Читать книгу Alma - Evelyne Quadrelli - Страница 6
ОглавлениеSCHULE
Früh am Morgen wurden die Kinder geweckt. Sie schlüpften in die Kleider, von denen sie nur einmal in der Woche frische bekamen. Das Waschen der Bekleidung war eine mühselige Arbeit für die Mutter und nahm einen ganzen Arbeitstag in Anspruch.
Ordentlich wuschen sich die Geschwister an der Waschschüssel den Schlaf aus den Augen und versammelten sich in der Küche. Dort stand bereits die Mutter am eisernen Herd und rührte in einer Pfanne. Es gab wie jeden Morgen Haferbrei, den Alma gar nicht gerne mochte. Da es zum Mittagessen in der Schule aber immer nur eine wässrige Suppe und höchstens ein Stück Brot gab, zwang sie sich stets, ein paar Löffel davon zu essen.
Die Mutter war mürrisch, weil ihr der Schlaf fehlte und sie sich beim Entzünden des Herdfeuers die Finger verbrannt hatte. Mit wenigen Worten wurden die Kinder auf den weiten Weg zur Schule geschickt, wobei jeder selber zusehen musste, ob in der Schultasche alle Bücher waren. Die Mutter hatte keine Zeit, sich um Hausaufgaben und Stundenpläne zu kümmern. Zum Glück waren alle einigermaßen gescheit, brauchten keine Hilfestellung und brachten gute Schulnoten nach Hause.
Der Schulweg war ein einziges Abenteuer. Alle Kinder aus Affeier, so hieß das Dorf, in dem Alma wohnte, strömten herbei, um sich am Dorfbrunnen zu versammeln und sich von dort auf den Weg nach Meierhof zu machen. Unter all diesen Kindern befanden sich alleine elf von der Familie Alig, und jedes Jahr schien ein weiterer Alig den Schulweg anzutreten.
Es war Anfang Mai, und die Sonne war noch nicht hinter den hohen Bergen hervorgekommen, die in Almas Heimat rundherum zu erblicken waren. Der Schnee im Dorf war erst seit Kurzem fort. Die Bergspitzen jedoch waren immer noch in das herrliche Weiß des Schnees gehüllt. Die Straße nach Meierhof war ungeteert, und die Kinder brauchten nur ab und zu einem Pferdewagen oder selten einmal einem Traktor Platz zu machen.
Der Schulhof war karg gestaltet. Es gab keine Spielgeräte, nur einen kleinen Brunnen und ein paar Steine, auf die man sich setzen konnte.
Punkt acht Uhr stand Frau Cavegn auf dem Hof und läutete mit einer Glocke. Es war Zeit für den Unterricht. Frau Cavegn unterrichtete die erste, zweite und die dritte Klasse und legte Wert auf eine saubere Erscheinung der Schüler. Sie ließ es sich nicht nehmen, am Türrahmen zu stehen und nach Schmutzfinken Ausschau zu halten. Auf die Kinder der Bauersleute hatte sie es am meisten abgesehen, kam es doch öfter vor, dass ein Bauernkind noch die Schuhe voller Kuhmist hatte.
Alma und Bruno gingen in das Schulzimmer, in dem die vierte bis sechste Klasse unterrichtet wurde. Die Lehrerin der Zwillinge war Frau Cavegn. Peter stieg die Treppe hinauf zum Dachgeschoss, wo sich das Klassenzimmer der Oberstufenschüler befand. Es gab nicht viele Schüler, die die Oberstufe besuchten. Schon gar keine Mädchen. Viele der Bauersleute erachteten es als Zeitverschwendung, ihre Mädchen länger als nötig in die Schule zu schicken. Lieber ließen sie ihre Töchter in eine Stellung gehen, um Praktisches fürs Leben zu lernen und etwas Geld zu verdienen.
Der Klassenraum von Alma war ein geräumiges Zimmer, das im Winter nicht beheizt wurde. Mehrere Schulbänke aus Holz mit unzähligen Kerben und Kratzern und einfache Stühle standen darin. Nicht genug, damit jedes Kind bequem Platz fand, und so mussten alle dicht gedrängt zu zweit oder gar zu dritt an einer Bank sitzen. Außer einer großen Wandtafel, die reparaturbedürftig war, und einem mächtigen Lehrerpult gab es keine weiteren Einrichtungsgegenstände.
