Читать книгу Jung und nymphoman - Vom Loverboy zum Sugardaddy | Erotischer Roman - Evi Engler - Страница 3

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Leonie und der Loverboy

»Wo kommst du jetzt her?«, fragte die Pflegemutter.

Sie holte aus und gab Leonie eine feste Ohrfeige. Das Mädchen reagierte nicht, es schaute die Pflegemutter mit brennendem Blick aus übergroßen Augen an. Es gab seiner Verletzung und Verachtung nur durch diesen Blick Ausdruck. Die Pflegemutter geriet in Wut, holte noch einmal aus und gab Leonie eine laut schallende zweite Ohrfeige. Sie schlug so heftig zu, dass der Schlag im Kopf des Mädchens noch lange nachklang. Leonie zeigte immer noch keine Reaktion, nur die brennende Verachtung sprühte aus den Augen des Mädchens so heftig auf die Pflegemutter, dass die Blicke wirkten als wären sie Laserschwerter.

Die erwachsene Frau meinte in diesem Moment, dass sie in Lebensgefahr schweben würde, wenn Leonie eine Waffe zur Hand gehabt hätte. Vor diesem Blick erschreckte sie und wich einen Schritt zurück. Um ihre Schwäche nicht allzu deutlich werden zu lassen, herrschte sie das Kind an:

»Rauf in dein Zimmer, ich will dich heute nicht mehr sehen.«

Leonie fesselte die Frau weiterhin mit ihrem intensiven Blick und wandte sich der Treppe zu um hinauf in ihr Zimmer zu gehen. Erst als sie die halbe Höhe erreicht hatte, löste sie den Blick von der Frau. Der war die Erleichterung anzusehen, von der eingebildeten Bedrohung durch das Mädchen erlöst zu sein.

Die Rotzgöre wuchs ihr ganz klar über den Kopf. Ganz so leicht war das Geld nicht verdient, wie sie es sich vorgestellt hatte, als man ihr das Mädchen anbot, und es wurde von Tag zu Tag schwieriger. Die beiden anderen Pflegekinder waren deutlich jünger, die hatte sie gut im Griff, Leonie jedoch war störrisch und eigensinnig.

Sie wäre nicht Marianne Weber, wenn sie vor einem frechen Mädchen klein beigeben würde. Die Schläge schienen nicht der richtige Weg zu sein, um das Kind zur Raison zu bringen, dazu war es zu abgehärtet. Eine andere Möglichkeit sah sie für sich jedoch nicht. Das Kind war bei ihr bereits in der dritten Pflegefamilie. Den Grund für diese Schwierigkeiten des Kindes hatte man ihr nicht mitgeteilt, jedoch, dass es durch sie auf die endgültige Verwendung vorbereitet werden sollte, das klang damals durch, als man sie zu ihr gebracht hatte. Das Kind war den Aufwand nicht wert, dass sie sich ernsthaft Gedanken machte, geschweige denn, dass sie sich und ihre Erziehungsmethoden hinterfragte.

Was hieß hier schon Erziehung? Die Kinder, die zu ihr kamen und älter als sechs oder sieben waren, nahm sie nur wegen des Geldes auf. Was wollte man auch an einem genetisch verkommenen Nachwuchs von Kriminellen und Rauschgiftsüchtigen erziehen? Man musste als Pflegeeltern darauf achten, dass man seinen Vorteil aus dem Arrangement zog und durfte sich nicht auf emotionale Bindungen einlassen. Schließlich waren Pflegeeltern die Guten, sie nahmen Kinder auf, die niemand wollte, die mussten also froh sein und sollten sich hüten, irgendwelche Ansprüche zu stellen.

Der nächste Ausraster Leonies würde der letzte werden, das beschloss Marianne Weber in dem Augenblick, als Leonie oben die Tür zu ihrem Zimmer zuschlug. Sie würde sich nicht der Gefahr aussetzen, die das Kind ausstrahlte. Schließlich hatte sie in der letzten Familie den Pflegevater mit einem Messer bedroht, als der ihr bei den Schularbeiten helfen wollte. Das Kind hatte zwar behauptet, von dem Pflegevater jahrelang missbraucht worden zu sein, das wurde jedoch von der Pflegemutter und dem Pflegevater vehement und glaubwürdig bestritten. Dass man einem solchen Kind nicht glaubte, das schon mehrfach wegen Ladendiebstahls und Schwarzfahrens bestraft worden war, war ja wohl sonnenklar. Das Mädchen versuchte, als Schutzbehauptung eine anständige und wohl beleumundete Familie in Misskredit zu bringen.

Nein, es war Unsinn, zu warten, bis das Kind vollständig ausrastete und sie eventuell selbst mit einem Messer bedrohte. Sie brauchte nur an die unheimlichen und aggressiven Blicke zu denken, die ihr der missratene Sprössling zugeworfen hatte, dann fand sie ihre Furcht vor Eskalation berechtigt. Das Kind war es nicht wert, dass sie sich einer Gefahr aussetzte, also musste eine schnelle Lösung her.

Es war besser, jetzt sofort mit ihrer Vertrauten im Jugendamt zu sprechen. Ja, jetzt gleich Nägel mit Köpfen zu machen, das war der rechte Weg.

Als Leonie am nächsten Tag aus der Schule kam, stand ein Streifenwagen der Polizei vor dem Haus ihrer Pflegefamilie. Im Hausflur wurde sie von der Pflegemutter erwartet, zwei Polizisten standen hinter ihr und beobachteten sie misstrauisch.

»Hier sind deine Sachen«, sagte die Pflegemutter und deutete auf eine dicke Sporttasche. »Du ziehst heute aus.«

Leonie fiel aus allen Wolken.

»Was?«, rief sie empört. »Ich hab nichts gemacht!«

»Da ist uns etwas ganz anderes zu Ohren gekommen«, sagte die Schnepfe vom Jungendamt und trat hinter den Polizisten hervor. »Nimm deine Sachen und folge den Polizisten.«

»Was denn? Was soll ich gemacht haben?« Leonie wurde es flau im Magen. Sie wurde schon wieder abgeschoben, schon wieder hatte sie keine Zeit, sich an ein Zuhause zu gewöhnen und sich heimisch zu fühlen und wieder kam sie sich ungerecht behandelt vor.

»Mit Gewaltdrohungen macht man sich keine Freunde«, meinte die Jugendamt-Tussi, als wenn sie die Weisheit mit Löffeln gefressen hätte.

