Читать книгу Die große Reise - Evelyn Steiner - Страница 4
I.
ОглавлениеDie beiden Mädchen pressten sich angstvoll aneinander. "Schhh! Keine Sorge, hier finden sie uns nicht", versuchte die Ältere die Jüngere flüsternd zu beruhigen. Doch ihre zittrige Stimme verriet sie. Die andere schwieg, sie hatte bereits zu viel Grauen gesehen, um den Worten ihrer Schwester Glauben schenken zu können.
Ein ohrenbetäubender Knall ließ die beiden zusammenzucken. "Was wohl jetzt eingestürzt ist?", fragte die Jüngere schaudernd und brach in Tränen aus. "War das unser Haus?“
Die Ältere setzte zu einer Erwiderung an, doch dann blieben ihr die Worte im Hals stecken. Hierauf gab es nichts mehr zu sagen, denn ihre Schwester hatte wahrscheinlich Recht.
Plötzlich stockte beiden der Atem. Auf dem Treppenabgang der zum Keller hinabführte, hörten sie schwere Schritte. Und dann Stimmen. Sie waren tief, aber nicht vertraut hebräisch. Es hörte sich vielmehr an wie Latein. Soldaten! Sie hatten in ihrem jungen Alter schon genug gesehen und gehört, um zu wissen, was das bedeutete. Sie hielten den Atem an und rutschten noch ein Stück tiefer hinter die großen, leeren Steinkrüge.
Die Männer waren nun unten angekommen, einer musste eine Fackel tragen, da die stockdunkle Finsternis von einem schwachen Schein erleuchtet wurde. Der eine rief dem anderen etwas Unverständliches zu, dieser lachte. Nun kamen die Schritte immer näher. Nur die Amphoren und die Dunkelheit schützten die Mädchen noch.
Dann kam ein leises Kratzen aus einer Ecke. Es musste eine Maus sein, die auch hier Schutz gesucht hatte. Der eine Soldat rief: "Mus!" Er lachte und Schritte entfernten sich. Doch der andere mit der Fackel war noch nicht fertig. "Mane!", rief er. Plötzlich fiel der Lichtschein geradewegs in die blassen Gesichter der beiden Mädchen.
"Ha!", schrie der Mann auf und der zweite war sofort zur Stelle. Er stieß einen aufgeregten Redeschwall aus, bis der andere ihn zurechtwies. Dann kamen sie grinsend auf die verängstigten Mädchen zu.
"Surge!", brüllte der Soldat und riss das eine Mädchen hoch. Der andere Soldat hatte seine Schwester schon gepackt. Er ignorierte ihr Schreien und Herumschlagen und ging mit ihr auf den Aufgang zu. Bald folgte ihm auch der andere mit seiner um sich tretenden Last über der Schulter.
In einem leerstehenden Gebäude wurden alle Juden, die gefangen genommen worden waren, zusammengepfercht. Es war heiß und stickig. Manche weinten leise, andere klagten laut oder schrien die Soldaten an. Babys brüllten, Kinder wimmerten und Verletzte stöhnten.
Hannah und Rahel hielten sich fest umschlungen, um in dem Tumult nicht voneinander getrennt zu werden. Nach einigem Zappeln und Schreien hatten sie bemerkt, dass es keinen Sinn machte, sich mit den Soldaten anzulegen. Auch bitten und betteln hatte ihnen nicht geholfen. Sie waren zu dem Haus gebracht worden, in dem alle Gefangenen eingesperrt wurden.
„Was wird nun mit uns geschehen?“, fragte Rahel nach einer langen Zeit des Schweigens. Sie hatten eine Ecke gefunden, in die sie sich quetschen konnten. So saßen sie nun mit dem Rücken an die kalte Steinmauer gelehnt. Rund um sie waren die anderen Menschen, ausgehungerte Elendsgestalten allesamt, viele davon ohne Familie und ohne Hoffnung. Viele leere Augen blickten ins Nichts. Knochige Gestalten, die ihre Arme um sich geschlungen hatten, schaukelten mit dem Oberkörper apathisch vor und zurück.
