Читать книгу Mystik - Evelyn Underhill - Страница 6
Erstes Kapitel.
Der Ausgangspunkt
ОглавлениеDie am höchsten entwickelten Zweige der Menschheitsfamilie haben eine besondere Eigentümlichkeit gemeinsam. Sie sind bestrebt – zwar sporadisch und widrigen äußern Umständen zum Trotz –, einen merkwürdigen und scharf ausgeprägten Persönlichkeitstypus hervorzubringen, einen Typus, der sich nicht mit dem begnügt, was andere Menschen Erfahrung nennen, und der, um mit den Worten seiner Feinde zu reden, geneigt ist, »die Welt zu verleugnen, um die Wirklichkeit zu finden«. Wir begegnen diesen Menschen im Osten und im Westen, in der Welt der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit. Ihre einzige Leidenschaft scheint die Verfolgung eines bestimmten geistlichen und ungreifbaren Zieles zu sein, das Suchen nach einem Ausweg oder Rückweg zu irgendeinem wünschenswerten Zustande, in dem allein ihre Sehnsucht nach absoluter Wahrheit befriedigt werden kann. Dies Streben macht für sie den ganzen Sinn des Lebens aus; ohne Kampf haben sie ihm Opfer gebracht, die andern Menschen ungeheuer erschienen, und es ist ein indirektes Zeugnis für seine objektive Wirklichkeit, daß ihre Ziele, Lehren und Methoden in allen Ländern und Zeiten, wo immer sie aufgetreten sind, dem Wesen nach dieselben waren. Ihre Erfahrungen bilden daher ein merkwürdig übereinstimmendes und sich oft gegenseitig erläuterndes Beweismaterial, das wir in Rechnung stellen müssen, bevor wir die Kräfte und Möglichkeiten des menschlichen Geistes summieren oder über seine Beziehungen zu der unbekannten Welt jenseits der Grenzen unserer sinnlichen Wahrnehmung vernünftig philosophieren können.
Alle Menschen verlieben sich zu irgendeiner Zeit ihres Lebens in die verschleierte Gottheit, die sie »Wahrheit« nennen. Bei den meisten ist dies nur eine vorübergehende Leidenschaft, sie sehen früh deren Hoffnungslosigkeit ein und wenden sich praktischeren Dingen zu. Aber es gibt andere, die ihr ganzes Leben lang hingebungsvolle Liebhaber der Wahrheit bleiben, wenn auch die Art ihrer Liebe, das Bild, das sie sich von dem geliebten Gegenstande machen, ungeheuer verschieden ist. Einige sehen die Wahrheit, wie Dante Beatrice sah: als eine anbetungswürdige, doch unberührbare Gestalt, die uns zwar in dieser Welt begegnet, doch nur, um uns die jenseitige zu offenbaren. Andern erscheint sie vielmehr als eine böse, doch unwiderstehliche Zauberin, die ihren Liebhaber verlockt, Opfer auf Opfer von ihm fordert und ihn schließlich verrät. Einige erblicken sie in einem Probierglase und andere in einem Dichtertraum; einige vor dem Altar und andere im Schlamm. Die extremen Pragmatisten suchen sie sogar in der Küche, indem sie behaupten, daß man sie am besten an ihrem Nutzen erkennt. Der Skeptiker endlich tröstet sich für sein erfolgloses Streben, indem er sagt, daß seine Herrin in Wirklichkeit gar nicht existiert.
Unter welchen Symbolen diese Sucher auch ihr Ideal dargestellt haben, keiner von ihnen hat je der Welt versichern können, er habe die Wirklichkeit hinter dem Schleier gefunden, habe sie von Angesicht zu Angesicht geschaut. Doch wenn wir den Berichten der Mystiker glauben können – und diese Berichte haben einen eigenen Ton innerer Gewißheit –, so ist ihnen gelungen, was all jenen andern mißlang: eine unmittelbare Verbindung herzustellen zwischen dem in materiellen Dingen verstrickten Geist des Menschen und jener »einzigen Wirklichkeit«, jenem immateriellen und letzten Sein, das die Philosophen das Absolute und die meisten Theologen Gott nennen. Dies, sagen sie – und hierin stimmen viele, die nicht Mystiker sind, mit ihnen überein –, ist die verborgene Wahrheit, die der Gegenstand der menschlichen Sehnsucht ist, das einzig befriedigende Ziel seines Strebens. Daher sollten wir ihnen dieselbe Aufmerksamkeit schenken wie andern Erforschern von Ländern, in die wir uns nicht selbst wagen können; denn die Mystiker sind die Pioniere der Geisteswelt, und wir haben kein Recht, ihren Entdeckungen die Gültigkeit abzusprechen, nur weil es uns an Gelegenheit oder an dem nötigen Mut fehlt, selbst solche Forschungen anzustellen.
Es ist der Zweck dieses Buches, eine Beschreibung und auch – obgleich dies für solche, die diese Beschreibung in gutem Glauben lesen, überflüssig ist – eine Rechtfertigung jener Erfahrungen und der Schlüsse, die man daraus gezogen hat, zu versuchen. So fern liegen jedoch alle diese Dinge unserm gewohnten Denken, daß es zu ihrer Erforschung einer gewissen Vorbereitung, einer Läuterung des Intellekts bedarf. Wie bei jenen, die in früheren Zeiten zu den Mysterien zugelassen wurden, ist Läuterung hier das Tor der Erkenntnis. Wir müssen uns mit einem von Vorurteilen und Konventionen gereinigten Geiste zu dieser Begegnung einstellen; wir müssen mit der eingewurzelten Denkgewohnheit, die sichtbare Welt als gegeben zu nehmen, mit der trägen Voraussetzung, daß die Naturwissenschaft »wirklich« ist und die Metaphysik nicht, entschlossen brechen. Wir müssen unsere selbstgebauten Kartenhäuser einreißen – müssen, wie die Mystiker sagen, in unser Nichts hinabsteigen – und für uns selbst die Grundlagen aller möglichen menschlichen Erfahrung prüfen, bevor wir in der Lage sind, die Gebäude der Visionäre, der Dichter und der Heiligen zu kritisieren. Wir dürfen nicht von vornherein von der unwirklichen Welt dieser Träumer reden, bevor wir – wenn wir dies können – eine wirkliche Welt entdeckt haben, mit der wir jene vergleichen.
Eine solche Kritik der Wirklichkeit ist natürlich die Aufgabe der Philosophie. Ich brauche kaum zu sagen, daß dies Buch nicht von einem Philosophen geschrieben ist; auch will es sich nicht an die Jünger dieser königlichen Wissenschaft wenden. Trotzdem können wir auch als bloße Dilettanten nicht zu unserm richtigen Ausgangspunkt gelangen, ohne irgendwie philosophisches Gebiet zu betreten. Denn dies Gebiet schließt den ganzen Bezirk der Grundprinzipien ein, und auf diese Grundprinzipien müssen wir zurückgehen, wenn wir die wahre Bedeutung des mystischen Typus verstehen wollen.
Beginnen wir also mit dem Anfang und erinnern wir uns an einige geläufige elementare Tatsachen, um die sich alle praktischen Leute nicht bekümmern. Dieser Anfang für das menschliche Denken ist natürlich das Ich, das Ego, das sich seiner selbst bewußte Subjekt, das dies Buch schreibt, oder das andere mit Selbstbewußtsein ausgestattete Subjekt, das es liest; dies Ich, das allen Gegenargumenten zum Trotz erklärt: Ich bin 1. Hier ist ein Punkt, in dem wir uns alle ganz sicher fühlen. Noch kein Philosoph hat den Glauben des gewöhnlichen Individuums an seine eigene Existenz erschüttern können. Die Ungewißheit beginnt für die meisten von uns erst, wenn wir fragen, was außer uns ist.
Diesem Ich, diesem bewußten Subjekt, das in seinem Leibe eingekerkert ist wie die Auster in ihrer Schale 2, fließt, wie wir wissen, ein unaufhörlicher Strom von Botschaften und Erfahrungen zu. Die hauptsächlichsten unter diesen sind Reizungen der Gefühlsnerven, deren Resultat wir Gefühl nennen, die Schwingungen, die der Sehnerv aufnimmt, die wir Licht nennen, und die, die das Ohr aufnimmt und die wir als Schall wahrnehmen.
Was bedeuten diese Erfahrungen? Die erste Antwort des unverbildeten Menschen ist natürlich, daß sie die Natur der Außenwelt anzeigen; das Zeugnis seiner Sinne befragt er, wenn er sagen soll, wie diese Welt beschaffen ist. Aus den Botschaften, die er durch seine Sinne empfängt, die sich ihm aufdrängen, ob er will oder nicht, und die in jedem Augenblick und von jeder Seite an seine Tore klopfen, baut er sich jene »Sinnenwelt« auf, die »die wirkliche und solide Welt« des Normalmenschen ist. So wie die Eindrücke kommen – oder vielmehr die Deutungen der ursprünglichen Eindrücke, die sein Nervensystem ihm vermittelt –, greift er nach ihnen, wie Spieler beim Buchstabenspiel nach den einzelnen Buchstaben greifen, die ihnen zugeteilt werden. Er sortiert, nimmt auf, wirft beiseite, fügt zusammen und bringt dann triumphierend aus ihnen eine Konzeption zustande, die nach seiner Behauptung die Außenwelt ist. Mit einer beneidenswerten und erstaunlichen Naivität legt er seine eigenen Empfindungen dem unbekannten Universum bei. Die Sterne, sagt er, sind glänzend; das Gras ist grün. Für ihn, wie für den Philosophen Hume, besteht die Wirklichkeit »aus Eindrücken und Vorstellungen«.