»Was? Ich soll mit Gewalt gedroht haben?«, empörte sich Leonie, sie geriet außer sich. »Die schlägt mich doch jeden Tag! Nicht ich sie, sondern sie mich! Ich kann doch nichts dafür, wenn die Alte eifersüchtig ist!«

»Eifersüchtig, soso!«, meinte die Jugendamt-Tante. Sie wandte sich an die Polizisten:

»Begleiten Sie die junge Dame bitte hinaus!«

Leonie bekam keine Chance, sie wurde in das Polizeiauto gebracht, die Zimtzicke vom Jugendamt setzte sich zu ihr auf die Rücksitzbank. Sie tat Leonie gegenüber so, als sei sie die Verständnisvolle, dabei war sie eine sadistische alte Gewitterziege, der es Freude machte, jemanden zu schikanieren.

»Leonie, du bekommst eine letzte Chance, versau sie nicht wieder!«

»Ich hab nichts gemacht!«, beteuerte Leonie lautstark. »Die schlägt mich jeden Tag, weil sie denkt, ich mache ihrem Mann schöne Augen. Jeden Tag ohrfeigt die mich. Als wenn ich …«

»Du reitest dich mit solchen Behauptungen immer weiter hinein, Leonie«, meinte sie, als wenn sie Ahnung von dem hätte, wie es in der Familie zuging und als wenn sie alles wüsste. »Wir bringen dich jetzt in eine Wohngruppe mit drei anderen Jugendlichen in deinem Alter. Das ist definitiv deine letzte Station. Wenn du dich dort auch danebenbenimmst, fliegst du raus und stehst auf der Straße. Ist dir klar, was das bedeutet?«

»Ich hab nichts gemacht, ich schwöre!«, beteuerte Leonie. Für sie war die Frau nur die Zenzi vom Jugendamt und die glotzte sie nur an und glaubte ihr nicht. Frustriert verschränkte Leonie die Arme vor der Brust, warf sich in die Polster und sagte nichts mehr.

Erwachsene sind doof. Die sind ungerecht und handelten willkürlich. Die hielten immer zusammen, wenn es um sie ging, immer. Das war schon immer so, immer. Sie schoben sie ab, wann es ihnen passte und brachten sie irgendwohin, ohne zu fragen, ob sie dahin wollte. Wenn sie erwachsen wäre, dann würde sie ganz anders handeln, ganz, ganz anders.

»Das ist ja ein ganz anderer Stadtteil!«, entsetzte sich Leonie, als sie das Ziel erreicht hatten, ein Mehrfamilienhaus an einer stark befahrenen Straße. »Muss ich denn da in eine andere Schule?«

»Das hättest du dir eher überlegen müssen, Frollein, jetzt ist es dafür zu spät.«

Das einzig Konstante in Leonies Leben war das Goethe-Gymnasium. Dort ging es einigermaßen gerecht zu, da gab es feste Regeln, wenn man sich an die hielt, dann war alles gut. Aus Angst, aufzufallen, beteiligte sie sich nie mündlich am Unterricht, aus dem Grunde kam sie über eine Zwei in ihren Lieblingsfächern nicht hinaus. Das war aber nicht weiter schlimm, denn in der Schule kam sie im Großen und Ganzen zurecht, da war sie mehr zu Hause als in dem Haus der letzten Pflegefamilie. Wenn sie jetzt auf eine andere Schule gehen müsste, wäre das eine Katastrophe.

»Bitte«, flehte sie die Jugendamtsschlampe an. »Bitte, lassen Sie mich weiter auf die Schule gehen, bitte!«

»Wieso? Bekommst du da am leichtesten Drogen? Oder gibt es in der Nähe Geschäfte, in denen man gut stehlen kann? Ja? Nichts da, du gehst hier auf die Hauptschule und fertig. Wäre eine Überraschung für mich, wenn du da den Abschluss hinbekommen würdest.«

»Bitte, ich hab Mathe-, Physik- und Deutsch-Leistung. Wir schreiben morgen eine Klassenarbeit. Bitte, lassen Sie mich weiter da auf die Schule gehen!«

»Mathe-Leistung? Du? Da lachen ja die Hühner. Ein Mädchen wie du und Leistungskurs, das ist ein Witz in sich.«

»Mathe-Leistungskurs, was sich das Kind alles ausdenkt!«, murmelte die fette Kuh noch vor sich hin, als sie das Haus betraten.

Mit Leonie bestand die WG aus drei Mädchen und einem Jungen, alle etwa in ihrem Alter, der Junge vielleicht etwas älter. Die drei schauten die Neue abschätzig an, der zuständige Sozialarbeiter war nicht da.

Leonie trug ihre Protest-Klamotten, die speziell für ihre Pflegemutter vorgesehen waren. Die regte sich immer gleich auf, wenn sie Leonie so gekleidet sah.

All ihre Anziehsachen waren aus dem Secondhandshop, weil die Pflegemutter zu geizig war, um ihr neue Kleidung zu kaufen. Weil ihr die Kleidungsstücke nicht gefielen, hatte sie sie für ihren Protest passend umgestylt. Sie trug wadenhohe, schwarze Lack-Schnürstiefel, darüber eine schwarze Leggings, die sie an den wichtigen Stellen, Knien und Schenkel, zerrissen hatte, und einen selbst gekürzten Jeansrock, den sie an allen möglichen Stellen ausgefranst hatte. Das schwarze Hemdchen obendrüber gab ihr einen leichten Gothic-Touch. Die Piercings, die sie im Gesicht trug, waren ausschließlich Fake-Piercings, aufgeklebt oder geklemmt, genauso wie die Tattoos. Sie würde sich niemals absichtlich verletzen lassen, weder für Tattoos noch für Piercings. Sogar das auffällige Zungenpiercing, mit dem sie provokativ gespielt hatte, wenn es die Pflegemutter beobachten konnte, wurde mittels Saugnapfs festgehalten.

Sie bekam ein eigenes Zimmer, klein und mit dem Fenster zur Straße, aber es war ihr Zimmer. Nur besaß die Tür leider keinen Schlüssel, sie würde ihr Zimmer nicht abschließen können. Auch das Bad besaß keinen Schlüssel. Sie begab sich gleich auf eine kleine Besichtigungstour, als die Alte vom Jugendamt gegangen war.

Den Kontakt mit den Mitbewohnern wollte sie nicht aufnehmen, sie musste erst einmal den Schock verarbeiten, aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen worden zu sein.

Das Schlimmste wäre, wenn sie tatsächlich nicht mehr in ihre Schule gehen dürfte, das wäre das Allerschlimmste. An die Schläge von der Pflegemutter hatte sie sich im Laufe der sechs Monate gewöhnt, schließlich zahlte sie ihr die mit Blicken heim, davor hatte die dumme Kuh richtig Angst gehabt.

Es klopfte laut an der Tür, Leonie erschreckte fürchterlich, gleich danach wurde die Tür aufgerissen und ein Mann rannte in ihr Zimmer. Leonie suchte gleich Deckung und verkroch sich panisch in die hinterste Ecke der Schlafcouch, auf der sie Platz genommen hatte. Der Mann trat mit ernstem Gesicht auf sie zu und streckte ihr so vehement die Hand hin, dass sie dachte, er werde sie schlagen.

»Vor mir brauchst du keine Angst zu haben, noch nicht. Ich bin Günther, mit ›th‹.«

Leonie schaute den großen Mann voller Schreck aus großen Augen an.

»Gibst du mir keine Hand? Auch gut«, meinte Günther mit ›th‹. »Um es gleich vorweg zu sagen: Das hier ist die letzte Auffangstation. Benimm dich, dann hast du hier ein schönes Leben, benimmst du dich daneben, dann fliegst du. Alles klar?«

Er stürmte im gleichen Tempo hinaus, wie er hereingestürmt war und ließ die Tür offen.

Leonie wusste weder ein noch aus. Sie kauerte sich auf der Schlafcouch zusammen und hoffte, dass die Zeit verging, dass irgendetwas passieren mochte, dass sie von dem Albtraum befreite. Nicht zum ersten Mal dachte sie daran, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Es machte einfach keinen Sinn! Sie fand sich nicht zurecht, nirgends, wo sie hinkam, war sie willkommen. Dauernd veränderte sich etwas ohne ihr Zutun und völlig unberechenbar. Außerdem kam immer alles viel schlimmer, als man es sich im schlimmsten Fall ausdenken konnte.

Sie verlor sich wie so häufig in einem Tagtraum. In dem war die Welt heile, sie war Kind reicher Eltern und brauchte sich vor nichts zu fürchten. Sie besaß einen eigenen Leibwächter, der sie vor allem beschützte. Früher nannte sie ihn Harvey, den Leibwächter. Als sie Kind war, begleitete er sie bis in die Träume hinein, er beschützte sie in der Nacht und sorgte für einen ruhigen Schlaf. In dieser ausweglosen Situation jetzt dachte sie wieder an ihn und meinte, dass er seine Hand über sie halten würde.

»Also, wenn du jetzt nicht bald kommst, dann fliegst du gleich am ersten Tag!«, herrschte plötzlich eine tiefe Stimme neben ihrem Bett, Günther stand direkt neben ihr. Leonie erwachte mit Schrecken.

»Die Zeiten stehen am Schwarzen Brett, um neunzehn Uhr ist Abendbrot, wer nicht daran teilnimmt, der fliegt. Du hast jetzt eine letzte Chance!«

Leonie sprang erschreckt auf und folgte Günther mit ›th‹ in die Küche der WG.

»Das ist Leonie, ihr macht euch bitte selbst untereinander bekannt. Leonie ist aus drei Pflegefamilien herausgeflogen, dies hier ist ihre letzte Chance, genau wie für euch alle. Sie hat sich exakt so zu benehmen wie ihr anderen, ich will keine Klagen hören.« Er schaute sie an, als wenn sie blöd wäre.

»Hast du das verstanden, Leonie?«

Leonie setzte sich auf den einzigen freien Stuhl am Tisch. Es stand weder ein Teller noch lag Besteck vor ihrem Platz. Günther bemerkte den Blick, besserwisserisch meinte er:

»Hier muss jeder für sich selbst sorgen, Besteck ist in der Schublade dort und Teller in dem Hängeschrank darüber.«

Leonie rührte sich nicht, sie schaute, unsicher, was zu tun war, in die Runde. Sie war immer noch nicht ganz wach und brachte die Zusammenhänge noch nicht wirklich auf eine Linie.

»Nun, wenn du nichts essen willst«, meinte Günther mit ›th‹ rigoros und endgültig, »Dann ist mir das auch recht. Du hast jeden Tag um neunzehn Uhr hier zu sein, hast du das verstanden?«

Leonie schaute die anderen Jugendlichen an, die blickten sie an, als wäre sie ein Tier im Zoo.

»Ob du das verstanden hast, habe ich gefragt!«, wurde Günther mit ›th‹ etwas lauter. »Dadurch, dass du störrisch bist, machst du nichts besser. So werden wir jedenfalls keine Freunde!«

Er schaute auf die Uhr.

»Also, Leute, dann bis morgen. Günther hat noch etwas zu erledigen. Seid artig!«

Er stürmte hinaus und ließ die Jugendlichen allein.

Leonie schaute sich um. Der Junge schaute ihr auf die Brust, die Mädchen wandten sich ab und tuschelten miteinander.

Leonie stand auf und ging in ihr Zimmer.

Eine Viertelstunde später kam der Junge in ihr Zimmer, ohne anzuklopfen.

»Eh, du hast Küchendienst, drücken gibt’s nicht!«

Die drei saßen noch am Tisch und schauten ihr erwartungsvoll entgegen.

»Los, worauf wartest du?«, fragte die Schwarzhaarige, die aussah wie eine Türkin. Die dicke Blonde meinte:

»Steh nicht so blöd rum, da ist die Spülmaschine, alles reinstellen! Tisch abräumen und abwischen. Kommst du vom Mond, oder wie?«

Als Leonie nach dem Küchendienst wieder in ihrem Zimmer war, suchte sie auf ihrem Handy eine Busverbindung von ihrem jetzigen Standort zu ihrer Schule. Sie müsste extrem früh aufstehen, um rechtzeitig da zu sein. Aber das war es ihr wert.

In aller Herrgottsfrühe stand sie auf und war so leise wie möglich. Sie verzichtete sogar aufs Frühstück, weil sie befürchtete, die anderen aufzuwecken. Sie fuhr schwarz mit zwei Buslinien bis zu ihrer alten Schule. Gleich in der ersten Stunde gab es die Mathe-Arbeit, sie kam gerade noch rechtzeitig in der Schule an.

Im Klassenzimmer wurde sie gleich ruhig, denn hier war alles geordnet, hier kannte sie sich aus und hier fühlte sie sich wohl. Der Lehrer kam und verteilte die Aufgabenblätter. Mathematik fiel ihr leicht. Es gab dort feste Regeln, nach denen man sich zu richten hatte, ganz einfach.

Wie immer war sie eine der ersten die die Arbeit abgaben. Sie verließ den Klassenraum, ging zum Sekretariat und bat darum, die Direktorin sprechen zu dürfen.

»Um was geht es denn?«, fragte die Sekretärin neugierig.

»Das möchte ich der Direktorin selbst sagen«, lehnte Leonie die Auskunft ab.

»Wenn du es nicht mir sagen willst, dann will es die Direktorin nicht hören«, ätzte die neugierige Sekretärin.

So brachte Leonie stockend ihr Anliegen vor, die Sekretärin griente spöttisch.