„Ich weiß es auch nicht“, erwiderte Hannah nach einer langen Pause. Sollte sie Rahel sagen, dass sie nun wahrscheinlich getötet oder in die Sklaverei verkauft werden würden? Sollte sie Rahel sagen, dass sie womöglich getrennt werden würden und dann völlig allein dastanden? Sollte sie Rahel sagen, was die Soldaten vielleicht mit ihnen anstellen würden? Nein, Rahel konnte sich das alles auch selbst denken. So traurig es auch war, dass ihre kleine Schwester mit ihren zwölf Jahren das alles schon mitbekommen musste. Als Hannah selbst so jung gewesen war, war die Welt noch in Ordnung gewesen, zumindest hatte es den Anschein gehabt. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, dass das erst drei Jahre her war. Das alles war so furchtbar, es kam ihr wie eine Ewigkeit vor.
Auf einmal waren mehr und mehr römische Soldaten in Jerusalem aufgetaucht. Jüdische Freiheitskämpfer, Zeloten und Sikarier, hatten Anschläge auf Befehlshaber und Offiziere der Römer verübt. Deshalb gingen die Römer schließlich vermehrt gegen diese Aufständischen vor. Der Hass, der schon jahrelang unterschwellig gegärt hatte, brach an die Oberfläche.
Hannah war damals noch viel zu jung und naiv gewesen, um verstehen zu können, was da vor sich ging. Sie hatte so getan, als ob keine Soldaten in den Straßen patrouillierten. Sie hatte so getan, als sei sie nicht hungrig, wenn einmal nicht genug zu essen da war. Und sie hatte mit aller Macht versucht, Rahel vor dem zu beschützen, was da draußen vor sich ging.
Doch eines Tages, vor etwa einem Jahr, hatte sie sich nicht mehr vor dem Krieg, der in Jerusalem herrschte, verstecken können. Es war der Tag gewesen, an dem ihr Vater ihren großen Bruder nach Hause trug. Er war tot. Nathanael hatte nur Brot kaufen wollen und war in einen Straßenkampf geraten. Ein Stein hatte ihn an der Schläfe getroffen, er war sofort tot gewesen. Ihre Mutter hatte nicht mehr zu weinen aufhören können. Tagelang, ohne Pause. Als sie sich endlich wieder gefasst hatte, wurde sie krank. Sie bekam sehr hohes Fieber und steckte damit ihr jüngstes Kind an. Die fünfjährige Mirjam war schon nach einigen Tagen gestorben, die Mutter folgte ihr wenig später.
Nach diesen Ereignissen gab es kein Lachen mehr im Haus von Jacob ben Ivo. Hannah und Rahel waren mit ihrem Vater allein. Jacob konnte seiner Arbeit als Tuchhändler nicht mehr nachgehen, weil sein Geschäft zerstört worden und die Lagerhalle mit seinen Waren abgebrannt war. Doch das bereitete ihm weniger Kopfzerbrechen, seine einzige Sorgen galt seinen beiden Mädchen und wie er Nahrung für sie auftreiben könnte. Auch hatte er sich Gedanken gemacht, wie sie aus der Stadt flüchten könnten. Doch es hatte keinen Weg gegeben.
So bedrückt die Stimmung auch gewesen war und so aussichtslos die Situation, der Vater hatte nie versäumt, sich mit seinen Töchtern zum Gebet zu versammeln. Manchmal waren auch andere dabei anwesend, die ihren Glauben teilten, doch meistens waren sie nur zu dritt. Jacob ben Ivo mochte zwar voll Sorge gewesen sein, so war er doch auch voller Hoffnung. „Der Herr wird uns retten!“, pflegte er zu sagen, „Ob so oder anders, das steht nicht in unserer Macht. Wir müssen Ihm nur vertrauen.“
Dieses Vertrauen wurde oftmals auf eine harte Probe gestellt. Wenn die Mädchen vor Angst nicht schlafen konnten, weil ununterbrochen die eisenbeschlagenen Schuhe der Soldaten über die Straßen klapperten. Wenn der Vater wieder einmal ohne ein einziges Stück Brot heimgekommen war und der Bauch vor Hunger schmerzte. Wenn sie die Trauer über den Verlust von Mutter, Bruder und Schwester einholte.
Dann kam eines Tages der Vater nicht mehr nach Hause. Tagelang warteten sie vergeblich auf ihn. Jacob ben Ivo war entweder gefangen genommen worden oder gestorben. Als den Mädchen das klar wurde, verkrochen sie sich vor Angst im Keller.
Doch selbst in ihrer Verzweiflung sagten sie einander immer wieder vor, was sie gelernt hatten und fest glaubten:
Der Herr ist mein Hirte;
Nichts wird mir fehlen.
Der Herr lässt mich lagern auf grünen Auen.
Und weiter:
Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht,
ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir.