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Mittsommerliebe

1

Als ich fünfzehn war, kam ich zum ersten Mal in die Stadt. Meine Mutter nahm mich mit. Natürlich war ich schon vorher dort gewesen. Aber richtig, ich meine, so, dass ich ohne sie alleine in Nürnberg unterwegs sein durfte – das war neu.

Es war ein paar Tage vor dem Mittsommerfest. Bei uns im Dorf waren die großen Räder bereits fertig; und während der Zugfahrt konnte ich sehen, dass sie in manchen Dörfern auch schon Räder aufgestellt und die Hürden aufgebaut hatten.

Ich weiß noch, was für ein schöner Sommer das war. Er hatte schon im Mai angefangen, und manchmal lag ich nachts lange wach. Ich hatte immer die Fenster offen. Nicht, weil es so warm war – bei uns oben waren auch die Mainächte noch kühl –, aber ich hörte so gerne die Geräusche der Nacht, das Summen der großen Windmühlen. So ein tiefes Summen, das durch die Wände ging. Ich glaubte, mein Bett würde mitvibrieren, und wenn ich ganz still lag, klopfte mein Herz manchmal so stark, dass die Schläge einen Takt über dieses Summen schlugen und das Bett erschütterte. Als wir in der Schule den Elektromotor durchgenommen hatten, sollten wir die Achse mit der Hand bewegen, und ich hatte es als ein wunderbares Gefühl empfunden: Erst ging es ganz leicht, dann wie einen unsichtbaren Berg hinauf, eine gleitende Schwere gegen das Magnetfeld, und dann der Schwung aus dem Feld – in solchen Nächten stellte ich mir vor, ich wäre die Achse in einem solchen Feld, drehte mich in einem tiefen Summen. Und ich dachte dabei bunte Bilder von der Stadt. Über meinem Bett hing eine Doppelseite aus einer Illustrierten. Das Bild eines morgenkühlen Parks mitten zwischen eleganten, verspiegelten Hochhäusern irgendeiner Großstadt. Davon träumte ich damals.

Nürnberg war ganz anders. Aber das wusste ich noch nicht. Ich kannte dort eigentlich nur die Straße, in der meine Großeltern gewohnt hatten, und das war auch schon lange her gewesen. Wir hatten den Großvater in der Klinik besucht. Meine Mutter und ich hatten im Wartezimmer auf ihn warten müssen, bis eine Sekretärin uns in sein Büro führte. Damals kam mir das nicht seltsam vor. Auch nicht, dass ich ihn siezen musste. Sein Büro war penibel ordentlich, aber auf dem niedrigen Tisch standen ein paar Tiere aus Glas, mit denen ich spielen durfte. Und als wir gingen, war ich sehr stolz, dass mein Großvater ein berühmter Arzt war. Die Sekretärin schenkte mir einen gläsernen Schwan. Aber jedes Mal, wenn wir ein paar Tage in seinem großen Haus wohnten, sah ich immer nur die Großmutter. Ins Parterre, wo er sein Arbeitszimmer und seinen Salon hatte, durfte ich nicht.

Diesmal gingen wir ins Hotel. Nürnberg war europäische Hauptstadt in diesem Jahr, und es gab Kongresse, Veranstaltungen und Messen ohne Ende. Meine Mutter hatte eine Einladung bekommen, sie sollte auf der World Convention of Applied Genetics sprechen. Den Namen und das Siegel kannte ich mittlerweile auswendig. Sie hatte es mir bestimmt fünfmal gezeigt. Das war so ungefähr die höchste Ehre, die man als Genetikerin erlangen konnte. Und ich hatte es bestimmt dann noch dreimal in Ruhe gelesen, mit einem englischen Wörterbuch. Ich muss zugeben, dass ich damals ziemlich überrascht war. Ich meine, wir lebten ja schließlich auf irgendeinem Dorf mitten auf dem Land. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass meine Mutter irgendwie besonders war. Wir hatten kein Labor oder so. An drei Tagen in der Woche arbeitete sie in der Klinik der Kreisstadt und ansonsten zu Hause am Computer. Und so richtig wusste ich nicht, woran sie forschte. Klar, wenn wir hinten in der Scheune ein geheimes Labor gehabt hätten, wo sie Frankenstein gespielt hätte, oder wenn wir eine illegale Monsterzucht gehabt hätten. Aber so interessierte es mich eigentlich nicht wirklich. Ich war mit mir beschäftigt. Und das Beste war, dass sie absolut keine Zeit für mich hatte, während wir in Nürnberg waren. Und ich hatte wirklich großes Glück – dafür hätte ich kille irgend jemandem danken müssen –, die Convention fiel genau in die Mittsommerferien. Ich war also hoch gespannt vor Erwartung, genau wie meine Mutter, aber aus anderen Gründen, und deshalb redeten wir beide nicht sehr viel während der Fahrt. Wir waren noch nie mit dem Zug in die Stadt gekommen. Früher, als wir die Großmutter noch besucht hatten, waren wir immer von Großvaters Fahrer abgeholt und gebracht worden. Das war eine meiner besten Kindheitserinnerungen; die anderen Kinder wären fast geplatzt. Die hätten alles gegeben, wenn sie hätten mitfahren dürfen. Aber jetzt war ich bestimmt seit acht Jahren in keinem Auto mehr gesessen. Deshalb traf mich der Anblick der Stadt, als wir aus dem klimatisierten Bahnhof traten, genauso unvorbereitet wie die glühende Luft: Vor dem Bahnhof verliefen die Straßen vierspurig, und davon waren nur zwei für die Öffis. Die beiden anderen waren voller Autos. Und sie waren nie leer. Irgendwo fuhr immer eins. Ich meine, es gab Autos, in denen ein einziger Mensch saß. Und die Leute in den Bussen oder in den Stadtbahnen schauten nicht mal hin.