»Du bist aus der Pflegefamilie rausgeflogen? Dabei sind das so nette Leute! Was hast du denn angestellt? Hast du wieder mal mit dem Messer gedroht? Mann, Kind, so wird das doch nichts! Ich glaube nicht, dass die Direktorin dich sehen möchte!«

Mutlos wandte sich Leonie ab. In der großen Pause wartete sie, bis die Sekretärin zur Toilette ging, dann schlich sie durch das Sekretariat und klopfte zaghaft an die Tür der Direktorin. Die Tür wurde aufgerissen, die Direktorin stand vor ihr mit einer Aktentasche in der Hand zum Ausgehen bereit und war sehr überrascht sie zu sehen.

»Was machst du denn hier?«

»Darf ich Sie bitte mal kurz sprechen?«

»Lass dir einen Termin geben, ich habe jetzt keine Zeit.«

»Die Sekretärin gibt mir keinen.«

»Sie gibt dir keinen Termin? Was für ein Unsinn, natürlich gibt man dir einen Termin. Jetzt lass mich bitte durch.«

Die Direktorin eilte davon.

Es war zum Verzweifeln.

In der zweiten großen Pause schaute Leonie einer Mitschülerin dermaßen gierig beim Verzehr des Pausenbrotes zu, dass die ihr spontan anbot es mit ihr zu teilen. Als sie dann sah, wie hastig Leonie ihre Hälfte hinunterschlang, fragte sie so lange intensiv nach, bis Leonie ihr die missliche Lage schilderte, in der sie sich befand.

Francis, ein Mädchen aus behüteten Verhältnissen, konnte sich kaum vorstellen, dass die Schilderungen Leonies den Tatsachen entsprachen. Sie lud Leonie nach dem Unterricht zu sich nach Hause zum Mittagessen ein. Sie musste unbedingt ihre Neugier befriedigen, sie konnte sich nicht vorstellen so heimatlos zu leben wie Leonie. Ein wohliger Schauer durchfuhr sie, wenn sie sich ein solches Leben vorstellte. Das war bestimmt aufregend, immerzu auf sich gestellt tun und lassen zu können was man wollte.

Zu Leonies Überraschung wohnte Francis in einem tollen Haus, nicht weit weg von der Schule. Die Mutter war zu Hause und erwartete ihre Tochter. Als sie Leonie sah, wirkte sie sehr reserviert, begrüßte sie jedoch freundlich und lud sie zum Mittagessen ein.

Es war Leonie fremd, sich an einen gedeckten Tisch setzen zu können und freundlich bedient zu werden. Sie schaute sich ab, wie Francis sich benahm und versuchte, ihr Verhalten zu kopieren. Sie benutzte Messer und Gabel, saß aufrecht und hielt die Ellbogen am Körper. Sie schmatzte nicht und sprach nicht mit vollem Mund. Sie kam sich vor wie eine Lady im Film.

Die Mutter saß ebenfalls am Tisch und aß. Sie fragte, wie es in der Schule gewesen war und was sie erlebt hatten. Zu Leonies Erstaunen war sie wirklich interessiert und auch informiert, was sich in der Schule tat. Sie konnte kaum glauben, dass sich eine Erwachsene dafür interessierte, was Jugendliche dachten und taten.

Sie bemerkte sehr wohl, dass die Mutter sie beobachtete und gab sich große Mühe, sich gut zu benehmen.

Nach dem Essen fragte die Mutter Leonie aus, sie versuchte es zumindest. Erwachsene waren dem Mädchen jedoch nicht geheuer, sie gab so lange einsilbige Antworten, bis es Francis zu peinlich wurde und sie vorschlug, die Schularbeiten in ihrem Zimmer zu erledigen.

Francis brachte die Schulkollegin abends auf ihrem Roller zu der WG. Leonie wollte unbedingt vermeiden, dass Francis ihre Wohnsituation sah und würde sie nur äußerst ungern den Mitbewohnern vorstellen. Francis bemerkte das und verabschiedete sich diskret unten auf der Straße.

»Bis morgen!«, rief sie und winkte Leonie zu.

Die fand es cool, in einer so reichen Familie zu leben, das wäre etwas für sie. Reich sein, ein eigenes Haus haben, einen eigenen Roller zu haben und hinfahren zu können, wo man wollte, das wäre echt cool.

»Das ist aber gerade eben noch rechtzeitig!«, begrüßte sie der Sozialarbeiter.

Es war fünf Minuten vor sieben Uhr, Leonie zuckte mit der Schulter. Sie brachte ihre Schulsachen in ihr Zimmer, es war durchsucht und ziemlich unordentlich zurückgelassen worden.

Sie ging aufgebracht zum Abendbrottisch, an dem die gesamte WG und der Sozialarbeiter Platz genommen hatten. Für sie war nicht gedeckt.

»Wer war in meinem Zimmer?«, fragte sie laut.

»Wir haben keine Geheimnisse«, sagte der Sozialarbeiter und schaute sie mit wichtiger Miene und gerunzelter Stirn an.

»Wo warst du den ganzen Tag? In der Schule warst du nicht!«

Sie sollte ihn ›Günther‹ nennen, er hatte sich mit Frenzen vorgestellt, sie nannte ihn ›Herr Frenzen‹.

»In die Hauptschule gehe ich nicht, das habe ich gesagt.«

»Du gehst da hin, wohin du zu gehen hast, ist das klar?«

Leonie schwieg, der Typ konnte sie mal.

»Ich werde dir die Flausen schon aus dem Kopf schlagen, Mädchen, da kannst du sicher sein!«

Er drohte ihr damit ganz offen Prügel an. Die Androhung von Schlägen konnte sie jedoch seit der letzten Pflegefamilie nicht mehr einschüchtern, die waren ihr egal. Sie fühlte sich dadurch jedoch in ihrer Sicht bestätigt, was die Erwachsenen betraf. Die handelten immer willkürlich, immer.

»Du gehst morgen früh zur Schule, Frollein«, fuhr er in aggressivem Ton fort, »damit das klar ist! Ansonsten ziehen wir andere Saiten auf!«

Was konnte der ihr schon androhen?

Leonie stand auf und ging in ihr Zimmer. Sie würden morgen eine Physik-Arbeit schreiben, dafür wollte sie noch ein wenig üben. Frenzen kam ihr nach.

»Du wirst funktionieren, junges Fräulein, haben wir uns da verstanden?«

Mit ihrem Blick gab sie ihm zu verstehen, was er sie konnte.

»Kein Wunder, dass du überall rausfliegst!«, beleidigte er sie, als er sah, dass er mit seiner aufgebrachten Art nicht weiterkam. Er knallte die Tür hinter sich zu.

Leonie war froh, dass sie allein sein konnte. Ein paar Minuten später platzte die Blonde in ihr Zimmer:

»Küchendienst, los, du Schlampe!«

Leonie ergab sich in ihr Schicksal und räumte die Küche auf. Die drei Mitbewohner blieben am Tisch sitzen, lästerten über sie ab und beobachteten sie bei der Arbeit, ohne auch nur einen Finger zu rühren.