Es ist jedoch unmittelbar einleuchtend, daß diese Sinnenwelt, diese scheinbar wirkliche Außenwelt – so nützlich und gültig sie auch in anderer Beziehung sein mag – nicht die Außenwelt sein kann, sondern nur ihr auf das Selbst projiziertes Bild 3. Es ist ein Kunstwerk, keine wissenschaftliche Tatsache; und wenngleich es wohl die tiefe Bedeutung besitzen mag, die großen Kunstwerken eigen ist, so ist es doch gefährlich, es zum Gegenstand der Analyse zu machen. Eine flüchtige Prüfung genügt, um uns zu sagen, daß es ein Bild ist, dessen Beziehung zur Wirklichkeit im besten Falle symbolisch und approximativ ist und das keine Bedeutung haben würde für Wesen, deren Sinne oder Aufnahmeorgane nach anderm Plane eingerichtet wären. Das Zeugnis der Sinne kann also nicht mit Sicherheit als Zeugnis von dem Wesen der endgültigen Wirklichkeit akzeptiert werden; sie sind nützliche Diener, aber gefährliche Führer. Auch kann ihr Zeugnis jene Sucher nicht verwirren, deren Berichten sie zu widersprechen scheinen.
Das bewußte Selbst sitzt sozusagen an der Empfangsstation eines Telegraphen. Nach jeder andern Theorie als der der Mystik ist dieser Telegraph die einzige Verbindung mit der hypothetischen »Außenwelt«. Der Aufnahmeapparat verzeichnet gewisse Nachrichten. Das Selbst kennt den Gegenstand, die Wirklichkeit am andern Ende des Drahtes, von der jene Nachrichten ausgehen, nicht und kann ihn nicht kennen, solange es von diesem Apparat abhängig ist; ebensowenig können die Nachrichten das Wesen des Gegenstandes wirklich offenbaren. Doch ist es im ganzen gerechtfertigt, wenn es sie als Beweise hinnimmt, daß außer ihm und seinem Aufnahmeapparat noch etwas existiert. Es ist augenscheinlich, daß die besondere Bauart des telegraphischen Apparats einen modifizierenden Einfluß auf die Nachricht haben muß. Was als Strich und Punkt, als Farbe und Form aufgenommen wird, wurde vielleicht in ganz verschiedener Gestalt aufgegeben. Daher kann eine solche Nachricht, wenn sie auch in gewissem Sinne der mutmaßlichen Wirklichkeit am andern Ende entsprechen mag, ihr niemals vollständig adäquat sein. Es wird feine Schwingungen geben, die der Apparat nicht aufnimmt, und andere, die er verwischt. Daher geht immer ein Teil der Nachricht verloren, oder, mit andern Worten, es gibt Seiten der Welt, von denen wir nie etwas wissen können.
So wird die Sphäre unserer verstandesmäßigen Erkenntnismöglichkeiten genau bestimmt durch die Grenzen unserer eigenen Persönlichkeit. Auf dieser Grundlage sind nicht die Enden der Erde, sondern die äußeren Enden unserer Gefühlsnerven die Grenzen unserer Forschungen, und »sich selbst kennen« heißt in Wirklichkeit sein eigenes Universum kennen. Wir sind mit unsern Aufnahmeapparaten eingeschlossen, wir können nicht aufstehen und fortgehen, um zu sehen, wohin jene Drähte führen. Eckeharts Ausspruch: »Nie nähert sich die Seele einer Kreatur, wenn sie nicht zuvor ein Bild davon willig in sich aufgenommen hat 4«, ist immer noch das letzte Wort für uns. Sollte irgendein mutwilliger Demiurg sich einfallen lassen, den Apparat unserer Sinne auf eine neue Art zu reizen, so würden wir dadurch ein neues Universum empfangen.
Der verstorbene Professor James meinte einmal, es würde eine sehr nützliche Übung für junge Idealisten sein, wenn sie sich klarmachten, welche Veränderungen in unserer Welt vor sich gehen würden, wenn die verschiedenen Abteilungen unseres Aufnahmeapparates zufällig ihre Aufgaben vertauschten, wenn wir z. B. alle Farben hörten und alle Töne sähen. Eine solche Bemerkung wirft ein plötzliches Licht auf die seltsame und scheinbar verrückte Behauptung des Visionärs Saint-Martin: »Ich hörte Blumen, die klangen, und sah Töne, die leuchteten«, und auf die Berichte gewisser anderer Mystiker über einen ganz eigenen Bewußtseinszustand, wo alle Sinne in einer einzigen unaussprechlichen Wahrnehmung verschmelzen und Klang und Farbe als eins empfunden werden 5.
Alles dies ist weniger absurd, als es klingt, wenn man bedenkt, daß die Musik nur die Interpretation gewisser Schwingungen durch das Ohr, die Farbe eine Interpretation anderer Schwingungen durch das Auge ist. Sollte solch eine Veränderung unserer Sinne stattfinden, so würde die Welt uns dieselben Botschaften senden – diese fremde, unbekannte Welt, von der wir nach solcher Voraussetzung hermetisch abgeschlossen sind –, aber sie würden uns auf andere Weise gedeutet werden. Die Schönheit würde auch dann zu uns kommen, wenn sie auch eine andere Sprache spräche. Der Gesang des Vogels würde als Farbenschauspiel auf unsere Netzhaut fallen, wir würden all die Zaubertöne des Windes sehen, würden das in mannigfachen Abschattungen wiederkehrende Grün des Waldes, die Farbenfolgen des Gewitterhimmels als eine große Fuge hören. Wenn wir uns einmal klarmachten, einer wie geringen Umstellung unserer Organe es nur bedarf, um uns in eine ganz andere Welt zu versetzen, so würden wir nicht so geringschätzig über jene Mystiker lächeln, die uns sagen, daß sie das Absolute als »himmlische Musik« oder »unerschaffenes Licht« wahrnehmen; wir würden weniger fanatisch sein in unserm Entschluß, die »wirkliche und solide Welt des gesunden Menschenverstandes« zum einzigen Maßstab der Wirklichkeit zu machen. Diese Welt des gesunden Menschenverstandes ist eine Begriffswelt. Kann sein, daß sie ein Universum außer uns darstellt; sicher stellt sie die Tätigkeit des menschlichen Geistes dar. Innerhalb dieses Geistes ist sie aufgebaut, und die meisten von uns sind zufrieden, wenn sie »für immer dort in Ruhe wohnen können«, wie die Seele im »Palast der Kunst«.
So erscheint also für ein normales, nicht mystisches Bewußtsein eine unmittelbare Berührung mit der absoluten Wahrheit unmöglich. Wir können nicht das wirkliche Wesen des einfachsten Gegenstandes erkennen, ja, nicht einmal seine Existenz beweisen, obgleich sehr wenig Menschen sich dieser Begrenzung wirklich bewußt sind und die meisten sie energisch leugnen würden. Doch es gibt im Menschengeschlecht einen Persönlichkeitstypus, der diese Begrenzung wirklich erkennt und der in den Scheinwirklichkeiten, die die Welt der Normalmenschen ausmachen, kein Genüge finden kann. Diese Menschen haben offenbar das Bedürfnis, sich zu ihrem Trost irgendein Bild von dem Etwas oder Nichts zu machen, das am andern Ende ihrer Telegraphendrähte sitzt, irgendeine »Vorstellung vom Sein«, irgendeine »Erkenntnistheorie«. Ihnen ist das Unerkennbare eine Qual, sie lechzen nach Grundprinzipien, suchen irgendeinen Hintergrund für das Schattenspiel der Dinge. Menschen, die mit dieser Anlage behaftet sind, hungern nach Wirklichkeit, und sie müssen diesen Hunger stillen, so gut sie können, sich gegen den Hungertod wehren, wenn sie auch vielleicht niemals gesättigt werden.
Nun ist es zweifelhaft, ob jemals zwei Menschen sich genau dasselbe Bild von der Wahrheit außerhalb ihrer Tore gemacht haben; denn eine lebendige Metaphysik ist wie eine lebendige Religion im Grunde eine streng persönliche Angelegenheit, ist, wie Professor James uns zu bedenken gibt, mehr eine Sache der Intuition als des Beweises 6. Dennoch kann eine solche lebendige Metaphysik dem Vorwurf des Subjektivismus entgehen – und wenn sie gesund ist, so tut sie es auch im allgemeinen –, wenn sie sich äußerlich einer bestehenden Schule anschließt, wie jede persönliche Religion sich äußerlich einer bestehenden Kirche anschließen kann und anschließen sollte. Werfen wir also einen kurzen Blick auf die Resultate, die diese bestehenden Schulen gezeitigt haben: die großen klassischen Theorien über das Wesen der Wirklichkeit. In ihnen sehen wir gleichsam das Beste kristallisiert, das der menschliche Verstand aus sich heraus zu vollbringen imstande war.
1. Die nächstliegende und am allgemeinsten angenommene Erklärung der Welt ist natürlich der Naturalismus oder Realismus, der sowohl den Standpunkt des einfachen Durchschnittsmenschen wie den der Naturwissenschaft ausmacht. Der Naturalismus stellt einfach fest, daß das, was wir sehen, die wirkliche Welt ist, wenn wir sie auch nur unvollkommen sehen. Was für den normalen, gesunden Menschen da zu sein scheint, ist so ungefähr auch da. Der Naturalismus rühmt sich, sich an das Konkrete zu halten, für ihn sind die materiellen Dinge Wirklichkeit. Mit andern Worten: unsere berichtigten und zueinander in Beziehung gesetzten Sinneswahrnehmungen, zu ihrer höchsten Leistung gesteigert, bilden für ihn das einzig gültige Erkenntnismaterial, indem die Erkenntnisse selbst die klassifizierten Resultate exakter Beobachtung sind.