»Wow«, sagte ich. Ich konnte einfach nicht mehr sagen. Meine Mutter grinste trotz ihrer Nervosität:

»Das«, sagte sie ein bisschen stolz, weil sie ja in der Stadt aufgewachsen war, »ist noch gar nichts. Früher konntest du hier ohne Ampel nicht mal über die Straße.«

»Kille«, sagte ich, »absolut kille.«

»Hey, Großer«, sagte meine Mutter und stieß mich an, »wollen wir auch?«

Ich sah sie an.

»Autofahren?«, fragte ich. »Klar! Aber nur, wenn wir das Hotel noch zahlen können, ja? Ich will nicht eine Woche hungern, bloß um fünf Minuten Auto zu fahren.«

»Die Applied Genetics zahlen das Hotel. Und die Spesen«, sagte meine Mutter stolz, »das nutzen wir aus. So oft kommt man nicht in die Stadt. Komm, Jung.«

Wenn sie »Jung« sagte, war sie gut gelaunt. Ich folgte ihr neugierig. Aber sie ging nicht zu den Taxiständen. In unserer Kreisstadt gab es auch ein Taxi. Aber das fuhr fast nie, sondern stand meistens vor dem Rathaus herum, außer, wenn der Minister kam oder so.

Und meine Mutter ging noch einmal in den Bahnhof zu einem blau-weißen Schalter. Ich kam hin, als sie eben ihren Führerschein zeigte. Ich glaube, sie hatte das von Anfang an geplant, bloß um mein Gesicht zu sehen.

»Du hast einen Führerschein?«, fragte ich völlig perplex. »Zeig mal!«

»Im Auto«, sagte meine Mutter. Sie muss es wirklich genossen haben, damals, als wir zusammen über den Bahnhofsplatz gingen, zum Parkplatz, wo neben jedem Auto ein Butler stand und den Leuten die Tür aufmachte. Ich habe nie vergessen, wie schön sie aussah, als sie zu einem der Autos ging, die Arme auf das Dach stützte und den Kopf schräg legte:

»Na, Sohn«, sagte sie dann stolz, und ich hatte ein merkwürdiges Gefühl – wie wenn Weinen und Lachen gleichzeitig hochwollen und sich im Hals ganz komisch vermischen.

»Mama«, sagte ich, »du bist echt kille.«

Und dann stiegen wir ein, und sie fuhr uns zum Hotel. Sie hatte zwar bestimmt ein bisschen Angst, weil sie seit Jahren nicht mehr gefahren war, aber ich fand damals, dass sie es einfach toll machte.

So fing unsere Woche in Nürnberg an. Die eine große Woche.

2

Es war mein erstes Hotel, und ich war etwas enttäuscht. In meiner Vorstellung gab es mindestens einen Portier und eine verrauchte Hotelbar mit Pianisten. In Wirklichkeit checkten wir mit der Karte ein, die meine Mutter zugeschickt bekommen hatte. Immerhin saß jemand hinter der Rezeption, und es gab altmodische Brieffächer, wenn man sich die Post ins Hotel schicken lassen wollte. Allerdings waren die meisten leer und die anderen mit irgendwelchen Sachen zugestopft. Wir hatten sogar zwei Zimmer, aber nur ein Terminal, das außerdem ungefähr zwanzig Jahre alt war. Eins von diesen Teilen, bei denen man die Tastatur aus der Wand klappen musste. Aber die Aussicht war kühl. Man konnte über die ganze Altstadt hinüber zur Burg schauen. Es wurde allmählich dämmrig, und die Lichter der Autos und der Geschäfte und der Passagen flimmerten in der warmen Luft, die aus der Stadt aufstieg. Ich glaube, ich hing mindestens eine Stunde im Fenster, während meine Mutter auspackte und sich ein wenig hinlegte. Ich mochte es, zu sehen, wie der Abend kam.

»Warum wohnen wir eigentlich nicht bei Großmutter?«, fragte ich später in das dunkle Zimmer.

Es war eine Zeit lang still.

»Weil dein Großvater uns nicht sehen will«, sagte meine Mutter dann mit gelassener Stimme.

»Und warum nicht?«, fragte ich. Es war dunkel, da konnte man leichter sprechen. Ich war damals gerade auf der Kippe zwischen Kind und Erwachsenem, manchmal war meine Mutter einfach meine Mutter; konnte alles und tat alles wie selbstverständlich. Ich hätte zum Beispiel keine Ahnung gehabt, wie man in ein Hotel eincheckt. Und dann war ich schon wieder anders: hatte andere Gedanken, andere Träume, von denen meine Mutter – wie ich mir vorstellte – nichts wusste und nichts wissen sollte. Aber jetzt sah ich sie nicht, und sie mich nicht, und wir waren sonderbar verbunden.

»Weil …«, sie zögerte ein bisschen und sprach gedehnt, als müsste sie sich die Wörter gut überlegen, »weil dein Großvater und ich, also ich meine, mein Vater und ich, wir reden nicht mehr miteinander. Schon lange nicht mehr. Er …«

Ich wartete. Ein Streichholz wurde angerissen, und ich sah, wie meine Mutter rauchte. Sie tat das nicht oft und nie zu Hause. Der Rauch machte das Zimmer vertrauter. Draußen lockte die Stadt mit einem eigenartigen Sommerduft.

»Als ich dich bekam«, sagte sie stockend, »oder, na ja, besser, wie ich dich bekam, das hat ihm nicht gefallen. Oder, nein«, verbesserte sie sich, »das war’s nicht. Um genau zu sein, hat er mir nie verziehen, dass ich dich behalten hab.«

Ich war nicht sehr überrascht. Trotzdem war es komisch, das so ausgesprochen zu hören. Dass der eigene Großvater will, dass man tot ist. Nie geboren worden wäre.

»Hat er das so gesagt?«, fragte ich.

Meine Mutter lachte freudlos.

»Er hat noch ganz andere Sachen gesagt. Das möchtest du gar nicht wissen. Und es ist auch egal. Ich hätte dich nie weggeben können.«

»Und Großmutter?«, fragte ich und sah immer noch über die Stadt hinüber zur Burg. Wie seltsam das aussah: alt und neu. Und das Alte immer noch hoch über der Stadt.

»Großmutter. Ach je. Großmutter. Die hat immer alle immer viel zu sehr geliebt. Weißt du noch? Früher sind wir jedes Jahr hin. Aber dann – er hat sie wochenlang gequält, wenn wir weg waren. Und sie konnte sich nie entscheiden. Wir. Du. Er. Sie wollte, dass wir uns vertragen.« Sie schnaubte verächtlich: »Weißt du, manchmal ist es komisch, dass man von einem Menschen abstammt, der so gar nichts – überhaupt nichts mit einem zu tun hat. Fremder als eine andere Rasse. Vermisst du sie denn?«, fragte sie schließlich etwas überrascht.

»Na ja«, sagte ich, und ließ es dann aber, kühl sein zu müssen, »na ja, nicht wirklich. Aber ich hab sonst überhaupt keine Verwandten. Irgendwie will man doch wissen, wo man herkommt, oder?«

»Lass mal«, sagte meine Mutter mit ziemlich spröder Stimme, »das ist egal. Man kommt her, wo man herkommen will. Oder; anders, wo man ist, kommt nicht drauf an, wo man herkommt. Kille?«

Ich musste lachen. Wenn meine Mutter solche Sachen sagte, klang das immer falsch. Aber ich tat ihr den Gefallen.

»Kille!«, sagte ich. »Ich hab Hunger.«

»Ich auch«, sagte sie und hob die Beine aus dem Bett, »zieh dich um. Wir stürzen uns ins Nachtleben der Großstadt. Kommen Sie, Dom Hirte«, verbeugte sie sich vor mir und ließ mich sie unterhaken, »let’s paint the town red.«

»Domna«, sagte ich hoheitsvoll und führte sie zur Tür.

An diesem Abend durfte ich sogar Bier trinken. Im Zwinger, und den ganzen Abend fuhren unten Autos am Stadtgraben vorbei. Und die Linden blühten und wenn meine Mutter ein Mädchen gewesen wäre, hätte ich mich in sie verliebt.

3

Ich wusste ja damals nicht viel von dem, was meine Mutter machte. Ich habe später einmal gelesen, diese Jahre seien die »Wunderjahre« der Genetik gewesen; die goldenen Jahre, in denen alles möglich schien und die Zukunft wunderbar war. Ein bisschen merkte man davon damals in Nürnberg, auf dem Weltkongress der Genetiker; und man sollte es ja auch merken. Es gab ein umfangreiches Rahmenprogramm; Filme und Shows und Eröffnungen von Instituten. Eigentlich hätte ich zu allem mitkommen können, weil meine Mutter selbstverständlich immer zwei Einladungen bekommen hatte. Aber ich wusste schon jetzt, dass mich die meisten Sachen gar nicht interessierten, und hoffte nur, dass meine Mutter nicht auf die Idee kommen würde, mich überall als »männliche Begleitung« mitzuschleppen. Ich hatte meine eigenen Pläne.

Am Morgen nach unserer Ankunft wachte ich auf, wie ich immer aufwachte, plötzlich; hatte noch ein paar Traumfetzen im Kopf und merkte schon durch die geschlossenen Lider, dass die Sonne schien. Das Fenster war offen, und von unten hörte ich das Rauschen der Stadt; erregend, und das wilde Durcheinander von Tönen war ein einziges Versprechen. Ich stellte mich schlafend, als meine Mutter neben meinem Bett stehen blieb, bevor sie ging; genoss ihr Parfum und dass sie mich wohl ansah, bevor sie ging. Dann klappte die Zimmertür, und ich war allein!

Duschen. Keiner sagt: »Hey, lass mal noch ein bisschen Wasser übrig.«

Alleine im Hotel frühstücken. Der Kellner bringt alles. Milch in einem Glas, das beschlägt, während es gebracht wird. Kühles Obst. Und – ohne Wimpernzucken – ein Glas Sekt. Draußen der Sommer. Der Vormittag. Die Stadt.

Ich denke manchmal, dass dieser erste Tag der schönste war. Der Tag, an dem ich durch die Stadt wanderte und hinter allem, was ich sah, ein Anderes war, mehr; jedes Haus und jeder Mensch ein Versprechen; jede Aussicht ein Tor in den verwunschenen Garten; aus jedem Weg sich zehn neue auftaten. Da waren die chinesischen Straßenmusiker, die mit ihren stundenlangen, nie wirklich endenden Zen-Pop-Liedern überall in der Innenstadt zu sein schienen. Und einmal waren da ein E-Saxofonist und ein Gitarrist aus Brasilien. Bei denen saß ich vielleicht eine Stunde und wunderte mich, dass ich jetzt, wo ich doch im Zentrum meiner Sehnsucht saß, mich doch noch fortsehnen konnte, nach einem Brasilien, von dem dieser Mann sang. Später kaufte ich auf dem Markt mein Mittagessen ein. Es war witzig, dass in der Stadt der Genetiker die uralten Verordnungen auf dem Wochenmarkt immer noch galten. Japanische Touristen stellten sich vor den Marktständen unter die vorgeschriebenen Schilder »Genetisch verändert!« und ließen sich fotografieren. Manchmal hatten sie dann noch eine Bananas oder vielleicht auch eine Calla-Chee in der Hand, die sie kaum halten konnten, und zogen wilde Grimassen, als seien sie selbst genetisch verändert. Das fanden sie komisch. Ich kaufte bloß Oliven und Maisbrot und ein paar Tomaten. Tomaten. Meine Mutter sagte immer, dass mit den Tomaten alles angefangen hatte. Die hatten sie zuallererst verändert. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie früher ausgesehen hatten. Tomaten waren schon immer rot.

»Haben Sie auch andere Tomaten, Dom?«, fragte ich höflich.

»Was?« Der Gemüsehändler starrte mich an.

»Na, ungenetische«, sagte ich.

»Die kannst du dir gar nicht leisten, Junge«, grinste der Händler, »biologische kosten das Stück sechs Euro.«

»Ich will sie mal sehen!«, sagte ich. Der Händler bückte sich und holte eine Kiste aus der Kühlung: »Bitte sehr. Aber nur anschauen, nicht anfassen.«

Ich war enttäuscht. Sie waren vielleicht ein wenig kleiner, aber sonst ganz normal.

»Wo ist der große Unterschied?«, fragte ich.

»Sie schmecken nicht nach Tomaten«, grinste der Händler, »sondern …«, er zögerte bewusst.

»Sondern?«, fragte ich.

»Nach Sex«, lachte der schließlich, »die sind fruchtbar. Pflanzen sich fort. Deshalb kaufen sie auch nur … na ja, du verstehst schon.« Er zwinkerte und lachte roh. Ich verstand schon, zumindest in etwa, und wurde rot.

»Danke«, sagte ich rasch und ging schnell weiter. Hinter mir lachte der ganze Marktstand.

Landei!, schimpfte ich mich im Stillen, aber dann musste ich auch lachen. Tomaten!

Später saß ich auf der von der Sonne warmen Burgmauer, aß Maisbrot, Oliven und Tomaten und sah über die westliche Vorstadt ins Weite.

»Tin-tin«, sagte jemand neben mir, »gibst du mir was ab?«

»Tin-tin«, antwortete ich und drehte mich um. Sie stand in der Sonne auf der Mauer, auf der ich saß. Ich musste die Hand vor die Augen halten. Die Sonne schien an den Seiten durch ihr Hemd. Ich nickte und machte eine Handbewegung. Manchmal denke ich, dass ich in der Zeit so viele Gelegenheiten versäumt habe, so oft aus falsch verstandenem Stolz, aus Angst oder Unsicherheit das Falsche getan habe. Aber manchmal, wie zufällig, tut man genau das Richtige, und das war diese Handbewegung. Diesen Nachmittag habe ich neben einem Mädchen auf einer Mauer gesessen. Einen ganzen Sommernachmittag lang. Wir haben zusammen gegessen. Wir haben geredet, so leicht und über so vieles, wie man das manchmal im Sommer tun kann, wenn man sich nicht gegenüber, sondern nebeneinander setzt und denselben Teil des Himmels im Blick hat. Es war ein Nachmittag, der nicht zu Ende ging.

»Bist du morgen auch hier?«, fragte ich am Schluss.

»Vielleicht«, sagte sie und stand auf, »tin-tin!«

»Tin-tin«, sagte ich und sah ihr zu, wie sie weglief. Und dann saß ich noch viel länger auf der Mauer, denn ich wollte mich nicht bewegen, um mein Glück nicht zu verscheuchen. Erst als immer mehr Menschen in den nun abendlichen Burggarten strömten und es laut wurde, ging ich, wie in ­einem Lied, durch den unendlichen Sommerabend zurück ins Hotel. Sie hieß Rina.

4

Bevor wir unsere kleine Reise unternahmen, hatte ich mir im Stillen zwei Dinge vorgenommen, die ich in Nürnberg tun wollte: einmal Glitzer probieren und meinen Großvater besuchen. Ich wusste nicht genau, was von den beiden Dingen das Schwierigere sein würde, oder wovor ich mehr Respekt hatte. Glitzer war verboten, und keiner von meinen Freunden hatte es schon mal versucht. Ich hatte vorher nichts zu den anderen gesagt, aber ich stellte mir vor, wie es sein würde, zurückzukommen und ein bisschen Glitzer dabeizuhaben. Und mein Großvater … eigentlich war ich bloß neugierig. Ich vermisste meinen Vater nicht, ich kannte ja nichts anderes, und meistens fand ich es sehr bequem, einfach nur mit meiner Mutter zu leben. Aber ich hatte ein romantisches Interesse für ihn entwickelt und malte mir meine Herkunft manchmal in fantastisch bunten Farben aus. Prinzensohn und so. Mein Vater war das einzige Thema, über das meine Mutter nie, niemals sprach. Und deshalb wollte ich Großvater sehen.