Leonie ging früh schlafen, weil sie so früh aufstehen musste.

Sie war noch nicht eingeschlafen, da öffnete sich die Tür leise und schloss sich gleich wieder, das Licht wurde eingeschaltet.

Der Junge, ihr Mitbewohner Mario, stand da in Unterhose und grinste sie an.

»So, Schätzchen, du bist dran. Es geht der Reihe nach und heute bist du an der Reihe!«

»Verschwinde!«, sagte Leonie und legte sich wieder lang. Vor Angst, was jetzt passieren würde, klopfte ihr Herz so heftig, als wenn es aus der Brust ausbrechen wollte. Trotzdem tat sie so, als wolle sie wieder einschlafen.

Er trat an ihr Bett und fasste die Decke an, um sie ihr wegzuziehen.

Leonie schrie richtig laut:

»Hau ab, du Idiot, verschwinde!«

»Schrei du ruhig!«, meinte der Junge schadenfroh und riss ihr mit einem kräftigen Ruck die Decke vom Körper. »Günni ist bei seiner Perle und die Mädchen wissen Bescheid. Du bist heute dran, da nützt dir dein Geschrei überhaupt nichts.«

Er gaffte sie gierig an, den Blick kannte Leonie zur Genüge.

»Ich hab’s aber ganz gerne, wenn du dich wehrst«, meinte er, die steigende Erregung war ihm deutlich anzumerken und auch an der Hose zu sehen, »das find ich geil. Nun stell dich nicht so an, du weißt doch, wie es geht. Vielleicht kann ich noch etwas von dir lernen.«

»Du Spinner!«, schrie sie ihn an. »Wag es ja nicht!«

Sie versuchte, ihn zu treten, als er sich auf ihr Bett kniete. Er fing erst eines ihrer Beine, dann das zweite, beugte ihre Knie und legte sich mit seinem ganzen Gewicht darauf.

»Meine Fresse eh, das hab ich ja noch nie gesehen!«, meinte er gepresst durch die Anstrengung, die es ihn kostete, sie ruhig zu halten. »Die Knie gehen dir ja bis an die Ohren! Du hast ein echt geiles Fahrgestell!«

Er versuchte, sie zu küssen, sie spuckte ihn an. Mit den Schultern hielt er ihre Beine so an ihren Körper gepresst, dass auch die Arme eingeklemmt waren. Er lag mit seinem ganzen Gewicht auf der zusammengefalteten und wehrlosen Leonie.

Er hielt ihr Mund und Nase zu.

Leonie riss die Augen auf, weit auf, sie kriegte keine Luft mehr! Er hielt sie einige Zeit so, sie bekam Erstickungsanfälle und eine Panikattacke.

»Hör auf, dich zu wehren, sonst halte ich dir Mund und Nase so lange zu, bis du bewusstlos bist und fick dich dann. Ob du dann noch mal wach wirst, weiß ich nicht, ist mir auch egal.«

Leonie stellte ihren Widerstand ein.

»Hörst du auf, dich zu wehren?«, fragte er und hielt weiterhin seine nach Rauch riechende Hand auf Mund und Nase. Leonie nickte fest mit weit aufgerissenen Augen.

Er ließ sie frei, sie holte aufgeregt Luft und atmete und atmete, um ihre Luftnot zu beheben.

»Du blödes Arschloch!«, rief sie außer sich.

»Ich hab dich auch lieb«, erwiderte er grinsend. »Jetzt mach schon, zieh dich aus!«

»Leck mich!«, rief sie.

»Das kannst du haben!«, meinte er und riss ihr mit einem entschlossenen Ruck das Schlafanzughöschen vom Leib.

»Eh, ungeil!«, rief er entrüstet und deutete auf ihre Mitte. »Du musst dich rasieren!«

Leonie gab keine Antwort. Der Junge zerrte sich die Shorts vom Leib, sein Glied stand aufrecht dort, Leonie betrachtete es ängstlich. Er legte sich auf sie und versuchte, in sie einzudringen. Leonie war vollkommen trocken, es ging nicht hinein.

»Eh, du Arsch, tu wenigstens Creme drauf! Und zieh gefälligst ein Kondom drüber!«

Er schnappte sich die Nachtcreme von dem Stuhl neben dem Bett, klatschte eine Handvoll davon zwischen Leonies Beine.

»Hier gibt es keine Kondome!«, brummelte er, legte sich auf sie und drang ein.

Er fickte sie ohne Kondom!

Leonie schaltete ab.

Sie klammerte den Unterleib aus ihren Empfindungen aus. Der Junge auf und in ihr begann, zu rammeln. Leonie war das seit ihrem zehnten Lebensjahr gewohnt. Ihr damaliger Pflegevater kam sie häufig abends besuchen und verging sich an ihr. Er sagte dazu, dass ein Mädchen so etwas aushalten müsste, das wäre ganz normal. Leonie glaubte ihm. Es war ihr peinlich, über so etwas mit einem anderen zu sprechen, deswegen behielt sie es für sich. Erwachsenen traute sie bereits damals schon nicht und die anderen Kinder in ihrer Umgebung hatten häufig ähnliche Leidensgeschichten, deswegen behielt sie diese Erlebnisse als Geheimnis bei sich.

Die Missetaten des Pflegevaters fielen erst auf, als er sich an einem vierzehnjährigen Jungen verging. Der vertraute sich seinem Fußballtrainer an, daraufhin wurde die Pflegefamilie aufgelöst. Der Missbrauch an ihr wurde nicht entdeckt und auch nicht geahndet. Leonie kam in ihre zweite Pflegefamilie, dort wurde sie von dem ältesten Pflegebruder und dem Bruder der Pflegemutter sehr häufig missbraucht.

Mittlerweile wusste sie Bescheid, ein Mädchen musste so etwas aushalten können, das war ganz normal. Die Pflegefamilie strandete, weil die Mutter mehr und mehr dem Alkohol verfiel, Leonie kam zu der letzten Pflegefamilie. Dort wurde sie sexuell nicht behelligt, die Pflegemutter ohrfeigte das Mädchen jedoch bei jeder Kleinigkeit. An die Schläge konnte sie sich eher gewöhnen als an den Missbrauch, aber auch aus der Familie war sie nun herausgerissen worden und wusste nicht einmal, warum. Sie war in dieser unaussprechlich miesen WG gelandet und lag bereits am zweiten Tag unter dem schwitzenden Jungen, der sie vergewaltigte. Sie hatte die Wahl, entweder zu sterben oder es über sich ergehen zu lassen.

Es gab eine Technik, sich von dem Geschehen zu befreien, man klammerte es aus und drückte es weg. Beispielsweise tauschte man es gegen angenehme Erinnerungen und Wunschvorstellungen aus.

