waren in Aufruhr. Auf einmal hörte ich den erlösenden Ruf: „Da ist sie!“
Frau Brückner hatte sich irgendwie – wieso auch immer allein – mit dem Fahrstuhl verfahren und saß ganz ohne Begleitung im anderen Gebäude-Block auf der Veranda. Es gab in der Reha-Klinik vier Einheiten mit jeweils drei Stockwerken, die alle über eine große Veranda verfügten. Schnell eilte ich hin und murmelte tränenüberströmt: „Danke Herr!“
Auf meine Frage wieso und warum sie hier sitze, antwortete sie mir nüchtern: „Was soll der ganze Rummel? Ich schaue eben zum Fenster hinaus und genieße die Landschaft.“
Eine wirklich merkwürdige Reaktion war das. Aber ich ging nicht darauf ein und sagte mir: Alles wird gut. Allen Beteiligten fiel ein Stein vom Herzen und mir ganz besonders. Der große Tag war ganz nah...
Nun sollte es endlich nach Hause gehen. Noch einmal suchte ich den Stationsarzt auf. Er teilte mir mit, dass die Reha sehr erfolgreich verlaufen sei und meine Mutter – wie ich schon mehrfach gehört hatte – auch gut mitgemacht habe. Das freute mich sehr! Ich beschloss die Nacht vor der Entlassung gleich mit in der Reha-Klinik zu bleiben und meine Mutter mit dem Auto selbst nach Hause zu fahren.
In unserem Doppelhaus hatte meine Mutter die kleinere und zweckmäßigere Wohnung, wir die größere mit Kinderzimmer. Zum Glück befinden sich alle Wohnräume auf einer Ebene. Auf meine Frage nach einem Pflegebett, erhielt ich Antwort, dass dies mittels Rezept durch den Hausarzt zu bekommen sei. Durch die Beantragung der Pflegestufe 1 sei das alles kein Problem. Da ich auch im Rahmen der Reha mit angepackt hatte, sah ich kein Problem darin, sofort ohne Pflegedienst auszukommen.
Nun befand ich mich auf meiner letzten Anreise nach Hetzdorf. Der Tag der Entlassung war ein Freitag. Ich freute mich wirklich riesig und drückte und küsste meine Mutter, als ich sie sah. Am liebsten hätte ich mit ihr getanzt. Alles wird gut, alles wird so wie früher! Ihre Antwort auf meine überschwängliche Freude war nur sehr verhalten. Sie meinte nur nüchtern: „Na klar will ich nach Hause.“ Emotionen zeigte sie kaum. Ich bezahlte also meine Übernachtung und konnte in ihrem Zimmer in einem Ersatzbett schlafen. Ich war einfach glücklich! Als wir beide abends im Bett lagen, kam auch noch ihr „Lieblingspfleger Matthias“ auf einen kleinen Plausch dazu. Er kannte unsere Stadt durch einen Museumsbesuch und so hatten wir gleich einen guten Anknüpfungspunkt. Und er war Christ. Da waren wir sofort auf einer Wellenlänge. Meine Mutter beteiligte sich erstaunlich gut am Gespräch.
Ein guter Abschluss des Tages. Unser gemeinsames Leben 2.0 begann!
Obwohl ich deutlich gesagt hatte, dass nachts kein Rundgang nötig sei, flammte zweimal das Neon-Deckenlicht auf. Hilfe! Beim zweiten Mal wurden meiner Mutter plötzlich die weißen Thrombose-Strümpfe von den Beinen gezerrt. Draußen war es noch stockdunkel. Auf meine Frage, warum sie ab sofort keine mehr benötige, antwortete die Schwester nur kurz: „Die Strümpfe sind Eigentum der Klinik.“
Wenig später ging es dann ziemlich schnell. Meine Mutter wurde angezogen, gewaschen und bekam Frühstück auf der Station. Seit langem einmal wieder ohne Freizeitkleidung sah ich, wie dünn sie geworden war. Na egal, ich werde sie schon wieder aufpäppeln, sagte ich mir. Ich ging hungrig in den wunderschönen Speisesaal und freute mich auf ein leckeres Frühstück. Es roch jedoch nach Tee und Milch, leider nicht nach Kaffee.
Auf dem Buffet sah es ziemlich farblos aus. Quark pur, Joghurt pur, Buttermilch, heller Schnittkäse, ganz heller Schnittkäse und fahlrosa Kochwurst. Da entschied ich für mich, nur im äußersten Notfall zu einer Kur zu fahren. Dann erfolgte die Verabschiedung von der Stationsschwester und dem diensthabenden Personal. Wir bekamen noch Tabletten für zwei Tage mit und die Anweisung, gleich nach unserer Ankunft zum Hausarzt zu gehen. Straffer Zeitplan für einen Freitag! Mit dem Fahrstuhl ging es in das Erdgeschoss. Dann geschah das Unfassbare: meine Mutter stieß den Rollator von sich und hakte sich bei mir unter! Mein großes Ziel, die Klinik mit einem Rollator zu verlassen, wurde sogar noch übertroffen. Danke Herr!