Und nun war das Dritte, das ich mir nicht vorgenommen hatte, sondern wovon ich – vor mir selbst verstohlen – geträumt hatte, geschehen und warf meine Pläne durcheinander. Ich hatte mich verliebt.

An diesem Morgen weckte mich meine Mutter.

»Hättest du Lust, in den Tiergarten zu gehen?«, fragte sie mich, während sie die Vorhänge mit einem Schwung aufwarf. Wieder ein Sonnentag.

»Tiergarten!« In meiner Stimme lag alles an Verachtung für die eben vergangene Kindheit, wie sich nur auf ein einzelnes Wort packen ließ. »Nein, danke!« Ich versuchte mir Rinas Gesicht vorzustellen.

»Vielleicht willst du mit, wenn du weißt, dass die Tiergartenkarten für diesen Tag auf dem Schwarzmarkt für über hundert Euro gehandelt werden. Und dass es für die Eröffnungsveranstaltung überhaupt nur hundertfünfzig davon gibt, von denen ich«, sie wedelte fröhlich mit zwei Streifen, »zwei Ehrenkarten habe. Und die kriegst du auf dem Schwarzmarkt nicht mal für tausend. Up up and away, Sohn!«

»Sind wir mittags zurück?« Ich war hin- und hergerissen zwischen Neugier und dem dringenden Wunsch, am frühen Nachmittag wieder auf der Burg zu sein.

»Yessir!«, sagte meine Mutter und zog mir die Decke weg. »Raus mit dir.«

Sie hatte recht gehabt. Als wir zum Tiergarten kamen, konnten wir schon von ferne die Absperrungen und die blauschwarzen Uniformen der verschiedenen Securitydienste sehen, die den Eingang in zwei Ringen abriegelten. Es war ein äußerst killes Gefühl, durch eine Menge von mindestens tausend Leuten zu gehen, die offensichtlich alles dafür gegeben hätten, an meiner Stelle zu sein.

»Was wird denn eigentlich eröffnet?«, fragte ich meine Mutter leise, während wir von zwei Securities zu einem der drei E-Busse gebracht wurden, die hinter dem Eingang standen.

»Die neue Abteilung«, sagte meine Mutter, »Haustiere in ihrer natürlichen Umgebung.«

»Haha«, sagte ich angefasst, »dann verkaufe ich meine Karte eben.«

»Du wirst es sehen, Jung«, sagte meine Mutter, und ich merkte erstaunt, dass sie ein bisschen nervös war. Drei Minuten später setzten sich die E-Busse in Bewegung, und wir rollten gemächlich durch den wunderbar leeren Tiergarten.

Meine Spannung stieg dann doch, als wir einen massiven, unmöglich hohen Metallzaun passierten und ich sah, wie ein Fallgatter das Tor nach dem Bus sofort wieder verschloss. Wir fuhren jetzt durch ein neues Gelände auf ein Gebäude zu. Hypermodern; kein einziger rechter Winkel; es sah aus wie ein bunter, verzerrter Kubus, gemischt mit einem griechischen Tempel. Vor der Freitreppe hielten die Busse. Wir stiegen aus und wurden zu den aufgestellten Stühlen geführt. Ziemlich weit vorne. Dann redete irgendjemand. Und dann noch einer. Und dann war ich völlig baff, weil nämlich meine Mutter aufstand und zum Rednerpult ging. Die Frau überraschte mich täglich mehr. Vor allem, weil sie das ziemlich gut machte. Sie redete von Fortschritt und einem Traum, der in Erfüllung gegangen sei und so. Seltsam, dass sich so etwas immer ganz anders anhört, wenn mit dir noch hundertfünfzig Leute zuhören. Und dann klatschten die Leute, und die riesigen Flügeltüren aus buntem Glas gingen auf, und die Leute strömten in die Halle. Und da passierte, was ich vorher und hinterher nie wieder erlebt habe, und was mir schon Stöße durch den Magen jagte, als ich noch gar nichts sehen konnte: Die Leute waren alle still geworden. Man hörte nichts als die Schritte der Leute und das Schurren und Rascheln der Kleider. Ein Geruch war in der Luft, der völlig fremd war, scharf und gefährlich. Man hörte gar nichts mehr, als dann die Abdeckungen der Oberlichter zur Seite fuhren und plötzlich zehn, vierzehn Lichtsäulen staubtanzend im Saal standen und zeigten, was es zu sehen gab. Nichts hörte man, außer dem scharfen, plötzlichen Einatmen von über hundert Menschen.

Hier waren Märchen wahr geworden. In solchen Augenblicken denkt man nicht, weil man nur sieht, riecht, lauscht.