Am Pult saß, wenn er nicht gerade mit dem Lineal bewaffnet seine Runden in der Klasse drehte, Herr Casanova. Er war ein gefürchteter Lehrer und führte seine Klasse mit eiserner Hand. Herr Casanova war etwa fünfzig Jahre alt und hatte schütteres, helles Haar. Auf der Nase, die dick und groß war, trug er eine Brille mit schwarzem Rand. Er war von kleiner Statur und trug immer ein grau meliertes Sakko, das ihm über die schmächtigen Schultern hing und vermutlich vor vielen Jahren einmal modern gewesen war. An Herrn Casanova aber, der einen Buckel hatte, sah das Kleidungsstück komisch aus.
»Die Kleinen nehmen das Rechnungsbuch hervor und arbeiten auf Seite 32«, befahl er. Kein Schüler wagte es noch, zu schwatzen. »Die vierte Klasse kommt nach vorne und sagt das Gedicht auf«, verkündete er weiter, erhob sich und nahm die Rute zur Hand, die hinter seinem Schreibtisch stand. Jeder wusste, was es geschlagen hatte, konnte man doch wieder diesen seltsamen Glanz in den Augen des Lehrers sehen.
Sechs Kinder, alle so alt wie Alma, traten vor den Lehrer, der gespannt auf seinem Pult saß.
»Zuerst du, Kurt«, sagte Herr Casanova und zeigte mit der Rute auf den Bauernsohn. Dieser musste erst leer schlucken, um den Klumpen in seinem Hals runterzubringen, der sich gebildet hatte.
»Der Tag brach an und das Licht, es schien …«, begann Kurt, und der Lehrer hörte aufmerksam zu, um einen Fehler sofort zu erkennen.
Kurt hatte Glück, Herr Casanova konnte an seiner Darbietung nichts aussetzen.
Nun zeigte der Stock auf Maurus. Er war ein Junge der Familie Alig, die neben Alma in einem kleinen, etwas heruntergekommenen Haus lebten. Alma mochte Maurus sehr, und wenn es die Zeit zuließ, trafen sie sich oft, um zu spielen.
Maurus war gleich groß wie Alma und hatte, wie alle Aligkinder, strohblondes Haar. Sein Vater besaß eine Schmiede, die mehr schlecht als recht ging, und so musste er, wenn es keine Aufträge gab, hin und wieder auf einem fremden Bauernhof arbeiten. Auf diese Weise gelang es ihm, doch noch genug Geld zu verdienen, um seine Familie satt zu kriegen. Er war ein lieber Mann, der Kinder über alles mochte. Zur Weihnachtszeit waren Herr Alig und Moritz oft in der Schreinerei anzutreffen, in der aber dann kein Kind Zutritt hatte. Die beiden Männer, die eine Freundschaft verband, fertigten aus Holz die wunderbarsten Spielzeuge an, damit sich die Kinder zu Weihnachten freuen konnten.
Maurus sah den Lehrer mit seinen schönen braunen Augen an und Alma wusste sofort, dass ihr Freund keine Zeit gefunden hatte, das Gedicht zu lernen. Er musste bestimmt wieder bis spät abends seiner Mutter bei irgendwelchen Arbeiten helfen.
»Der Morgen brach an und das Licht es ... es ...«, stotterte Maurus und wusste nicht mehr weiter.
»Das reicht!«, schrie Herr Casanova. »Du hast deine Aufgabe nicht gemacht. Na warte, Bursche, das gibt eine saftige Strafe!« Sein Gesicht verfärbte sich rot vor Wut und Spucke sammelte sich in seinen Mundwinkeln wie bei einem tollwütigen Terrier.
Maurus ahnte, was jetzt kam. Mit gesenktem Kopf streckte er tapfer seine beiden Hände aus. Kaum waren sie in Stellung, schlug der aufgebrachte Lehrer mit der Rute kräftig zu. Exakt fünf Schläge teilte Herr Casanova aus. Alma konnte sehen, wie die Haut an den Knöcheln ihres Freundes an einer Stelle aufsprang und blutete.