Nun mag wohl eine solche Haltung ein Rat der Klugheit sein in Anbetracht unserer Unwissenheit gegenüber all den Dingen, die außerhalb unseres Erfahrungsgebietes liegen, aber sie kann unsern Hunger nach Wirklichkeit nicht befriedigen. Der eigentliche Sinn ihrer Lehre ist: »Das Zimmer, in dem wir uns befinden, ist ganz behaglich. Zieht die Vorhänge zu, denn die Nacht ist dunkel, und laßt uns unsere Aufmerksamkeit der Einrichtung zuwenden.« Leider paßt sich nun aber nicht einmal die Einrichtung dem naturalistischen Standpunkt an. Beginnen wir einmal, sie aufmerksam zu prüfen, so finden wir, daß sie voll Wunder und Geheimnis ist; sie verkündet laut, daß selbst Stühle und Tische nicht das sind, was sie scheinen.
Wir haben gesehen, daß schon die elementarste Kritik, die man auf irgendeinen gewöhnlichen Wahrnehmungsgegenstand anwendet, den einfachen und bequemen Glauben an den gesunden Menschenverstand entkräftet; daß nicht nur Glaube, sondern grobe Leichtgläubigkeit dazu gehört, um das Augenscheinliche für das Wirkliche zu nehmen. Ich sage z. B., daß ich ein Haus »sehe«. Ich kann damit nur meinen, daß der Teil meines Aufnahmeapparates, der die Aufgabe des Sehens übernommen hat, in einer bestimmten Weise affiziert wird und in meinem Geiste die Vorstellung »Haus« weckt. Diese Vorstellung »Haus« nehme ich nun als wirkliches Haus, und meine weiteren Beobachtungen entfalten, bereichern und bestimmen dies Bild immer weiter. Aber was die äußere Wirklichkeit ist, die das Bild, das ich Haus nenne, hervorrief, das weiß ich nicht und kann ich nie wissen. Sie ist ebenso geheimnisvoll, ebenso weit jenseits meines Fassungsvermögens wie die Beschaffenheit der Engelschöre. Das Bewußtsein fährt bei der Berührung mit dem mächtigen Verb »sein« erschrocken zurück. Ich kann natürlich für den einen Sinn das Zeugnis eines andern zur »Bestätigung«, wie wir es vertrauensvoll nennen, aufrufen; ich kann mich dem Hause nähern und es berühren. Dann werden die Nerven meiner Hand einen Gefühlseindruck erhalten, den ich als Härte oder Festigkeit bezeichne, das Auge wird eine eigenartige und ganz unbegreifliche Empfindung haben, die man Röte nennt, und aus diesen rein persönlichen Eindrücken konstruiert und objektiviert mein Geist eine Vorstellung, die er rote Ziegel nennt. Die Naturwissenschaft selbst jedoch, wenn sie aufgerufen wird, die Wirklichkeit dieser Wahrnehmungen zu bestätigen, erklärt sogleich, daß zwar die materielle Welt wirklich, die Vorstellungen von Festigkeit und Farbe jedoch Halluzinationen seien. Sie gehören dem menschlichen Organismus an, nicht dem physikalischen Universum, der Akzidenz, nicht der Substanz, wie die scholastische Philosophie sagen würde.
»Der rote Ziegel«, sagt die Naturwissenschaft, »ist eine bloße Konvention. In Wirklichkeit besteht dies Stückchen Weltall, wie alle andern Stücke, soviel ich bis jetzt weiß, aus unzähligen Atomen, die umeinander wirbeln und tanzen. Es ist ebensowenig fest wie ein Schneesturm. Gäbe Alice im Wunderlande 7 uns von ihrem Pilz zu essen und schrumpften wir auf die Dimensionen der Tiefenwelt zusammen, so erschiene uns jedes Atom als ein Planet und der rote Ziegel selbst als ein Weltall. Und weiter, auch diese Atome selbst entgleiten mir, wenn ich sie zu fassen suche. Es sind nur Manifestationen von etwas anderm. Könnte ich der Materie auf den Grund gehen, so würde ich möglicherweise entdecken, daß sie keine Ausdehnung hat, und wider Willen ein Idealist werden. Und was die sogenannte rote Farbe anbetrifft, so ist dies eine Frage der Beziehung zwischen dem Sehnerv und den Lichtwellen, die er nicht aufzunehmen vermag. Wenn heute abend die Sonne untergeht, wird unser Ziegel wahrscheinlich purpurn erscheinen, eine kleine Abweichung vom normalen Sehen würde ihn grün machen. Sogar das Gefühl, daß der Gegenstand unserer Wahrnehmung ein äußerer ist, kann Täuschung sein, da wir diese Eigenschaft ebensowohl den Bildern zuschreiben, die wir im Traum oder in wachen Halluzinationen sehen, wie den Gegenständen, von denen wir törichterweise sagen, daß sie »wirklich da sind«.
Ferner gibt es keinen zuverlässigen Maßstab, nach dem wir unterscheiden können, was an den Erscheinungen wirklich und was unwirklich ist. Die Maßstäbe, die wir haben, sind rein konventionell und dienen der Bequemlichkeit, aber nicht der Wahrheit. Es ist kein Beweisgrund, wenn man sagt, daß die meisten Menschen die Welt in ungefähr der gleichen Weise sehen, und daß diese der wahre Maßstab der Wirklichkeit sei; wenn wir auch aus praktischen Gründen dahin übereingekommen sind, daß »einen gesunden Verstand haben« heißt »die Halluzinationen unserer Nachbarn teilen«. Wer ehrlich gegen sich selbst ist, weiß, daß dies »Teilen« im besten Falle recht unvollkommen ist. Indem wir freiwillig ein neues Weltbild annehmen, für das alte Morsesche Alphabet ein neues einsetzen – ein Verfahren, das wir als Erwerbung von Kenntnissen bezeichnen –, können wir unsere Art, die Dinge zu sehen, beträchtlich ändern, und wir tun es auch: wir bauen aus alten Sinneseindrücken neue Welten auf und verwandeln die Gegenstände leichter und gründlicher als irgendein Zauberer. »Augen und Ohren«, sagt Heraklit, »sind schlechte Zeugen den Menschen, die eine barbarische Seele haben 8«, und selbst die, deren Seele höher entwickelt ist, sind geneigt, alles durch ein Temperament zu sehen und zu hören. In ein und demselben Himmel entdeckt vielleicht der Dichter den Wohnsitz der Engel und der Seemann nur die Ankündigung stürmischen Wetters. So leben Künstler und Arzt, Christ und Rationalist, Pessimist und Optimist wirklich und tatsächlich in verschiedenen und sich einander ausschließenden Welten, nicht nur Gedankenwelten, sondern auch Wahrnehmungswelten. Jeder, um mit Professor James zu sprechen, halbiert das Weltall an einer andern Stelle. Nur der glückliche Umstand, daß unsere gewöhnliche Rede konventionell und nicht realistisch ist, erlaubt uns, die einzigartige und einsame Welt, in der jeder lebt, vor dem andern zu verbergen. Hin und wieder wird ein Künstler geboren, der sich nicht abhalten läßt, mit furchtbarer Deutlichkeit und törichter Wahrhaftigkeit »zu sagen, was er sieht«. Dann stimmen die andern Menschen, die warm eingehüllt in ihrem künstlichen Weltall sich wohl fühlen, darin überein, daß er verrückt ist, oder im besten Falle nennen sie ihn »einen außerordentlich phantasievollen Burschen«.
Nun ist aber auch diese einzigartige Welt des Individuums nicht dauernd. In dem Maße, wie wir wachsen und uns wandeln, arbeitet jeder von uns unablässig und unwillkürlich an der Erneuerung unserer Sinnenwelt. Wir sehen in jedem einzelnen Augenblick nicht »das, was ist«, sondern »das, was wir sind«, und unsere Persönlichkeit erfährt auf ihrem Wege von ihrer Geburt über die Reife zum Tode viele Zurechtrückungen. Der Geist, der nach Wahrheit sucht, ist also in dieser wandelbaren und subjektiven »natürlichen« Welt mit Notwendigkeit auf sich selbst angewiesen, auf Bilder und Begriffe, die mehr vom »Beschauer« als vom »Geschauten« haben. Doch die Wirklichkeit muß, wenn sie einmal entdeckt ist, für alle wirklich sein, muß an sich selbst existieren auf einer Ebene, wo sie nicht mehr durch den wahrnehmenden Geist bedingt wird. Nur so kann sie den wesentlichsten Trieb, die heiligste Leidenschaft des Geistes befriedigen: den Trieb zum Absoluten, seine Leidenschaft für die Wahrheit.
Ich will mit diesen althergebrachten und elementaren Sätzen nicht sagen, daß man nun die Tafel der normalen menschlichen Erfahrung ablöschen und zum intellektuellen Nihilismus übergehen solle. Man soll nur zugeben, daß es nur eine Schiefertafel ist, und daß die weißen Striche darauf, die der gewöhnliche Mensch Tatsachen und der wissenschaftliche Realist Erkenntnisse nennt, höchstens vereinbarte und relativ gültige Symbole für diejenigen Erscheinungen der unerkennbaren Wirklichkeit sind, die sie andeuten. Wenn dem so ist, können wir, da wir doch alle irgendein Bild auf unsere Tafel zeichnen und demgemäß handeln müssen, zwar vielleicht den Nutzen, aber nicht die Geltung der Bilder leugnen, die andere hervorbringen, wie abnorm und unmöglich sie uns auch vorkommen mögen, da diese andern ein Bild der Wirklichkeit zeichnen, das nicht in unser Wahrnehmungsfeld getreten ist und also keinen Teil unserer Welt bilden kann. Doch wie der Theologe behauptet, daß die Trinitätslehre nicht drei, sondern Einen verhüllt und offenbart, so deuten auch die verschiedenen Erscheinungen, unter denen sich das Weltall dem wahrnehmenden Bewußtsein zeigt, auf eine endgültige Wirklichkeit, oder, in Kantischer Sprache, auf ein transzendentales Objekt, das nicht einer von diesen Erscheinungen entspricht, sondern allen zusammen und das die unzähligen fragmentarischen Welten individueller Auffassung übersteigt, aber einschließt. Nun fragen wir uns, was das Wesen dieses Einen sein kann und woher dieser hartnäckige Trieb kommt, der, ohne irgendwelche Ermutigung durch seine Sinneserfahrung zu erhalten, an diese unbekannte Einheit, dies allumfassende Absolute glaubt und es erstrebt als die einzige Befriedigung seines Wahrheitsdurstes.
2. Die zweite große Auffassung vom Sein, der Idealismus, ist auf dem Wege der Elimination zu einer versuchsweisen Antwort auf diese Frage gelangt. Er hebt uns mit einem Satz weit fort aus dieser Welt der Materie mit all ihrem interessanten Aufbau von »Dingen«, ihrer Maschinerie, ihren Gesetzen, in die reine, wenn auch dünne Luft einer metaphysischen Welt. Während der Naturalist sich seine Welt konstruiert hat aus der Beobachtung der ihm durch seine Sinne vermittelten Daten, ist die Welt des Idealisten aus der Beobachtung der Denkvorgänge aufgebaut. Es gibt nur zwei Dinge, behauptet er, deren wir sicher sind: die Existenz eines denkenden Subjekts, eines bewußten Ichs, und eines Objekts, einer Vorstellung, mit der das Subjekt es zu tun hat. Das heißt also, wir wissen nur von Geist und Denken. Was wir das Weltall nennen, ist in Wahrheit eine Gesamtheit solcher Gedanken, und diese, darin sind wir uns einig, sind während des Aneignungsvorgangs mehr oder weniger entstellt durch das Subjekt, das denkende Individuum. Offenbar denken wir nicht alles, was sich denken läßt, erfassen nicht alles, was sich erfassen läßt, auch bringen wir die Ideen, die uns zugänglich sind, nicht immer in den richtigen Zusammenhang und in das richtige Verhältnis zueinander. »Die Wirklichkeit«, sagt der objektive Idealismus, »ist das vollständige, unentstellte Objekt, der große Gedanke, von dem wir nur fragmentarische Andeutungen erhalten; die Welt der Erscheinungen, die wir als wirklich behandeln, ist nur sein Schattenspiel oder seine Erscheinung in Zeit und Raum.«
Nach der Form des objektiven Idealismus, den ich hier aus andern, ebenso typischen Formen heraushebe – denn fast jeder Idealist hat sein eigenes System metaphysischen Heils 9 –, leben wir in einem Weltall, welches, volkstümlich gesprochen, die Idee oder der Traum seines Schöpfers ist. Wir sind, wie Dideldum es Alice in dem philosophischsten aller Märchen erklärt, »nur ein Teil des Traumes«. Alles Leben, alle Erscheinungen sind die endlosen Modifikationen und Ausdrucksformen des einen transzendenten Objekts, des mächtigen und dynamischen Gedankens eines absoluten Denkers, in den wir eingetaucht sind. Dies Objekt, oder bestimmte Seiten desselben – und der Platz jedes Einzelbewußtseins innerhalb dieses Weltgedankens oder, wie wir es nennen, unsere Lebenslage muß in weitem Maße bestimmen, welche Seiten dies sind – wird von den Sinnen gedeutet und vom Geiste aufgefaßt, unter Beschränkungen, die wir Materie, Raum und Zeit zu nennen pflegen. Allein wir haben keinen Grund anzunehmen, daß Materie, Raum und Zeit nun notwendige Teile der Wirklichkeit, der letzten Idee, sein müssen. Die Wahrscheinlichkeit spricht vielmehr dafür, daß sie Bleistift und Papier sind, womit wir jene zeichnen. In dem Maße, wie unsere Vision, unsere Vorstellung von den Dingen sich mehr und mehr der ewigen Idee nähert, kommen wir der Wirklichkeit näher und näher, denn die Wirklichkeit des Idealisten ist einfach die Idee oder der Gedanke Gottes. Dies, sagt er, ist die höchste Einheit, auf die alle die Trugbilder, aus denen die weit auseinandergehenden Welten des »gesunden Menschenverstandes«, der Naturwissenschaft, der Metaphysik und der Kunst gebildet sind, nur dunkel hindeuten. In diesem Sinne kann man mit Wahrheit sagen, daß nur das Übernatürliche Wirklichkeit besitzt, denn die Welt des Scheins, die wir die natürliche nennen, besteht zum großen Teil aus Vorurteil und Täuschung, aus den Winken, die die ewige und wirkliche Welt der Idee außerhalb unserer Tore uns gibt, und den wunderlichen Begriffen, die wir an unserm Aufnahmeapparat uns daraus machen.
Zugunsten des Idealismus läßt sich dies sagen, daß letzten Endes die Geschicke der Menschheit nicht von den konkreten »Tatsachen« der Sinnenwelt gelenkt werden, sondern allemal von Vorstellungen, die, wie jeder zugibt, nur auf der geistigen Ebene existieren. In den großen Augenblicken seines Daseins, wo der Mensch sich zur geistigen Freiheit erhebt, fühlt er, daß dies die Dinge sind, die Wirklichkeit haben. Durch sie und für sie ist er bereit zu leben, zu arbeiten, zu leiden und zu sterben. Liebe, Herrschaft, Religion, Altruismus, Ruhm, dies alles gehört der übersinnlichen Welt an. Daher hat alles dies mehr Wirklichkeit als irgendeine »Tatsache«, und der Mensch hat in dunkler Erkenntnis dessen sich stets vor ihnen geneigt als vor den unvergänglichen Zentren der Kraft. Die Religionen sind durchweg von Idealismus getränkt: das Christentum besonders ist ein Trompetenruf zu einer idealistischen Lebensauffassung, der Buddhismus kaum weniger. Wieder und wieder sagen uns ihre Schriften, daß nur die Materialisten verdammt werden.
Im Idealismus haben wir vielleicht die erhabenste Seinstheorie, die der menschliche Intellekt je geschaffen hat, eine so erhabene Theorie fürwahr, daß sie kaum durch die Tätigkeit der »reinen Vernunft« allein hervorgebracht sein kann, sondern als eine Manifestation jener eingeborenen Mystik, jenes Triebes zum Absoluten, der im Menschen latent ist, angesehen werden muß. Aber wenn wir den Idealisten fragen, wie wir mit der Wirklichkeit, von der er behauptet, daß sie »gewißlich da ist«, in Verbindung treten können, so bricht sein System plötzlich zusammen und erweist sich als ein Diagramm des Himmels, nicht eine Leiter zu den Sternen. Dies Versagen des Idealismus, wo es heißt, die Wirklichkeit, von der er soviel hält, nun tatsächlich zu finden, hat seine Ursache nach der Meinung der Mystiker in dem, was der heilige Hieronymus in epigrammatischer Kürze zum Ausdruck gebracht hat in dem berühmten Wort, womit er den Unterschied zwischen der Religion und der Philosophie bezeichnet: »Plato wies der Seele ihren Sitz im Kopf an, Christus im Herzen.« Das heißt, daß der Idealismus, obgleich in seinen Voraussetzungen richtig, und oft kühn und ehrlich in ihrer Anwendung, doch infolge des ausschließlichen Intellektualismus seiner Methode, seines verhängnisvollen Vertrauens auf die Eichhörnchen-Arbeit seines geschäftigen Gehirns statt auf das durchdringende Schauen des sehnsüchtigen Herzens unfruchtbar bleibt. Er weckt das Interesse des Menschen, doch er reißt ihn nicht mit fort, hebt ihn nicht hinauf zu dem neuen und wahreren Leben, das er schildert. Daher ist ihm das, worauf es ankommt, das Lebendige, irgendwie entgangen, und seine Beobachtungen verhalten sich zur Wirklichkeit so wie die Kunst des Anatomen zum Geheimnis der Geburt.
3. Doch es kommt noch eine andere Seinstheorie in Betracht, die man obenhin als philosophischen Skeptizismus bezeichnen kann. Dies ist die Haltung derer, die weder die realistische noch die idealistische Antwort auf die ewige Frage akzeptieren wollen und, wenn sie ihrerseits vor das Rätsel der Wirklichkeit gestellt werden, erwidern, es gäbe überhaupt gar kein Rätsel zu lösen. Für die Zwecke des gewöhnlichen Lebens nehmen wir als selbstverständlich an, daß für jede Folge a: b, die in unserm Bewußtsein gegenwärtig ist, ein geistiges oder materielles A: B in der Außenwelt existiert, und daß das erstere ein genau entsprechender, wenn auch wahrscheinlich ganz unzulänglicher Ausdruck des zweiten ist. Das Bündel von Gesichts- und Gehörsempfindungen, das ich in seiner Gesamtheit als Frau Schmidt zu bezeichnen gewohnt bin, entspricht einem Etwas, das in der tatsächlichen Welt so gut wie in der mir erscheinenden existiert. Hinter meiner Frau Schmidt, hinter der ganz andern Frau Schmidt, die die X-Strahlen zum Vorschein bringen würden, gibt es, so behauptet der objektive Idealist, eine transzendente oder, im platonischen Sinne des Wortes, ideale Frau Schmidt, deren Eigenschaften ich nicht einmal erraten kann, aber deren Existenz ganz unabhängig von meiner Wahrnehmung ist. Doch wenn wir auch auf Grund dieser Hypothese handeln und handeln müssen, es bleibt doch immer eine Hypothese, und eine, die der philosophische Skeptizismus nicht durchgehen läßt.