Sie dachte an das schöne Haus von Francis. So eines wollte sie ebenfalls haben, wenn sie erwachsen wäre. Sie würde einen tüchtigen Mann haben und mindestens zwei Kinder. Sie wäre denen eine gute Mutter, oh ja. Sie würde auf sie warten, wenn sie aus der Schule kämen. Oder sie würde sie von der Schule abholen, zumindest wenn sie noch klein wären. Das würde sie machen. Und sie wäre immer für die Kinder da, selbstverständlich. Wenn sie Ärger hätten, dann würde sie mit ihnen zu demjenigen hingehen, der den Ärger verursachte und würde ihn zusammenstauchen. Ganz bestimmt würde sie das. Sie würde immer zu ihren Kindern halten und ihnen bei allen Schwierigkeiten zur Seite stehen. Das würde ihre Aufgabe sein und sie würde sie gern ausfüllen.

Der Junge auf ihr begann, zu ächzen und wurde hektisch. Leonie konnte es kaum erwarten, ihn loszuwerden. Er verkrampfte, stöhnte laut und nachdrücklich, drückte seinen Penis ganz tief in sie hinein und erschlaffte. Leonie bedachte ihn mit Fußtritten und schubste ihn mit aller Gewalt von sich hinunter.

»Du Arsch, eh, jetzt verschwinde!«

»Bist ‘ne geile Fotze, bis bald, meine Süße!«, meinte der Junge grinsend. Er atmete noch schwer, sein Gesicht war gerötet und er schwitzte. Mit der Shorts in der Hand verließ er Leonies Zimmer.

Leonie hielt sich die Schlafanzughose vor und wollte ins Bad. Das Mädchen, das aussah wie eine Türkin, rannte über den Flur, um schnell noch vor ihr das Bad zu erreichen.

»Besetzt!«, meinte sie schadenfroh und knallte Leonie die Tür vor der Nase zu.

Sie holte sich aus der Küche die Küchenrolle und reinigte sich in ihrem Zimmer notdürftig. Als sie die Badezimmertür auf- und zuklappen hörte, ging sie schnell dort hinein und duschte sich gründlich ab.

Mädchen sein war wirklich eine Plage. Wenn sie das nächste Mal auf die Welt käme, dann möglichst als Junge. Die konnten machen, was sie wollten und die konnten sich nehmen, was sie wollten. Sie brauchten im Haushalt nichts zu tun, konnten faul auf dem Sofa liegen und die Frauen mussten in der Küche und im Haushalt arbeiten und wurden dafür auch noch angemeckert. Abends dann mussten sie sich ficken lassen und hatten auch da nichts zu melden, weil die Männer einfach stärker waren und sich nehmen konnten und machen durften, was sie wollten.

Leonie weinte unter der Dusche. Sie würde niemandem zeigen, dass sie weinte, niemals. Sie wurden dann noch gemeiner und noch brutaler, die Schweine!

Sie schlief schlecht und träumte wirr. Sie stand wieder so früh auf, um den Bus noch zu bekommen, hoffentlich würde sie nicht kontrolliert werden.

Als sie die Wohnung verlassen wollte, fand sie die Tür zum Treppenhaus verschlossen vor.

Um halb acht kam der Sozialarbeiter und schloss von außen die Wohnungstür auf. Er sah Leonie in der Küche sitzen.

»War wohl nix mit abhauen, wie?«

»Bitte, Herr Frenzen, lassen Sie mich gehen, ich muss zur Schule!«

Heute stand die Physik-Arbeit an, auf die sich Leonie schon seit Tagen freute.

»Ich bringe dich zur Schule, Frollein, keine Bange. Ich sorge dafür, dass du ein geregeltes Leben führst, verlass dich drauf!«

Er nötigte sie in seinen alten Mercedes und fuhr mit ihr durch den dichten Stadtverkehr.

»Gib mir mal dein Handy!«, verlangte er.

Sie würde ihm im Leben nicht ihr Handy geben, niemals. Er sah ihren ablehnenden Gesichtsausdruck.

»Störrisch sein hilft dir nix! Aber keine Sorge, ich will nur deine Nummer haben, damit ich dich anrufen kann und weiß, wo du bist.«

Leonie schaltete schnell.

»Mein Guthaben ist abgelaufen, um es wieder in Betrieb setzen zu können, brauche ich zwanzig Euro.«

Frenzen griente, als wenn er sich so etwas gedacht hätte.

»Gib mir deine Nummer und ich lade es mit zwanzig Euro auf.«

»Geben Sie mir Ihres, ich tippe Ihnen meine Nummer ein.«

So verblieben sie. Tatsächlich überwies er ihr zwanzig Euro Guthaben auf ihr Handy-Konto.

Als sie an der Schule angekommen waren, ein kalter und schmutzig wirkender Betonkasten, führte er sie wie eine Verbrecherin am Arm in das Gebäude hinein. Sie wurde von Schülern und Lehrern neugierig begafft. Sie kam sich vor wie eine Schwerkriminelle, die ins Gefängnis gebracht wurde. Er zerrte sie ins Sekretariat. Dort hatte man erst einmal keine Zeit für sie, es herrschte hektisch wirkender Betrieb.

Erst nach geraumer Zeit wandte sich eine etwas ältere Frau an sie, sie blickte den Frenzen und sie über eine halbe Brille kritisch an.

»Wen haben wir denn da?«, fragte sie.

Frenzen packte sie wieder am Arm und schob sie an den Tresen, hinter dem die Frau sie abschätzig beäugte.

»Das ist Leonie, äh …« Er blickte sie auffordernd an, sie solle ihm ihren Nachnamen sagen. Sie rührte sich nicht.

Die Frau hinter dem Tresen schaute ihn spöttisch an. Sie sah aus, als wenn sie ihn in dem Moment in die Kategorie ›inkompetent‹ einsortierte.

»Und Sie sind der Herr?«, fragte sie mit einem kleinen verächtlichen Lächeln nur in den Mundwinkeln.

»Frenzen, Sozialarbeiter, ich, wir sind angemeldet.«

»Ah ja, wir haben schon auf Sie gewartet. Dann ist das hier Leonie Bölting, hallo, Leonie, herzlich willkommen auf der Alexander-von-Humboldt-Hauptschule. Lassen Sie sie bitte los, Herr Frenzen«, wandte sie sich energisch an den Sozialarbeiter.

»Öh, ja«, verlegen nahm er die Hand von ihrem Arm.