Maurus verzog das Gesicht schmerzvoll und durfte an seinen Platz zurückkehren.
Alma wurde wütend. Dieser blöde alte Buckelmann, dachte sie. Bestimmt hatte er wieder mit seiner Frau Streit und braucht uns Schüler als Blitzableiter.
Der Lehrer hatte eine böse und gemeine Frau, die ihm hin und wieder die Leviten las. Einige wollten schon gesehen haben, wie Herr Casanova von seiner eigenen Ehefrau eine aufs Dach bekam. Allen Frust, den er so einstecken musste, gab er am nächsten Schultag an die Kinder weiter.
Mit Wut im Bauch trug nun Alma das Gedicht kraftvoll vor. Es gelang ihr, fehlerfrei zu sprechen. Sie sah dem Lehrer trotzig in die Augen, der die Mundwinkel immer noch voller Spucke hatte.
Als das Mädchen fertig war und Herr Casanova nichts auszusetzen hatte (was er wohl gerne gehabt hätte), schikanierte er die Klassen mit den üblich schweren Fragen. Willkürlich rief er ein Kind nach dem anderen auf und ließ es für die Antwort stramm neben dem Pult stehen. Jedem der Aufgerufenen rutschte das Herz in die Hose, und selbst nachdem die Frage richtig beantwortet worden war, beruhigte sich der Herzschlag nur langsam. So groß war die Angst der Schüler und Schülerinnen vor dem übel gelaunten Lehrer.
»Wie hieß der Mann, der Zürich reformierte?«, wollte Casanova wissen. Er schaute in der Klasse umher, und jedes der Kinder versuchte, sich unmerklich so klein wie möglich zu machen, um ja nicht aufgerufen zu werden.
»Ueli!«, blaffte der Lehrer und kam ein paar Schritte näher an den Tisch, an dem der Unglücksrabe saß. Dieser stand mit gesenktem Kopf, aber stramm, da. Ueli konnte jedoch keine Antwort auf die Frage geben, und schon sauste die Rute mit lautem Zischen auf das Pult. Dabei kippte das Tintenfass um und bekleckerte die Schulhefte des armen Jungen.
Herr Casanova achtete nicht darauf und erhob den Stock erneut, um ihn sogleich über die Handknöchel des Buben fahren zu lassen. Ueli hatte bereits beide Hände ausgestreckt, da er wusste, dass es kein Entrinnen gab. Er schrie auf, was aber augenblicklich von wilden Beschimpfungen des Lehrers übertönt wurde.
»Du Dummkopf! Aus dir wird niemals etwas werden. Geh und steck deinen Kopf in den Misthaufen deines Vaters, vielleicht bewirkt der Dung, dass dein Verstand wächst!«, beschimpfte Herr Casanova den Buben. Und wenn es nicht so tragisch wäre, würde man über den Ideenreichtum an Schimpfwörtern staunen, die dem Lehrer in solchen Momenten in den Sinn kamen.
Endlich läutete draußen Frau Cavegn zur Mittagspause. Herr Casanova ließ die Schüler ziehen, wobei niemand beim Verlassen des Schulzimmers einen Mucks von sich gab.
In einem Nebengebäude des Schulhaues wurde den hungrigen Kindern eine dünne Suppe in einen Blechnapf geschöpft und ein Stück Brot dazu geboten. An verschiedenen Tischen fanden alle Platz und begannen mit dem Essen, bei dem nicht nur an Menge, sondern meistens auch an Salz gespart wurde. Die Klasse von Herrn Casanova redete an diesem Tag nicht viel, und einzelne Schüler rieben ihre Handrücken und bestrichen sie zur Linderung der Schmerzen mit Spucke.
»So einen Anfall wie heute hatte der Bucklige schon lange nicht mehr«, flüsterte Maurus Alma zu, die neben ihm am Tisch saß und bereits ihren letzten Bissen Brot verschlang.
»Was glaubst du, musste er sich wohl gestern Abend von seiner Alten anhören. Von irgendwoher muss er ja seinen übergroßen Wortschatz mit Schimpfwörtern haben«, meinte Alma, und ein schadenfrohes Lächeln huschte über ihre Lippen.