Die Außenwelt, sagt der Skeptiker, ist – soweit ich sie kenne – ein Begriff, der in meinem Geiste gegenwärtig ist. Wenn mein Geist aufhört zu existieren, so würde, soviel ich weiß, auch der Begriff aufhören zu existieren, den ich die Welt nenne. Das einzige, was für mich unzweifelhaft existiert, ist die Erfahrung des Ichs, sein ganzes Bewußtsein. Was außerhalb dieses Bewußtseinskreises sein oder nicht sein mag, darüber Vermutungen anzustellen, habe ich keine Befugnis. Daher ist für mich das Absolute eine bedeutungslose Konstruktion, eine überflüssige Komplikation des Denkens; denn der Geist, der von jeder Berührung mit der äußeren Wirklichkeit gänzlich abgeschnitten ist, hat keinen Grund zu vermuten, daß solch eine Wirklichkeit noch anderswo existiert als in seiner eigenen Vorstellung. Jeder Versuch, den die Philosophie macht, sie zu erforschen, ist nichts als metaphysische Eichkätzchensprünge innerhalb der Käfigwände der Begriffe. In der Vervollständigung und vollkommenen Entwicklung des Ideenvorrats, mit dem unser Bewußtsein ausgestattet ist, liegt die einzige Wirklichkeit, die wir je zu erkennen hoffen können. Es ist weit besser, in ihr zu bleiben und sich in ihr heimisch zu machen, denn nur sie existiert für uns in Wahrheit.
Diese rein subjektive Auffassung vom Sein hat in jeder philosophischen Schule Vertreter gefunden, paradoxerweise selbst in der ihres einzigen tatsächlichen Gegners, in der mystischen Philosophie. So schließt Delacroix seine erschöpfende und sogar von nachfühlendem Verständnis zeugende Darstellung des Weges der hl. Teresa zur Vereinigung mit dem Absoluten, indem er annimmt, daß der Gott, mit dem sie sich vereinigte, der Inhalt ihres eigenen Unterbewußtseins gewesen sei 10. Eine solche Mystik macht es wie das Kätzchen, das hinter seinem eigenen Schwanz herläuft; ihr Weg ist sehr verschieden von dem, den die großen Wahrheitssucher verfolgt haben. Ad absurdum geführt wird diese Lehre in der sogenannten »Philosophie« des New Thought, die ihre Schüler anweist, »sich in Ruhe klarzumachen, daß das Unendliche in Wahrheit du selbst bist 11«. Indem sie nicht nur ein erkennbares, sondern auch ein logisch denkbares Transzendentes radikal leugnet, führt sie uns schließlich zu demselben Schluß, zu dem der extreme Pragmatismus kommt: daß für uns die Wahrheit nicht eine unwandelbare Wirklichkeit ist, sondern nur die Vorstellung, die sich zufällig in irgendeiner gegebenen Erfahrung als wahr und nützlich auswirkt. Es gibt keine Wirklichkeit hinter der Erscheinung, keine Isis hinter dem Schleier; daher sind alle Glaubensformen, alle Erdichtungen, womit wir jenes Nichts bevölkern, gleich wahr, wenn sich nur gut und behaglich nach ihnen leben läßt.
Die logische Konsequenz dieser Seinstheorie würde sein, daß sie jedem Menschen erlaubte, die andern Menschen anzusehen als nicht existierend außer in seinem eigenen Bewußtsein, dem einzigen Ort, wo ein strenger Skeptizismus die Existenz von irgend etwas zugibt. Selbst der Geist, der sich das Bewußtsein vorstellt, existiert für uns nur in unserer eigenen Vorstellung von ihm; wir wissen ebensowenig, was wir sind, als wir wissen, was wir sein werden. Der Mensch ist ein bewußtes Etwas inmitten, soviel er weiß, eines Nichts und ohne andere Hilfsquellen als die Erforschung seines eigenen Bewußtseins.
Der philosophische Skeptizismus ist bei unserer gegenwärtigen Untersuchung besonders interessant für uns, weil er uns zeigt, wo die »reine Vernunft«, wenn sie sich selbst überlassen ist, enden muß. Er ist durchaus logisch, und wenn wir ihn auch als Widersinn empfinden, können wir ihn nie als solchen beweisen. Die Menschen, die durch ihr Temperament zur Leichtgläubigkeit neigen, mögen Naturalisten werden und sich einreden, daß sie an die Wirklichkeit der Sinnenwelt glauben. Die mit einem gewissen Instinkt für das Absolute Begabten nehmen vielleicht den vernunftgemäßeren Glauben des Idealismus an. Aber der wahre Intellektualist, der dem Instinkt oder dem Gefühl nichts konzediert, muß schließlich zu irgendeiner Form der skeptischen Philosophie kommen. Man kann tatsächlich dem Grauen des Nihilismus nur durch den Glauben entgehen, durch das Vertrauen auf den eingeborenen, aber gänzlich irrationalen Instinkt des Menschen für das Wirkliche, »was über alle Vernunft und jenseits alles Denkens ist« und nach dem in seinen besten Augenblicken sein Geist strebt. Wenn der Metaphysiker seinen eigenen Postulaten treu bleibt, muß er schließlich zugeben, daß wir, jeder einzelne von uns, gezwungen sind, in einer unbekannten und unerkennbaren Welt zu leben, zu denken und am Ende zu sterben; mit Willkür und Sorgfalt, doch ohne daß wir wissen, wie, von Vorstellungen und Eingebungen genährt, deren Wahrheit wir nicht prüfen, aber deren Zwang wir nicht widerstehen können. Nicht durch Sehen, sondern durch Glauben – Glauben an eine vorausgesetzte äußere Ordnung der Dinge, deren Existenz wir nie beweisen können, und an die ungefähre Zuverlässigkeit und Beständigkeit der vagen Botschaften, die wir von ihr empfangen – muß der gewöhnliche Mensch leben und weben. Wir müssen uns auf »Naturgesetze« verlassen, die der menschliche Geist ersonnen hat als eine bequeme Zusammenfassung seiner eigenen Betrachtungen der Erscheinungen, müssen für die Zwecke des täglichen Lebens diese Erscheinungen zu ihrem Nennwert akzeptieren: ein Glaubensakt, neben dem der gröbste Aberglaube des neapolitanischen Bauern kaum ins Gewicht fällt.
Das verstandesmäßige Suchen nach Wahrheit führt uns also in eine von drei Sackgassen: 1. zu der Annahme einer symbolischen Erscheinungswelt als der wirklichen Welt; 2. zu der Ausbildung einer gleichfalls notwendigerweise symbolischen Theorie, die, so schön sie an sich ist, uns doch nicht dazu helfen kann, das Absolute, das sie beschränkt, auch zu erreichen; 3. zu einem hoffnungslosen, aber streng logischen Skeptizismus.
Als Antwort auf das »Warum? Warum?« des verwirrten ewigen Kindes in uns muß die Philosophie, obgleich sie immer bereit ist, wo sie kann, das Unbekannte vorauszusetzen, nur erwidern: »Nescio! Nescio!« Trotz all ihres eifrigen Landkartenzeichnens kann sie das Ziel, auf das sie uns hinweist, nicht erreichen, kann die sonderbaren Bedingungen, unter denen wir zu erkennen glauben, nicht erklären, kann nicht einmal mit sicherer Hand das Subjekt und Objekt des Denkens sondern. Die Naturwissenschaft, die es mit den Erscheinungen und unserer Kenntnis derselben zu tun hat, hat sich, obgleich auch sie im Herzen Idealist ist, seit lange gewöhnt zu erklären, daß all unsere Ideen und Instinkte, die Bilderwelt, die wir so ernst nehmen, die seltsam begrenzte und illusorische Natur unserer Erfahrung, einem großen Zweck zu dienen scheinen: der Erhaltung des Lebens und der konsequenten Durchführung der im höchsten Grade mystischen Hypothese: der kosmischen Idee. Jede Wahrnehmung, versichert sie uns, dient einem nützlichen Zweck in diesem Entwicklungssystem, einem System, das übrigens von dem menschlichen Geiste, wir wissen nicht wozu, erfunden und einem geduldigen Weltall aufgezwungen ist.
Durch Gesicht, Gehör, Geruch und Gefühl, sagt die Naturwissenschaft, finden wir uns in der Welt zurecht, werden wir vor Gefahr gewarnt, erhalten wir unsere Nahrung. Das männliche Geschlecht ist empfänglich für die Schönheit des weiblichen, damit die Art fortgepflanzt wird. Zwar hat dieser primitive Instinkt höhere und reinere Gefühle gezeugt, aber auch diese dienen einem sozialen Zweck und sind nicht so nutzlos, wie sie scheinen. Man muß essen, um zu leben, daher geben viele Speisen uns angenehme Empfindungen. Wenn wir uns überessen, so sterben wir schließlich; daher verursacht Indigestion uns unangenehme Schmerzen. Gewisse Tatsachen, die, wenn sie uns zu deutlich bewußt wären, auf unsere Lebenskraft schädlich wirken würden, kommen den meisten Menschen niemals zum Bewußtsein, z. B. die Unsicherheit des Lebens, der Verfall des Körpers, die Eitelkeit aller Dinge unter der Sonne. Solange wir gesund sind, fühlen wir uns alle als etwas sehr Wirkliches, Festes und Dauerndes, und dies ist von allen unsern Illusionen die lächerlichste und zugleich die, deren Nutzen unter dem Gesichtspunkt der Tüchtigkeit und Erhaltung der Rasse am augenfälligsten ist.