Es gab keine Käfige. Die Stäbe waren durch Induktionsfelder ersetzt worden. Nichts hinderte den Blick auf den Vogel Roch, der, gigantische fünf Meter groß, auf einem querliegenden Birkenstamm hockte. Nichts trennte von dem Einhorn, das – von ätherischer Eleganz – verloren im Stroh stand und sein Horn verwirrt und knisternd durch das Induktionsfeld hin und her schwenkte. Und nichts trennte schließlich von einer Sphinx, deren weit, weit ausladende Flügel die Luft bewegten, der Löwenkörper leicht und ­schmal, muskulös; das Gesicht wie unter dem Altar, den wir in der Lorenzkirche gesehen hatten.

Ich klatschte nicht mit, als der Applaus unvermittelt losbrach und die Tiere von dem plötzlichen Lärm herumgerissen wurden, panisch. Die Induktionsfelder knisterten unerträglich scharf, und es roch nach Ozon. Ich drängte nach hinten auf den Ausgang zu, aber ich musste mich immer wieder nach den Tieren umdrehen. Heute bin ich vielleicht anders. Ich weiß es nicht. Aber damals, als ich fünfzehn war, waren die Tiere so schön, dass es mir im Herzen wehtat und ich nicht richtig atmen konnte. Und mitten im Kreis der lachenden, klatschenden Menge stand meine Mutter, lachend auch sie, gefeiert und fremd.

Ich wanderte vom Tiergarten in die Stadt zurück. Der Wärter hatte mich ohne Weiteres herausgelassen. Der Neid der Menge, die noch immer vor dem Eingang in der Sonne wartete, machte mir keinen Spaß mehr. Und ich hatte das Bild meiner Mutter vor Augen, wie sie lachend und glücklich zwischen den gefangenen, entsetzlich einsamen Märchentieren stand.

»Tin-tin, Philipp!«, sagte Rina, als ich kam und sie schon auf der Burgmauer gewartet hatte.

»Tin-tin«, sagte ich und freute mich. Ich weiß heute noch, wie sie damals lachte, ein wenig heiser, und das gefiel mir.

»Was wollen wir machen?«, fragte sie. »Sollen wir hierbleiben?«

»Du wohnst doch hier«, sagte ich, »zeig mir die Stadt.«

Sie sprang von der Mauer.

»Alles an einem Tag?«

»Alles an einem Tag!«, sagte ich.

Wir fingen am Burggarten an, und dann wanderten wir nach Johannis, wo mir Rina einen Garten zeigte, in dem es Zwerge und Wassermänner und Nixen gab. Aber die waren aus Stein und sahen froh aus. Ich erzählte Rina von den Tieren. Sie war fasziniert; mehr, als ich gedacht hatte.

»Deine Mutter?«, fragte sie. Ich nickte widerwillig.

»Kille!«, sagte sie beeindruckt.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, weil ich das Gefühl nicht verstand, das ich zu den Tieren hatte. Ich konnte Rina nicht sagen, dass jedes dieser Tiere so ausgesehen hatte, als sei ihm entsetzlich kalt.

Aber dann redeten wir über alles. Mit fünfzehn ist man sich selbst ganz neu. Jeden Tag eine neue Entdeckung; vierzig Kilometer weiter zum Südpol vorgestoßen; man ist ein großes Abenteuer, bei dem man im Packeis erfrieren kann. Darüber redet man. Nie wieder lernt man sich so schnell kennen wie in diesem Alter. Und man glaubt, dass es Schicksal war, dass man sich getroffen hat, weil man Gemeinsamkeiten entdeckt und seine Träume beim Erzählen neu so erschafft, dass sie schon immer auf den anderen passten, dass man schon immer auf den anderen gewartet hat. Man geht spazieren und geht und geht, weil man Angst hat, dass es zu Ende ist, wenn man stehen bleibt.

»Hey«, sagte ich, als es schon Abend war, »hier war ich schon mal.«

»Hier?«, fragte Rina ein bisschen erstaunt. »Hier wohnen die Reichen.«

»Mein Großvater wohnt hier«, sagte ich. Es wurde dämmerig. Dieser Teil der Stadt war wie ein Park. Platanen und Robinien; Sandwege. Ich suchte das Haus und zeigte es Rina. Ein großer Garten. Ein altes Haus mit verfallenden Zäunen um den Garten und dunklen Scheiben, in denen sich glänzend und hell der abendliche Himmel spiegelte.

»Willst du ihn besuchen?«, fragte Rina. Ich schüttelte den Kopf.

»Morgen vielleicht.«

»Morgen ist Mittsommerfest«, sagte Rina zögernd, »ich hab gedacht, dass du vielleicht …«

»Kille«, sagte ich, »klar. Wir können ja zusammen irgendwann dazwischen herkommen. Sollen wir uns wieder an der Burg treffen?«

Rina lachte: »An der Burg? An Mittsommer? Morgen brauchst du Stunden bis zur Burg. Ich kann dich beim Hotel abholen.«

Als wir am Fluss unterhalb des Bades durch den Park zurück in die Stadt gingen, fingen sich unsere Hände. Keiner sah den anderen an. Es war wunderschön.