»Leonie, es wird dir hier gefallen, unsere Schule ist nicht so schlecht wie ihr Ruf, ich bin sicher, dass du dich hier wohlfühlen wirst. Mein Name ist Frau Tenhagen, ich bin die Rektorin. Wenn irgendetwas ist, dann bin ich gern für dich da. Meine Tür steht dir immer offen. Dein Klassenlehrer, Herr Prast, bringt dich gleich in die Klasse. Nimm bitte dort so lange Platz, ich habe mit dem Herrn hier noch die Formalitäten zu erledigen.«

Leonie setzte sich auf einen der Stühle an der Wand in der Nähe der Tür. In dem Sekretariat herrschte ein reges Treiben, Frenzen ging mit der Rektorin an die andere Ecke des Tresens, um irgendetwas zu regeln. Durch die Tür kamen laufend Leute herein und gingen wieder hinaus.

Leonie nahm allen Mut zusammen und flitzte in einem unbeobachteten Moment durch die Tür hinaus. Auf dem Handy hatte sie bereits die Busverbindung von der Hauptschule bis zu ihrer Schule herausgesucht, es fuhr in den nächsten zwei Minuten einer ab, der quer durch die ganze Stadt direkt zu ihrer Schule fuhr. Aus voller Kraft rennend und heftig winkend, erreichte sie den Bus in der allerletzten Sekunde, bevor sich die Türen schlossen. Sie verzog sich in die hinterste Ecke und verhielt sich so unauffällig wie möglich. Sie trug in der WG wie ehemals in der Pflegefamilie die Haare zu einer wilden Punkfrisur aufgetürmt. Das Gel ließ sich jetzt nicht entfernen, sie band die klebrigen Haare in einen festen Dutt zusammen, damit lagen die Haare dicht am Kopf an und wurden kräftig aus dem Gesicht gezogen. So kannte man sie in der Schule.

Unbehelligt erreichte sie ihr Ziel. In vollem Tempo rannte sie zu dem Physiksaal, sie erreichte ihn fünf Minuten nach Unterrichtsbeginn der zweiten Stunde.

»Ach, da bist du ja, Leonie!«, begrüßte sie der Physiklehrer freundlich. »Setz dich hier vorn hin, die anderen haben schon begonnen. Hier ist dein Aufgabenblatt.«

Noch völlig außer Atem setzte sie sich auf den zugewiesenen Platz. Sie kam sofort zur Ruhe, denn im Physiksaal war sie sicher, hier konnte sie sich auf die Aufgaben konzentrieren. Alle Aufgaben, die in der Physik behandelt wurden, beruhten auf Naturgesetzen. Die waren nicht verhandelbar und nicht auszulegen, sie waren unverbrüchliche Fakten. Kein Erwachsener konnte sie anders interpretieren als eine Schülerin, genau wie in der Mathematik gab es nur richtig oder falsch ohne die Möglichkeit der Manipulation. Leonie liebte die Naturwissenschaften, in den Fächern war sie sicher und eine sehr gute Schülerin. Da sie aus Furcht, sich zu blamieren, nicht am mündlichen Unterricht teilnahm, kam sie über eine Zwei nicht hinaus. Aber die stand felsenfest, daran gab es weder für sie noch für den Lehrer einen Zweifel.

Alles, was in der Arbeit verlangt wurde, hatten sie in den letzten Stunden behandelt, keine der Fragen stellte für Leonie eine Schwierigkeit dar. Innerhalb kürzester Zeit hatte sie alle Fragen beantwortet. Auch beim zweiten Durchlesen fand sie keinen Fehler.

Aus Spaß an der Materie und weil sie noch mehr als die Hälfte der Unterrichtsstunde Zeit hatte, nahm sie ein leeres Blatt und stellte sich selbst eine Aufgabe. Sie wollte herausknobeln, wie groß der Unterschied der Lichteinstrahlung bei Vollmond im Verhältnis zu hellem Sonnenschein war.

Das Albedo des Mondes wusste sie, dafür interessierte sie sich, deswegen hatte sie die Zahl behalten. Nur die Größe der Oberfläche des Mondes kannte sie nicht, war das jetzt ein Achtel der Erdoberfläche?

Sie zeigte auf, der Physiklehrer trat an ihren Platz. Sie berichtete ihm, welche Aufgabe sie sich gestellt hatte.

»Bist du mit der Arbeit schon fertig?«, fragte er freundlich. Er mochte sie, das kam deutlich herüber.

Sie gab ihm das fertig ausgefüllte Aufgabenblatt.

»Schön!«, sagte er und nahm es an sich. »Die Oberfläche des Mondes bekommen wir heraus.«

Er zwinkerte ihr zu. Nur wenige Minuten später legte er ihr sein Tablet aufs Pult, darauf war die Wikipedia-Seite abgebildet, auf der der Mond abgehandelt wurde, von der übernahm sie die Daten.

Sie rechnete ihr Problem durch, so wie sie es geplant hatte und ignorierte die weiteren Angaben auf dem Tablet. Der Lehrer hielt sie im Blick und beobachtete, wie die Schülerin eifrig und voll konzentriert ihrem Problem auf den Leib ging.

Das Mädchen beeindruckte ihn sehr. Sie kam ganz offensichtlich aus sehr schwierigen Verhältnissen. In den meisten Fächern lag sie auf oder unter dem Durchschnitt, in den Fächern, die er unterrichtete, jedoch schlug sie sich überragend. Mathematik und Physik Leistungskurs, beide mit Zwei, das gab es sehr selten. Und ein Kind aus solchen Verhältnissen schaffte das seines Wissens nach niemals. Dass man sie trotz ihres grenzwertigen Auftritts hier auf dem Elite-Gymnasium behielt, verdankte sie hauptsächlich ihren Leistungen und in geringem Umfang seiner Fürsprache.

Am Ende der Stunde, als alle Schüler ihre Arbeitsblätter abgegeben hatten und sich der Physiksaal leerte, erbat er sich das Blatt, auf dem sie so eifrig gerechnet hatte.

»Deine Leistungen sind wirklich überragend, Leonie. Weißt du schon, was du einmal werden möchtest?«, fragte er das Mädchen, als sie beinahe allein im Zimmer waren.

Sie konnte ihm schlecht von ihrem Traum erzählen, dass sie ein eigenes Haus und einen Mann und zwei Kinder wollte.

»Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht«, gab sie zur Auskunft. Zu dem Mann konnte man freundlich sein, ohne dass er gleich etwas wollte oder sie zusammenstauchte. Mit dem konnte man reden.

Spontan berichtete sie ihm von ihrer Situation. Sie erzählte so weit wie möglich alles, was sich zugetragen hatte. Dass der Junge sie gestern Abend vergewaltigt hatte, konnte sie nicht erzählen, aber dass sie aus ihrer Pflegefamilie herausgerissen worden war und man sie zwingen wollte, die Schule zu verlassen, das erzählte sie so, wie es sich zugetragen hatte.