Allein wenn wir ein wenig näher hinsehen, bemerken wir, daß diese rasche Verallgemeinerung nicht das ganze Gebiet umfaßt, nicht einmal den kleinen Landstrich, über den unsere Sinne uns zu Herren machen, ja, daß sie überhaupt mehr ausläßt, als sie einschließt. Récéjac sagt sehr richtig, daß »von dem Augenblick an, wo der Mensch sich nicht mehr damit begnügt, unter der ausschließlichen Wirkung des Willens zum Leben Dinge zu ersinnen, die ihm für sein Dasein nützlich sind, das Prinzip der Entwicklung verletzt ist 12«. Nichts kann gewisser sein, als daß der Mensch nicht so genügsam ist. Utilitaristische Philosophen haben ihn ein werkzeugmachendes Tier genannt – das höchste Lob, das sie zu erteilen wußten. Noch gewisser ist er ein visionenmachendes Tier 13, ein Geschöpf mit wunderlichen und unpraktischen Idealen, das ebensosehr von Träumen wie von Begierden beherrscht wird, – von Träumen, die sich nur aus der Theorie heraus rechtfertigen lassen, daß er irgendeinem andern Ziel als dem physischer Vollkommenheit oder intellektueller Oberherrschaft zustrebt, daß er von irgendeiner höheren und wesentlicheren Wirklichkeit bestimmt wird als der der Deterministen. Man wird zu dem Schluß gedrängt, daß, wenn die Evolutionstheorie die Tatsache der künstlerischen und religiösen Erfahrung einschließen soll – und kein ernster Denker kann sie annehmen, wenn diese großen Bewußtseinsgebiete außerhalb ihres Bereichs bleiben sollen –, sie vielmehr auf einer geistigen als auf einer physischen Basis neu errichtet werden muß.
Selbst das normalste, gewöhnlichste Menschenleben schließt fundamentale Erlebnisse ein – starke und unvergeßliche Empfindungen, die uns sozusagen gegen unsern Willen aufgezwungen werden und für die die Naturwissenschaft schwer eine Erklärung finden kann. Diese Erlebnisse und Empfindungen und die Stunden gesteigerten Gefühls, die sie mit sich bringen – die wir oft als die größten, bedeutungsvollsten Stunden unseres Lebens erkennen – erfüllen keinen Zweck in bezug auf die Funktionen der Ernährung und Fortpflanzung, die das Steckenpferd der Naturwissenschaft sind. Zwar haben sie eine weitreichende Wirkung auf den Charakter, aber sie tun wenig oder nichts, um diesem Charakter in seinem Kampf um das physische Leben Beistand zu leisten. Dem vorurteilslosen Blick erscheinen viele von ihnen höchst unangebracht in einer Welt, die auf streng physikalisch-chemischen Grundlagen errichtet ist, und erwecken fast den Anschein, als ob die Natur, sich selbst überlassen, die Neigung hätte, ihren eigenen, wunderbar logischen Gesetzen zu widersprechen. Ihr Vorhandensein und noch mehr der große Raum, den sie in der menschlichen Erscheinungswelt einnehmen, ist eine Verlegenheit für die deterministischen Philosophen, die dem Dilemma, das sich ihnen hier entgegenstellt, nur ausweichen können, indem sie diese Dinge Illusionen nennen und ihre eigenen handlicheren Illusionen mit dem Titel Tatsachen beehren.
Besonders schwierig zu behandeln sind die Wahrnehmungen und Empfindungen, die wir mit der Religion, dem Schmerz und der Schönheit in Verbindung bringen. Alle drei besitzen für diejenigen, welche fähig sind, ihre Botschaften zu empfangen, eine geheimnisvolle Autorität, die weit hinausgeht über die Gefühle, Argumente oder Erscheinungen, denen sie vielleicht widersprechen. Alle drei würden, wenn die Welt der Naturalisten wahr wäre, sinnlos sein; alle drei sind von jeher von den besten Geistern des Menschengeschlechts mit der Ehrfurcht behandelt worden, die wesentlichen Dingen gebührt.
A. Ich brauche nicht erst den hoffnungslos irrationalen Charakter aller großen Religionen nachzuweisen, die ausnahmslos auf einer primären Annahme beruhen, welche sich nicht intellektuell aufzeigen, viel weniger beweisen läßt: auf der Annahme, daß das Übersinnliche irgendwie wichtig und wirklich ist und sich durch das Tun des Menschen beeinflussen läßt. Diese Tatsache ist immer wieder von den Kritikern der Religion betont worden und hat auf seiten ihrer intelligenten Freunde manche verfehlte Bemühung ihres Scharfsinns hervorgerufen. Doch die Religion – die diese allgemeine Glaubenszuversicht, die wir als eine unumgängliche Bedingung unseres Lebens erkannt haben, betont und ins Extrem treibt – ist eine der allgemeinsten und unausrottbaren Funktionen des Menschen, und dies, obgleich sie beständig den Interessen seiner rein physischen Existenz entgegenhandelt und sich der ausschließlichen Betätigung des Willens zum Leben widersetzt, außer insofern, als dieser Wille nach ewigem Leben strebt. Während die Religion des Wilden streng utilitaristisch und fast logisch ist, wird sie mit der aufsteigenden Entwicklung des Menschengeschlechts mehr und mehr transzendent. Sie beginnt als schwarze Magie, sie endet als reine Liebe. Warum entwickelt die kosmische Idee diesen religiösen Instinkt, wenn die deterministische Deutung ihrer Absichten die richtige wäre?
B. Richten wir den Blick auf die ganze Gruppe von Erscheinungen, die wir als das »Problem des Leidens« kennen: die seelische Angst und der körperliche Schmerz, die die unvermeidliche Folge der steten Wirkung des Naturgesetzes und seiner freiwilligen Helfer, der Grausamkeit, Gier und Ungerechtigkeit des Menschen, zu sein scheinen. Hier scheint zwar auf den ersten Blick der Naturalist etwas im Vorteil zu sein, da er auf einige gröbere Formen des Leidens hinweisen kann, die offenbar der Menschheit nützlich sind, indem sie uns für begangene Torheiten bestrafen, uns zu neuen Bemühungen anspornen, uns vor künftigen Verletzungen des »Naturgesetzes« warnen. Allein er vergißt die vielen andern, die sich nicht unter diese einfache Formel bringen lassen: er vergißt zu erklären, wie es kommt, daß die kosmische Idee die langen Qualen der Unheilbaren, die Martern der Unschuldigen, den tiefen Seelenschmerz der Hinterbliebenen, die Existenz so vieler unnötig qualvoller Todesarten umfaßt. Er vergißt auch die merkwürdige Tatsache, daß die Leidensfähigkeit des Menschen mit dem Fortschritt der Kultur und Zivilisation an Tiefe und Feinheit zunimmt; übersieht den noch geheimnisvolleren, vielleicht bedeutungsvollsten Umstand, daß die höchsten Typen das Leiden willig und eifrig auf sich genommen haben, im Schmerz den strengen, doch gütigen Lehrer ewiger Geheimnisse, den Bringer der Freiheit, ja, den Führer zu wunderbaren Freuden gefunden haben.
Die, welche das Leiden als die Folge der ungeheuren Fruchtbarkeit der Natur »erklären« – als eine Nebenwirkung jener Überfüllung und Überanspannung, die nur die Tüchtigsten überleben –, vergessen, daß diese Erklärung, selbst wenn sie gültig und vollständig wäre, doch das eigentliche Problem unberührt lassen würde. Die Frage ist nicht: woher kommen diese Umstände, die im Menschen Leid, Angst und Schmerz hervorrufen, sondern: warum schaffen sie dem Menschen Schmerz? Der Schmerz ist geistig; ein wenig Chloroform, und der Schmerz ist fort, wenn auch die Umstände unvermindert fortbestehen. Warum schließt das volle Bewußtsein immer die geheimnisvolle Fähigkeit zu leiden oder Glück zu empfinden ein – eine Fähigkeit, die auf den ersten Blick jede Auffassung des Absoluten als schön und gut zu entkräften scheint? Warum befördert die Entwicklung, wie wir die Leiter des Lebens hinansteigen, die Fähigkeit zu nutzloser Seelenangst, zu langer dumpfer Qual und bitterm Kummer, statt sie zu vermindern? Warum bildet das Leiden in irgendeiner Form einen wesentlichen Bestandteil der menschlichen Lebenserfahrung, wo doch so viele unserer vitalsten Funktionen vom Bewußtsein unbemerkt bleiben? Für utilitaristische Zwecke würde ein akutes Unbehagen durchaus genügen; die kosmische Idee, wie die Deterministen es nennen, brauchte nicht wirklich ein Nervensystem, das all die Qualen der Krebskrankheit, die Ängste der Neurasthenie, die Wehen der Geburt fühlt. Noch weniger brauchte es die Leiden ohnmächtigen Mitgefühls mit den unheilbaren Schmerzen anderer, die furchtbare Gabe, das Leid der Welt zu fühlen. Wir sind bei weitem zu empfindlich für die Rolle, die die Naturwissenschaft uns spielen lassen will.