5

Die Stadt war wie im Rausch. Mittsommerfest. Die Straße ein ohrenbetäubender Korso, der sich an den Cafétischen und -stühlen auf den Gehsteigen entlangschob, lachend, lärmend, trinkend. Überall rasselten Knarren, von Mittsommerhexen geschwungen. Die Plätze öffentliche Ballsäle, der Tanz der Saison war Kataklysma; die Bands hämmerten ihn von Bühnen an jeder Ecke in die tobenden Mengen. Es roch betäubend nach Blüten, Parfum und schwerem Rauch. Nürnberg, Hauptstadt Europas in diesem Jahr, feierte den Mittsommer ’68. Rina hatte mich abgeholt. Ich hatte sie bisher nur in Hosen gesehen, aber jetzt trug sie wie alle anderen Frauen und Mädchen das Mittsommerkleid. Sie war schön.

»Tin-tin«, schrie sie lachend durch den Lärm, »frohen Mittsommer!«, und küsste mich auf beide Wangen. »Frohen Mittsommer!«, schrie ich und küsste zurück. Was für ein Fest! Mittsommer war auch bei uns wunderschön, aber so etwas wie in Nürnberg hatte ich noch nie erlebt. Die Autos! Wer eins hatte, und das waren bestimmt Hunderte, hatte es mit Blumen geschmückt und fuhr hupend und singend und mit dröhnender Musik den Ring entlang. Die Leute hingen aus den Fenstern und saßen auf den Dächern. Die Stadtbahnen hatten offene Wagen angehängt, auf denen Bier und Wein ausgeschenkt wurde; den Ring entlang war die Mauer mit Blumengirlanden geschmückt. Wir ließen uns treiben und schieben. Fliegende Händler mit Getränken zu irren Preisen, meist Inder oder Chinesen, drängten sich geschickt durch die Menge. Tanzen! Überall wurde getanzt. Es war, wie ich mir den Karneval in Brasilien vorstellte. Alles lachte, schrie, sang. Und wir mussten uns an den Händen halten, sonst hätten wir uns längst verloren. Wir ließen uns an der Lorenzkirche vorbei nach unten zum Hauptmarkt schwemmen, über dem in fünfzehn Metern Höhe eine Bühne an Kränen hing; Lascivity spielten dort. Ich wäre gern ein wenig geblieben, aber Rina zog mich weiter. Überall in der Menge konnte ich es glitzern sehen, wenn jemand eine Prise in die Luft warf, um sie einzuatmen, aber die berittenen Polizisten, die rings um den Markt postiert waren, hatten keine Chance, durch die Menge zu kommen, und sahen heute vielleicht auch einfach weg. Auf dem Fluss trieben lange Flöße gemächlich nach Westen; auf ihnen wurde gegrillt, gebacken und ausgeschenkt; die Menschen sprangen in den Fluss und schwammen zu ihnen hin, aßen oder tranken eine Kleinigkeit und schwammen zurück. Boote, Papierschiffchen, Menschen; das Wasser war so voll wie die Straßen. Ich berauschte mich an den Farben, am Lärm und an den Gerüchen. Und an Rina; man konnte in diesem Gewühl nicht anders, als sich aneinanderzupressen, um vo­ranzukommen. Auf dem Weg zum Dürer-Platz liefen wir an den Cafés vorbei, die Bier und Wein über die Straße verkauften, wieder staubte überall Glitzer und ich hoffte, irgendwo einen Händler zu sehen. Als wir nach dem völlig überfüllten Dürer-Platz in das noch überfülltere Tiergärtnertor drängten, bekam ich das erste Mal in meinem Leben echte Angst vor Menschen. Es war nicht mehr angenehm, gegen Rina gepresst zu werden. Die Luft im Tunnel war zum Schneiden; man hatte Schwierigkeiten beim Atmen, und eine unterdrückte Panik lag über den Köpfen. Rina boxte sich rücksichtslos gegen den Strom durch, und schließlich hatten wir es geschafft und standen am Ring. Ich atmete ein paarmal tief ein.

»Ist das immer so?«, fragte ich Rina. Sie grinste und nickte: »Das hier ist Nürnberg«, sagte sie ein bisschen stolz.

Die Nordstadt wirkte neben der Innenstadt vornehm altmodisch. Die Leute, die hier ihre Häuser hatten, mussten sie nicht in Solarfolien hüllen wie in den Slums der Südstadt, wo ganze Straßenzüge stumpf schwarz waren und die Hitze jetzt im Sommer unerträglich. Hier waren die Gärten sogar im Mittsommer grün. Aber gefeiert wurde hier auch. Wir sahen ein buntes Gewirr von Lampions auf den Terrassen, wo die Reichen der Stadt ihre Fêtes du Soleil feierten. Wir gingen zum Haus meines Großvaters. Aus den Gärten hörte man die Geräusche der verschiedenen Feiern, Musik, Lachen. Die meisten Gärten hatten über den Hecken zusätzliche Flimmerfelder, dass man nicht hineinsehen konnte. Hinter einem Tor konnte ich ein paar Kynatzen sehen, die in der Sonne lagen. Ich stieß Rina an: »Schau mal.«

Rina zuckte die Schultern. »Die haben hier alle«, sagte sie gleichgültig, »wer sich’s leisten kann.«

Kynatzen waren eigentlich verboten. Keiner bei uns im Dorf hatte diese Kreuzung aus schweren Kampfhunden und Katzen. Kynatzen konnten klettern und dreimal so hoch wie Hunde springen. Ich hatte vorher noch nie welche gesehen, aber ich wollte nichts sagen, um mich vor Rina nicht zu blamieren.