Beide Kinder empfanden sowohl Abscheu wie auch Mitleid für ihren Lehrer.
Nach dem Mittagessen durften die Schüler etwa zehn Minuten auf dem Schulhof spielen, bevor sie die letzten zwei Schulstunden in Angriff nahmen. Irgendwie überstand die Klasse von Herrn Casanova diese, ohne dass noch einmal die Rute geschwungen wurde. Anscheinend konnte sich der Lehrer für diesen Tag genug abreagieren, er gab sogar nur wenig Hausaufgaben auf.
Um halb drei Uhr läutete Frau Cavegn die Glocke, und die Kinder machten sich auf den Weg nach Hause.
Alma und Maurus ließen ihre Brüder und Schwestern ziehen und trödelten etwas im Dorf umher. Sie kamen am Dorfladen vorbei. Hier konnte man beinahe alles kaufen, was es zum täglichen Leben brauchte. Es gab Esswaren, Kochgeschirr, Toilettenartikel (sogar WC-Papier), den einen oder anderen Stoffballen, Mistgabeln und dergleichen, einige Bücher und Bier vom Fass. Was die Kinder jedoch interessierte, war die kleine Auslage direkt bei der Ladentheke. Dort gab es große Gläser, gefüllt mit unterschiedlichen Süßigkeiten. Gerne wollten die beiden sämtliche Lutscher und Bonbons durchprobieren und die verschiedenen Geschmacksrichtungen kosten. Leider gab es nur selten eine dieser Leckereien, denn Geld besaß weder Alma noch Maurus.
»Komm, lass uns schnell reingehen«, drängte der Junge. »Ich möchte nur kurz das Auto anschauen.«
Alma, die mit ihren Gedanken bei den Bonbons war, seufzte: »Erst letzte Woche hast du es bestaunt und es sieht ganz bestimmt noch genau gleich aus.«
Maurus aber öffnete die Ladentüre und trat ein. Herr Schwarz stand hinter der Theke, füllte Mehl in Tüten ab und erwiderte mürrisch den Gruß der Kinder.
Ohne zu zögern, lief der Junge zum Regal und blieb vor einem knallroten Blechauto stehen. Mit glänzenden Augen betrachtete er das Gefährt und träumte davon, wie es wäre, wenn er es besitzen würde.
Herr Schwarz, ein argwöhnischer Mann mit Bierbauch, ließ die beiden nicht aus den Augen. Ständig befürchtete er, bestohlen zu werden. Sein Misstrauen galt vor allem den Kindern. Wusste er doch, dass die wenigsten von ihnen überhaupt ein paar Rappen in der Hosentasche hatten.
»Was wollt ihr? Wenn ihr nichts kaufen wollt, geht nach Hause und verschwendet nicht meine Zeit«, rief er und kam sogleich hinter der Ladentheke hervor. Im selben Augenblick erklang die Türglocke und verkündete Kundschaft.
Thomas und Gian traten ein, zwei ältere Jungs aus Meierhof. Schnurgerade liefen die beiden zum Ladentisch und grüßten Herrn Schwarz freundlich.
Alma, die nichts Besonderes an dem roten Auto finden konnte, wurde neugierig und lenkte ihre Schritte ebenfalls zur Theke. Sie konnte sehen, wie Thomas und Gian einen Jutesack auf den Tresen luden und vor Glück strahlten.
»Ihr seid aber fleißig«, säuselte der Ladenbesitzer. »Wie viele habt ihr denn dieses Mal erwischt?«
»Es sind zwei Dutzend!«, erwiderte Thomas stolz und entleerte den Sack in eine Kiste, die Herr Schwarz schon bereitstellte. Zusammen begannen sie zu zählen. Alma stand nun so nahe, dass sie kleine dunkle Dinger erkennen konnte, die zum Teil mit Erde verschmutzt waren.
»Exakt vierundzwanzig, Jungs«, ließ Herr Schwarz verlauten und öffnete die Ladenkasse. Er zählte 4,80 Franken daraus und überreichte die Münzen mit einem Augenzwinkern den beiden Buben. Diese nahmen das Geld und legten die 80 Rappen sogleich wieder auf die Theke. Dafür suchten sie sich die buntesten Bonbons aus einem Glas, was etwas Zeit brauchte.