»Mein Gott, Kind!«, meinte er entsetzt. Er wusste ja, dass ihre Verhältnisse schwierig waren, aber er hatte keine Ahnung, dass sie so schwierig waren. Er konnte sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellen, dass es solche Verhältnisse überhaupt gab.

Mit einem Mal verstand er, warum die Schule und er und die Fächer, die er unterrichtete, so wichtig für das Mädchen waren. Er und die Schule boten ihr den einzigen Ankerpunkt im Leben. Er war fast verzweifelt vor Mitgefühl mit dem heimatlosen Kind. Was musste dieses Mädchen für Leid erfahren haben.

»Komm bitte in der zweiten großen Pause zu mir ans Lehrerzimmer, ich muss erst einmal überlegen, was wir tun können.«

Er überlegte ein paar Minuten, während denen er das Kind anschaute. Wie mager sie war, wie melancholisch und getrieben der Blick.

»Gibt man dir ein Pausenbrot mit dort, wo du wohnst?«, fragte er. Er wollte sie nicht in Verlegenheit bringen, er fragte so vorsichtig, wie es ging.

Erwartungsgemäß verneinte sie.

»Im Schulkiosk bieten sie so extrem leckere Schinkenbrötchen an, würdest du mir bitte eines holen und mir hier aufs Pult legen? Ich nehme es dann später mit. Bitte kauf dir auch ein oder besser zwei Brötchen. Hier hast du zehn Euro, das Wechselgeld behältst du bitte. In der zweiten großen Pause, okay?«

Leonie schaute den Pädagogen misstrauisch an, als er ihr den Geldschein gab. Aber sie konnte beruhigt sein, er machte keine Anstalten, mehr von ihr zu verlangen, als das Brötchen zu holen.

Die beiden Brötchen schmeckten wunderbar auf den nüchternen Magen. Gierig schlang sie sie hinunter.

Francis traf sie an die Mauer der Sporthalle gelehnt.

»Heh, na? Wie war die Arbeit?«, wurde sie gefragt.

Francis übergab ihr ein Päckchen.

»Ist von meiner Mam, ich soll es dir geben, sie meint, du könntest es gebrauchen. Keine Ahnung, was drin ist.«

Leonie packte aus. Der kleine Karton enthielt eine nigelnagelneue Leggings, eine Monatskarte für den Bus und einen Zwanzigeuroschein. Leonie schaute sprachlos auf die Gaben. Ihr hatte noch nie jemand etwas geschenkt, noch nie. Sie war verlegen wie nur was, sie wusste nicht, welche Reaktion von ihr erwartet wurde. Sie hatte keine Ahnung, ob sie diese Geschenke annehmen sollte oder nicht.

Dabei traf jeder einzelne Gegenstand genau ins Schwarze, haargenau das, was sie jetzt brauchte. Die zerrissene Leggings war das, was sie für die Provokation in der ehemaligen Pflegefamilie brauchen konnte, eine andere hatte sie nicht. Hier jetzt im Kampf um die richtige Schule war ihr ein seriöserer Auftritt wesentlich lieber. Dann die Busfahrkarte. Damit brauchte sie keine Angst mehr zu haben, beim Schwarzfahren erwischt zu werden, denn hiermit hatte sie das Recht, einen ganzen Monat lang mit dem Bus zu fahren. Es war ein Geschenk des Himmels. Die zwanzig Euro zusammen mit dem Wechselgeld des Physiklehrers waren ein Trumpf in ihrer Hand, der ihr deutlich mehr Bewegungsfreiheit und Unabhängigkeit gab. Sie fühlte sich mit einem Mal stark, mit der richtigen Unterstützung würde sie das schaffen, was sie erreichen wollte.

Sie bedankte sich bei Francis, die schien tatsächlich nicht gewusst zu haben, was ihre Mutter in das Päckchen gepackt hatte. Für sie war es so selbstverständlich, etwas geschenkt zu bekommen, dass sie sich die Freude Leonies nicht so recht erklären konnte. Genügend Geld zu haben, war ihr ebenfalls selbstverständlich, trotzdem freute sie sich mit Leonie. Das ging auch nicht anders, weil ihr die neue Freundin um den Hals fiel und sich dermaßen freute, dass man unbedingt einstimmen musste.

Leonies Gesichtsausdruck veränderte sich vollständig, war sie normalerweise mürrisch bis aggressiv, wirkte sie ganz anders mit entspanntem Gesicht. Man sah jetzt erst ihre Jugend, das gleichmäßige Gesicht, ihren wunderschönen Mund, die beiden Reihen perlweißer Zähne. Sie sah umwerfend aus mit dem strahlenden Lächeln.

Leonie sah sich außerstande, das Lächeln abzustellen, als sie es einmal zugelassen hatte.

»Sag deiner Mam tausend Dank, nein, sag ihr eine Million Dank, nein, sag ihr einfach ganz, ganz lieben Dank. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Es ist voll krass von ihr, so an mich zu denken, ich kann es noch nicht glauben. Ich weiß echt nicht, was ich sagen soll, echt. Ich hab keine Ahnung, was ich jemals wieder sagen soll.«

Francis griente.

»Dafür, dass du nichts zu sagen weißt, quasselst du aber ganz schön.«

Leonie stutzte und umarmte die Freundin glücklich lachend. Francis konnte sich nicht erinnern, Leonie jemals lachen gehört zu haben. Es war ein glucksendes Lachen, eines, das ansteckend war, ein nettes und freundliches Lachen. Sie freute sich darüber, dass die Freundin so glücklich war und wünschte sich, sie noch öfter so glücklich zu sehen.

Nach der vierten Stunde wartete Leonie die gesamte große Pause vor dem Lehrerzimmer auf den Physik- und Mathelehrer. Er kam nicht.

Als es erneut zum Unterricht läutete, ging sie ins Sekretariat und fragte:

»Ist der Herr Bauer zu sprechen? Er wollte mir etwas sagen.«

»Ach, du schon wieder«, begrüßte sie die neugierige Sekretärin abschätzig. »Herr Bauer ist schon weg, er hatte heute nur vier Stunden. Wieso? Was wollte er dir sagen?«

Leonie fühlte die Enttäuschung im Magen, ein dicker Kloß wurde ihr hineingestoßen und nahm ihr beinahe den Atem. Sie hatte so große Hoffnungen auf den Lehrer gesetzt, er hatte es ihr versprochen. So waren die Erwachsenen halt, sie fühlten sich an ihr Wort nicht gebunden, zumindest dann nicht, wenn sie es Kindern oder Jugendlichen gegeben hatten.

Seine Reaktion war ganz normal für einen Erwachsenen, sie war ihm nicht wichtig genug. Sie fühlte sich in ihrer negativen Weltsicht bestätigt.

Jung und nymphoman - Vom Loverboy zum Sugardaddy | Erotischer Roman

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