Der Schmerz, wie wir ihn auch betrachten, deutet eine tiefe Disharmonie zwischen der Sinnenwelt und dem menschlichen Selbst an. Wenn er überwunden werden soll, so muß entweder die Disharmonie durch eine überlegte und sorgfältige Anpassung des Selbst an die Sinnenwelt aufgelöst werden, oder das Selbst muß sich von der Sinnenwelt ab- und einer andern, mit der es in Einklang steht 14, zuwenden. Der Pessimist und der Optimist reichen sich hier die Hände. Doch während der Pessimist, der sich auf den äußeren Anschein verläßt, nur eine Natur mit blutigen Klauen und Zähnen sieht, vor der es kein Entrinnen gibt, glaubt der Optimist, daß Schmerz und Not – die in ihren niedern Formen vielleicht die strengen Führer des Lebens auf dem Pfade physischer Entwicklung sind – auf ihren höheren und scheinbar nutzlosen Stufen seine Führer und Lehrer in der höheren Schule der übersinnlichen Wirklichkeit sind. Er glaubt, daß sie das Selbst nach einer andern Welt hindrängen, die für ihn gleichfalls »natürlich«, wenn sie auch für seinen Gegner »übernatürlich« ist, und worin es mehr zu Hause sein wird. Wie er das Leben beobachtet, sieht er im Schmerz die Ergänzung der Liebe und ist geneigt, diese beiden die Flügel zu nennen, auf denen der menschliche Geist sich am besten zum Absoluten aufschwingen kann. Daher kann er mit Thomas a Kempis sagen: Gloriari in tribulatione non est grave amanti 15, und braucht nicht von krankhafter Torheit zu sprechen, wenn er die christlichen Heiligen eifrig und fröhlich zu dem Kreuz sich drängen sieht 16.
Er nennt den Schmerz »die Gymnastik der Ewigkeit«, »die furchtbare, einweihende Liebkosung Gottes«, indem er in ihm einen Wert erkennt, der nicht in der unangenehmen Zurechtrückung der Nervenmoleküle seinen Grund haben kann. Bisweilen stellt er im Übermaß seines Optimismus diese Theorie mit allen ihren Folgerungen in der Praxis auf die Probe. Indem er sich von den Freuden der Sinnenwelt nicht verlocken läßt, nimmt er den Schmerz auf sich, statt ihm auszuweichen, und wird Asket; ein rätselhafter Typ für den überzeugten Naturalisten, der, wie immer, wenn seine Vernunft versagt, zur Verachtung seine Zuflucht nimmt und ihn als geisteskrank betrachtet.
So ist denn der Schmerz, der wie ein Schwert durch die Schöpfung fährt und auf der einen Seite sich krümmende, erniedrigte Tiere, auf der andern Helden und Heilige hinter sich läßt, eine der Tatsachen der Welterfahrung, die vom Standpunkt einer rein materialistischen Philosophie besonders unerklärlich sind.
C. Fast ebenso schwer zu erklären ist von diesem selben Standpunkte aus auch die Existenz der Musik und Dichtkunst, die Schönheit und der Rhythmus, die durch sie wachgerufenen Empfindungen von Ehrfurcht, Andacht und Entzücken. Die Frage, warum eine Runzel der Erdoberfläche, die, mit gefrorenem Wasser überzogen, von uns als Schneegipfel bemerkt wird und die wir eine Alpe zu nennen belieben, in manchen Naturen heftige Gefühle von Begeisterung und Andacht hervorruft, warum der Gesang der Lerche uns zum Himmel trägt und Wunder und Geheimnis aus »der lieblichen Bläue« des Ehrenpreises und aus dem Rhythmus des Windes zu uns spricht, ist ein Rätsel, das einfach widersinnig scheint, bis man erkennt, daß es überhaupt nicht zu lösen ist. Hier muß jedes »Wie« und »Warum« verstummen. Wir wissen nicht, warum große Dichtung uns so unaussprechlich bewegt, oder warum ein Strom von Tönen in besonderer Folge uns auf die Höhen des Lebensgefühls trägt; auch können wir nicht verstehen, wie leidenschaftliche Bewunderung dessen, was wir in Kunst und Wissenschaft das Beste nennen, irgendwie zur physischen Entwicklung der Gattung beitragen kann. Trotz vieler weitschweifigen Untersuchungen über Ästhetik hat die Schönheit ihr Geheimnis noch immer für sich behalten. Ein schattenhafter Gefährte, halb gesehen, halb geahnt, hält sie Schritt mit dem aufwärts führenden Marsch des Lebens, und wir empfangen ihre Botschaft und antworten darauf, nicht weil wir sie verstehen, sondern weil wir nicht anders können.
Hier nähern wir uns der Geisteshaltung, dem Gesichtspunkte, den man im allgemeinen und obenhin den mystischen nennt. Hier hat ein gewisser Geistestypus statt jener breiten Sackgasse, die uns die Philosophie wies, drei gerade und schmale Pfade entdeckt, die zum Absoluten führen. In der Religion, im Leiden, in der Schönheit und der Ekstase künstlerischen Genusses – und nicht nur hier, sondern in vielen andern scheinbar nutzlosen Eigentümlichkeiten der empirischen Welt und des wahrnehmenden Bewußtseins – wollen diese Menschen wenigstens den Saum der Wirklichkeit erkennen. Auf diesen drei Pfaden wie noch auf manchem andern geheimen Wege gehen, wie sie behaupten, der Seele Nachrichten zu von Regionen der Wirklichkeit, die in ihrer Ganzheit den Sinnen unzugänglich sind, von wunderbaren und unsterblichen Welten, deren Dasein nicht von der »gegebenen« Welt, die diese Sinne spiegeln, abhängt. »Die Schönheit«, sagt Hegel, der, wenn er auch kein Mystiker war, doch etwas von der mystischen Intuition hatte, die kein Philosoph entbehren kann, »ist nur das Geistige, das sich auf sinnliche Weise kundgibt 17«. »Im Guten, Schönen und Wahren«, sagt Rudolf Eucken, »sehen wir die Wirklichkeit ihren persönlichen Charakter offenbaren. Sie sind Teile einer in sich zusammenhängenden und substantiellen Welt 18«. Hier werden ein paar Hüllen dieser substantiellen geistigen Welt abgestreift; die Wirklichkeit blickt hindurch und wird dunkel oder mit jäher Klarheit von dem eingekerkerten Selbst erkannt.
Auch Récéjac führt nur diese Idee aus, wenn er sagt 19: »Wenn der Geist sich in die Betrachtung der Tatsachen der Ästhetik vertieft, so erkennt er mehr und mehr, daß diese Tatsachen sich auf eine ideelle Identität des Geistes selbst und der Dinge gründen. An einem gewissen Punkte wird die Harmonie so vollkommen, daß wir es bis in unser tiefstes Wesen spüren. Dann wandelt sich das Schöne in das Erhabene, eine flüchtige Erscheinung, die die Seele in einen wahrhaft mystischen Zustand versetzt, wo sie an das Absolute rührt. Es ist kaum möglich, in der Wahrnehmung des Schönen zu verharren, ohne sich von ihm emporgehoben zu fühlen über die Dinge und über sich selbst in einer ontologischen Vision, die dem Absoluten der Mystiker sehr nahekommt.«
Diese verborgene Wirklichkeit – diese Wahrheit hinter den Dingen – meinte der hl. Augustinus, als er im Augenblick der Erleuchtung ausrief: »Spät hab' ich dich geliebt, du Schönheit, ewig alt und ewig neu, spät hab' ich dich geliebt! 20«. In diesem Sinne auch ist »Schönheit Wahrheit, Wahrheit Schönheit«, und was das Wissen von den letzten Dingen anbetrifft, das dem gewöhnlichen Menschen zu erreichen möglich ist, so kann es wohl sein, daß »das alles ist, was ihr auf Erden wißt und euch zu wissen not«. »Was aber die Schönheit betrifft,« sagt Plato in einer unsterblichen Stelle, »so leuchtete sie, wie ich gesagt, wenn sie unter jenen (himmlischen Gestalten) auftrat; und wenn wir hierher gekommen, treffen wir sie an durch den hellsten unserer Sinne aufs hellste leuchtend. Denn das Gesicht ist der eindringlichste von unsern körperlichen Sinnen, wenn es auch die Weisheit nicht schauen kann. Diese würde gewiß eine gewaltige Liebe erregen, wenn sie solch ein augenfälliges Nachbild darböte, das vor den Blick träte, und ebenso alles, was sonst liebenswert ist. Nun aber hat die Schönheit allein den Vorzug, im höchsten Grade beides, in die Augen leuchtend und liebenswert zu sein. Wer nun nicht frisch eingeweiht oder schon verdorben ist, der schwingt sich nicht schnell von hier auf zu der Schönheit selbst, wenn er schaut, was hier ihren Namen trägt … Dagegen der vor kurzem Eingeweihte, der viel dort oben geschaut, wenn er ein gottähnliches Antlitz sieht, das die Schönheit wohl nachbildet, oder eine solche Körpergestalt, so erschaudert er zuerst, und es überkommt ihn eine heilige Scheu wie damals … 21«.
Die meisten Menschen haben im Laufe ihres Lebens solche platonischen Stunden der Weihe kennengelernt, wo das Schönheitsgefühl sich zur Leidenschaft steigerte und ein Gefühl von Fremdheit und Grauen sich in seine Freude mischte. In solchen Stunden schien die Welt mit einer neuen Lebenskraft geladen, von einem Glanz erfüllt, der nicht ihr angehört, sondern durch sie hinströmt wie das Licht durch ein farbiges Fenster, wie die Gnade durch das Sakrament, und der von der vollkommenen Schönheit ausgeht, die »im Verein mit den himmlischen Gestalten leuchtet« jenseits der Schranken dieser Erscheinungswelt. In solchen Momenten erhöhten Bewußtseins erscheint uns jeder Grashalm voll tiefer Bedeutung und wird zu einer Quelle wunderbaren Lichts, ein »kleiner Smaragd, in die Stadt Gottes eingefügt«. Das erkennende Selbst ist in der Tat ein Eingeweihter, der plötzlich ins Heiligtum der Mysterien hineingestoßen wird und die alte Scheu fühlt, mit der der Mensch der Wirklichkeit gegenübertritt 22. Solche Erlebnisse bilden gleichsam einen neuen Faktor der ewigen Rechnung, den kein ehrlicher Wahrheitssucher übersehen darf, da, wenn es schon gefährlich ist zu behaupten, daß zwei Erkenntnissysteme sich gegenseitig ausschließen, es noch gefährlicher ist, irgendeinem System kritiklos den Vorzug zu geben. Wir müssen daher diesen Pfad zur Wirklichkeit ebenso genau und ernstlich prüfen, wie wir die mit größter Sorgfalt gearbeitete Sicherheitsleiter von festem Eschenholz prüfen würden, die sich uns zu einem Aufstieg zu den Sternen böte.