Alma nutzte die Gelegenheit, um in Augenschein zu nehmen, wofür Thomas und Gian bezahlt worden waren. In dem Behälter lagen Beinchen, aber von was, wusste das Mädchen nicht, und in die Kiste zu greifen, um es genauer zu sehen, getraute sie sich nicht.
Herr Schwarz nahm in der Zwischenzeit ein kleines schäbiges Notizbuch hervor und trug fein säuberlich die Zahl der gelieferten Ware und den ausbezahlten Geldbetrag ein. Die Buben, die nun jeder sage und schreibe acht Bonbons in der hohlen Hand hielten, mussten in dem Büchlein mit ihrem Namen unterzeichnen, verabschiedeten sich und liefen zur Türe.
Da Alma mehr über diesen Verkauf der Beinchen erfahren wollte, rannte sie den älteren Jungen hinterher. Maurus bemerkte das Verschwinden seiner Freundin nicht. Er hatte nur Augen für sein Traumauto.
Die Buben teilten vor dem Laden ihren Verdienst auf. Ihre Backen waren dick von den Bonbons, die sie in den Mund gestopft hatten.
»Hallo Thomas und Gian. Könnt ihr mir sagen, wofür ihr eben das Geld bekommen habt?«, fragte Alma keck.
Die Jungs schauten sich an und erzählten stolz: »Wir haben Maulwürfe gefangen und ihnen die Vorderbeine abgeschnitten.«
»Was? Wofür soll denn das gut sein?«, wollte sie nun wissen.
»Es gibt viel zu viele von diesen kleinen Tierchen. Die Bauern beklagen sich ständig über die aufgeworfene Erde und dass sie Schäden an den Pflanzenwurzeln anrichten. Also bezahlt der Kanton Graubünden für jedes Paar Beine, das bei einer Sammelstelle abgegeben wird, fünfundzwanzig Rappen«, erzählte Thomas.
»Zwanzig Rappen bekommt der Jäger und fünf Rappen derjenige, der die Vorderbeine in Empfang nimmt und die Abrechnung führt«, fügte Gian bei.
Das fand Alma interessant! Die Buben verabschiedeten sich von ihr, wobei der Gruß unverständlich war, hatten die Jungs mindestens drei Bonbons auf einmal in ihre Münder gestopft.
Alma ging um die Hausecke des Ladens und setzte sich auf der Rückseite auf die niedrige Mauer, die den Lagerplatz umschloss. Sie wollte nicht mehr zurück in das Geschäft und beschloss, draußen auf ihren Freund zu warten. Schließlich hatte sie jetzt etwas zum Nachdenken, denn sie fand, es wäre nicht schlecht, auch ein wenig Geld zu besitzen.
Als sie still so dasaß und ihren Kopf mit den Händen stützte, hörte sie eine Türe knarren. Ohne lange zu überlegen, sprang das Mädchen von der Mauer, duckte sich und spähte durch ein Loch im Gemäuer zum Lagerplatz. Vorbei an zwei leeren Bierfässern konnte sie Herrn Schwarz erkennen, wie er die Kiste mit den Vorderbeinen der toten Maulwürfe in eine große Kartonkiste leerte. Dann vernahm sie, wie der Mann zu sich selber sprach: »Bah, ich muss das Zeug noch heute verbrennen, die stinken ja fürchterlich!« Und verschwand wieder in den Laden.
Alma ging zurück, um die Ecke zum Ladeneingang, wo bereits ihr Freund stand und nach ihr Ausschau hielt.
»Wo bist du gewesen?«, wollte Maurus wissen.
Alma erzählte nichts von alledem, was sie erfahren hatte, und zusammen liefen sie heimwärts.
Unterwegs zeigte Maurus Alma noch einmal seine nun aufgeschwollenen Handknöchel und wetterte über ihren Lehrer.
»Ich denke, es wäre an der Zeit, dem Buckligen und seiner Frau einen Streich zu spielen«, fand Alma. Dieser Meinung war auch ihr Freund, und den Rest des Weges übertrafen sie sich mit Aufzählungen der fiesesten Streiche, die ihnen in den Sinn kamen.