Warum sollen wir überhaupt eine materielle Welt zum Maßstab nehmen, deren Dasein durch nichts Zuverlässigeres bezeugt wird als durch die Sinneseindrücke der »normalen Menschen«, diese unvollkommenen und leicht irreführenden Verbindungswege? Die Mystiker, jene Abenteurer, von denen wir auf der ersten Seite dieses Buches sprachen, haben immer stillschweigend oder ausdrücklich ihr Mißtrauen gegen diese Verbindungswege ausgesprochen. Sie haben sich keinen Augenblick durch äußere Erscheinungen noch durch die sorgfältige Logik des geschäftigen Verstandes täuschen lassen. Einer nach dem andern haben sie mit außerordentlicher Einstimmigkeit die Berufung auf die unwirkliche Welt der Erscheinungen, die der Maßstab aller vernünftigen Menschen ist, verworfen und versichert, daß es ein anderes Geheimnis, einen andern Weg gibt, auf dem das bewußte Selbst die Wirklichkeit, die es sucht, erreichen kann. Tiefer und umfassender in ihrem Erleben als die Anhänger des Intellekts oder der Sinne, sind ihnen jene geistlichen Botschaften, die die Religion, die Schönheit und der Schmerz dem Selbst vermitteln, von zentraler Bedeutung. Logischer als die Rationalisten, sehen sie in eben diesem Hunger nach Wirklichkeit, der der Quell aller Metaphysik ist, einen Beweis, daß eine solche Wirklichkeit existiert, daß es jenseits des unaufhörlichen Stromes von Empfindungen, der unser Bewußtsein bestürmt, etwas anderes, eine letzte Befriedigung gibt. »Indem du mich suchtest, hast du mich schon gefunden«, sagt ihnen die Stimme der absoluten Wahrheit ins Ohr. Dies ist die erste Lehre der Mystik. Die zweite ist, daß das Selbst nur, insoweit es wirklich ist, hoffen kann, die Wirklichkeit zu erkennen; Gleiches zu Gleichem: Cor ad cor loquitur. Auf den Voraussetzungen, die diese beiden Gesetze einschließen, beruht aller Anspruch und alle Praxis des mystischen Lebens.
»So endlich wir auch sind«, sagen die Mystiker – und hier sprechen sie nicht für sich allein, sondern für die ganze Menschheit –, »so verirrt und verloren wir auch scheinen mögen in der Öde der Wälder oder der weiten Lüfte, in dieser Welt der Zeit und des Zufalls, wir haben doch wie die verirrten Tiere oder die Wandervögel unseren Heimatsinstinkt … Wir suchen. Das ist eine Tatsache. Wir suchen eine Stadt, die noch nicht sichtbar ist. Unser Leben steht im Gegensatz zu diesem Ziel. Doch wenn dem so ist, so haben wir etwas von dem unendlichen Sein, schon in unserm endlichen, begrenzten Suchen. Denn der Trieb zum Suchen ist schon etwas wie ein Erreichen, wenn auch ein unzulängliches 23.«
Auch sind wir bei diesem irdisch begrenzten Suchen nicht allein auf unsern Heimatsinstinkt angewiesen. Für einzelne, welche die Bergesspitze erklommen haben, ist jene Stadt nicht mehr ganz unsichtbar. Die Mystiker sehen sie deutlich. Sie geben uns von ihr Bericht. Naturwissenschaft und Metaphysik mögen tun, was sie wollen, aber diese Pfadfinder des Geistes schwanken nie in ihren Aussagen über jene selbständige Geisteswelt, die das einzige Ziel des »Pilgermenschen« ist. Sie sagen, daß Botschaften aus jener Welt zu ihm kommen, aus jener vollen Wirklichkeit, die wir das Absolute nennen; daß wir doch nicht so ganz hermetisch von ihr abgeschlossen sind. Zu allen denen, die hören wollen, kommt zu jeder Stunde des Tages Kunde von einer Welt absoluten Lebens, absoluter Schönheit, absoluter Wahrheit, jenseits der Grenzen von Raum und Zeit; Kunde, die die meisten von uns in die Sprache der Religion, der Schönheit, der Liebe oder des Schmerzes übertragen und dabei unvermeidlich entstellen.
Von allen Formen des Lebens und Denkens, mit denen die Menschheit ihr Sehnen nach Wahrheit zu befriedigen gesucht hat, ist es die Mystik allein, die nicht nur das Dasein des Absoluten postuliert und durch ihre großen Eingeweihten beweist, sondern auch diese Möglichkeit, zuerst es zu erkennen und schließlich zu ihm zu gelangen. Sie leugnet, daß unsere Erkenntnismöglichkeit sich beschränkt a) auf Sinneseindrücke, b) auf die Tätigkeiten des Verstandes, c) auf die Entfaltung des Inhalts des normalen Bewußtseins. Solche Konstruktionen der Erfahrung erklärt sie für hoffnungslos unvollständig. Die Mystiker finden die Grundlage ihrer Methode nicht in der Logik, sondern im Leben, in der Existenz einer entdeckbaren Wirklichkeit, eines Funkens vom wahren Sein in dem suchenden Subjekt, das in dem unaussprechlichen Erlebnis, das sie den Augenblick der Vereinigung nennen, mit dem gesuchten Objekt eins werden und so seine Wirklichkeit begreifen kann. In theologischer Sprache ist ihre Erkenntnistheorie, daß der Geist des Menschen, der selbst seinem Wesen nach göttlich ist, der unmittelbaren Vereinigung mit Gott, der einen Wirklichkeit, fähig ist 24.
In der Mystik verläßt jene Liebe zur Wahrheit, die wir als den Anfang aller Philosophie erkannten, die rein intellektuelle Sphäre und nimmt die Gefühlsgewißheit einer persönlichen Leidenschaft an. Wo der Philosoph vermutet und argumentiert, lebt und schaut der Mystiker, und infolgedessen spricht er die schwer zugängliche Sprache der unmittelbaren Erfahrung, nicht die sorgfältig dialektische Sprache der Schule. Daher kommt es, daß, während das Absolute der Philosophen eine Konstruktion bleibt, unpersönlich und unerreichbar, das Absolute der Mystiker Liebe weckend, erreichbar und lebendig ist.
»Oh, schmecket und sehet!« rufen sie in Tönen verblüffender Gewißheit und Freude. »Unser Wissen ist Erfahrungswissen. Wir können nur unsere Methode euch mitteilen, doch nicht ihr Resultat. Wir kommen nicht als Denker zu euch, sondern als Täter. Laßt ab von eurem unbedingten und unsinnigen Vertrauen auf die Sinne mit ihrer Sprache von Punkten und Strichen, die vielleicht Tatsachen berichten, aber niemals persönliches Leben mitteilen können! Wenn die Philosophie euch irgend etwas gelehrt hat, so habt ihr sicher eingesehen, wie kurz ihr Spannstrick und wie unmöglich es ist, das zweifellos wunderbare Weideland jenseits ihres Kreises zu erreichen. Ein Idealist nach dem andern hat sich erhoben und hat, ungestüm an seinem Seil zerrend, der Welt die nahende Freiheit verkündet, um doch am Ende in den kleinen Kreis der Sinneserfahrung zurückgeworfen zu werden. Doch hier sind wir, eine kleine Familie zwar, aber eine, die nicht ausstirbt, und versichern euch, daß wir die Schlinge abgestreift haben und jenes Weideland uns offen steht. Dies ist ein Zeugnis, das ihr in Anschlag bringen müßt, bevor ihr die Summe möglicher Erkenntnis zieht; denn es wird euch unmöglich sein, zu beweisen, daß die Welt, wie sie die Mystiker sehen, »unvorstellbar, formlos, dunkel von Übermaß des Lichts«, weniger wirklich sei als die, die der jüngste und vielversprechendste Wortführer eines physikalisch-chemischen Weltalls euch demonstriert. Wir wollen ganz ehrlich gegen euch sein. Prüft uns, soviel ihr wollt: unsere Methode, unsere Glaubwürdigkeit, unsere Resultate. Wir können nicht versprechen, daß ihr sehen werdet, was wir gesehen haben, denn hier muß jeder es auf eigene Rechnung und Gefahr versuchen; aber ihr dürft unsere Erfahrungen nicht als unmöglich oder ungültig stempeln. Ist eure Welt der Erfahrung so logisch und wohlbegründet, daß ihr sie zum Maßstab nehmen dürft? Die Philosophie sagt euch, daß sie auf keiner bessern Basis beruht als auf den Berichten eures Sinnenapparates und auf traditionellen Begriffen der Menschheit. Sicher ist sie unvollkommen, möglicherweise ist sie eine Täuschung; jedenfalls rührt sie nie an den Grund der Dinge. Während das, »was die Welt, die in Wahrheit nichts weiß, Mystik nennt, das Wissen von den letzten Prinzipien ist … das Wissen von der sich selbst offenbarenden Wirklichkeit, über die nicht vernünftelt werden kann, weil sie der Gegenstand der reinen Vernunft oder der reinen Wahrnehmung ist 25«.