Zu Hause wartete auf beide noch Arbeit. Deswegen beschlossen sie, sich die Angelegenheit mit dem Lehrer nochmals gründlich durch den Kopf gehen zu lassen und sich nach getaner Arbeit beim Dorfbrunnen zu treffen. Vielleicht blieb ja etwas Zeit, um zu spielen.
Dem war nicht so. Alma musste vor dem Abendessen noch mit dem Rest von der genaschten Schokolade zu der alten Josefina und sich bei ihr entschuldigen. Anschließend brummte ihr die Mutter einen Gang nach Meierhof auf, um einem Junggesellen mittleren Alters einen versprochenen Laib Brot zu bringen.
Gegen halb sechs Uhr abends machte sich das Mädchen auf den Weg. Nicht lange, und sie klopfte mit hochrotem Kopf an die verwitterte Türe der alten Josefina. Die Alte öffnete und freute sich über den Besuch. Sie mochte Alma sehr gerne, erinnerte sie das Mädchen doch an ihre verstorbene Schwester Alice.
»Komm nur rein Kind«, sagte sie lächelnd.
Zögernd trat Alma ein und hielt der Dame auch schon die rote Kiste mit der Schokolade entgegen.
»Entschuldige Josefina, ich habe ein bisschen davon genascht. Ich wusste nicht, dass sie dir gehört«, stammelte sie.
»Das macht nichts. Möchtest du eine Tasse Milch trinken?«, fragte Josefina und hoffte, das Mädchen hätte Zeit, um ein wenig mit ihr zu schwatzen.
»Nein, tut mir leid, ich muss noch nach Meierhof laufen, um einen Laib Brot zu bringen«, sagte Alma, der es nun etwas leichter ums Herz war, da die Dame nicht wütend auf sie war.
»Nun denn. Aber du besuchst mich bald einmal, ja?« Hoffnungsvoll sah Josefina sie an. »Und hier, das ist für dich.« Sie brach mit ihren knorrigen, alten Händen umständlich ein großes Stück einer Tafel Schokolade ab und reichte es dem Mädchen.
»Vielen Dank. Und ich komme bald auf eine Tasse Milch zu dir«, versprach Alma und machte sich auf nach Meierhof.
Sie lief eilig, während sie sich die Schokolade genüsslich im Mund zergehen ließ.
Es dauerte nicht lange und sie hatte das Brot abgegeben und wollte schon nach Hause laufen. Da kam ihr plötzlich eine Idee. Es beeindruckte sie, wie Thomas und Gian zu Geld kamen. Aber selber diese armen kleinen Maulwürfe zu fangen und ihnen obendrein die Vorderbeine abzuschneiden, das brachte sie nicht übers Herz. Schnell war der Entschluss gefasst, über die Mauer beim Laden zu klettern und sich ein Paar von den Pfoten zu stibitzen. Schließlich würde Herr Schwarz keinen Verlust dabei erleiden, da der Betrag ja vom Kanton Graubünden bezahlt wurde und er sogar noch fünf Rappen von den Beinen, die sie bringen würde, verdienen könnte.
Gesagt, getan. Schon schlich sie um die Ecke und spähte, ob die Luft rein war. Mit leicht zittrigen Knien stieg sie über die Mauer und sprang auf der anderen Seite in den Staub. Leise lief sie zu der Kartonkiste und hoffte, dass Herr Schwarz den Inhalt noch nicht verbrannt hatte.
Sie öffnete vorsichtig den Deckel und erkannte schon am Gestank, dass nach wie vor alles da war. Rasch griff sie hinein (wegen des Ekels mit geschlossenen Augen) und verstaute Handvoll um Handvoll in ihren Rocktaschen, bis sie links und rechts ausbeulten und kein Stück mehr Platz darin fand.
Leise, um nicht erwischt zu werden, kletterte Alma wieder über die Mauer und lief davon. Ihr Herz schlug schneller als gewöhnlich, aber ein schlechtes Gewissen hatte das Mädchen nicht.
Daheim entleerte sie ungesehen die Beine der Tiere in eine Holzkiste, die sie unter ihrem Bett versteckt hatte, verstaute diese wieder und hoffte, dass niemand sie entdecken würde bis zum nächsten Morgen. Was wegen des Geruches gar nicht so leicht war.