Das Haus meines Großvaters hatte einen altmodischen Zaun und eine uralte Videoanlage, die längst nicht mehr funktionierte. Vor dem Klingelknopf zögerte ich. Rina verstand:

»Wenn du ihn so lange nicht gesehen hast, dann soll ich vielleicht besser draußen warten, kille?«

Ich nickte verlegen. Rina setzte sich auf den Bordstein, den die Straßen hier alle noch hatten. Ich klingelte. Meine Großmutter öffnete so rasch, dass ich überrascht war und zu stottern anfing. Sie hatte sich kaum verändert, aber ich wusste auf einmal nicht mehr, wie ich sie anreden sollte.

»Domna«, begann ich, aber sie unterbrach mich und kam die Stufen herunter:

»Philipp!«, rief sie und lachte, »Gott, bist du groß geworden!«, und dann umarmte sie mich so überschwänglich, wie sie es früher immer getan hatte; unbefangen und herzlich. Dann sah sie Rina: »Ist das deine Freundin?«, fragte sie und winkte sie gleichzeitig her. »Du kannst sie doch nicht draußen sitzen lassen.«

»Großmutter!«, sagte ich froh, »ich hatte schon Angst, dass du mich nicht wiedererkennst.«

»Ha!«, sie warf den Kopf in die Luft, wie früher, »bilde dir bloß nichts ein, du bist noch längst nicht erwachsen. Wollt ihr Kaffee mit mir trinken? Frohen Mittsommer überhaupt!«, sprudelte sie heraus, und ich hatte das Gefühl, als sei ich nicht lange weg gewesen. So stiegen wir hinauf in ihr Wohnzimmer, saßen auf dem altmodischen Balkon mit den Mosaiken in der Sonne, und Großmutter verstand sich mit Rina so gut, dass ich ein warmes Gefühl bekam.

»Großmutter«, fragte ich in eine Pause hinein, »ist der Großvater da?« Ein Schatten auf dem Gesicht meiner Großmutter. Sie nickte.

»Meinst du, er wird mich sehen wollen?«, fragte ich vorsichtig.

»Ach, du weißt doch, wie er ist«, entschuldigte Großmutter ihn, »es geht ihm nicht immer gut, und er ist gegen sich so streng wie gegen andere.«

»Ich geh trotzdem mal runter«, sagte ich und stand auf, »ich will ihn eigentlich bloß was fragen.«

Manchmal denke ich heute, wie es gewesen wäre, wenn ich nicht hinuntergegangen wäre. Ob es etwas geändert hätte. Ich weiß es nicht. Aber ich weiß noch, wie ich unten etwas nervös, aber auch gespannt an die Tür des Wohnzimmers klopfte und er »Herein« befahl.

Im Zimmer war es angenehm kühl, die Fensterläden zum Garten geschlossen, und nur ein dämmeriges Licht sickerte ein bisschen grün, ein bisschen sonnig herein. Mein Großvater saß in seinem Sessel, wie vor zehn Jahren. Ein stolzes Gesicht; er sah noch im Alter gut aus.

»Dom Hirte«, sagte ich höflich, »frohen Mittsommer, entschuldigen Sie die Störung …«

»Wer bist du?«, fragte er barsch.

»Philipp Hirte«, sagte ich höflich, »ich bin Ihr Enkel, Dom.«

Er musterte mich. Entweder hatte er Kontaktlinsen, oder er brauchte wirklich keine Brille.

»Lilith hat dich geschickt«, stellte er kategorisch fest. Ich schüttelte den Kopf.

»Meine Mutter weiß nicht, dass ich hier bin.«

»Was willst du dann?«, fragte er ungeduldig.

»Na ja«, sagte ich, »eigentlich wollte ich …«

Er unterbrach mich grob:

»Entweder, du sagst, was du willst, oder du gehst wieder. Ich habe keine Zeit zu vergeuden.«

Die Katze stand von seinem Schoß auf, dehnte sich und sprang hinunter, um durch die halb offene Balkontür im Garten zu verschwinden. Ich nahm meinen Mut zusammen:

»Ich wollte wissen, ob Sie mir vielleicht sagen können, wer mein Vater ist.«

Mein Großvater sah mich zum ersten Mal voll an. Er lächelte böse.

»Sie hat es dir nicht gesagt? Wie alt bist du?«

»Fünfzehn, Dom«, sagte ich. »Ich habe sie aber auch schon lange nicht mehr gefragt«, beeilte ich mich hinzuzufügen, als wollte ich meine Mutter entschuldigen.

»Und dann kommst du zu mir?«, fragte der Großvater. »Du bist ganz schön dreist«, sagte er in halb bewunderndem Ton, den er aber sofort wieder fallen ließ, als er sich vorbeugte und mich wieder Zentimeter für Zentimeter musterte, als suche er nach einer Ähnlichkeit. Dann warf er sich plötzlich wieder zurück in seinen Sessel, und sein Gesicht verschloss sich.

»Geh heim, Junge!«, sagte er.

»Dom«, sagte ich immer noch höflich, aber mutiger. Ich hatte das Gefühl, dass er ganz genau Bescheid wusste. »Ich glaube, Sie wissen, wer mein Vater ist. Bitte sagen Sie’s mir.«

Irgendwie hatte ich bis dahin noch vage romantische Vorstellungen, dass mein Vater ein großer Verbrecher gewesen war oder ein Seemann oder ein Politiker, den sie längst umgebracht hatten.

Mein Großvater zögerte. Er schien zu überlegen, bis er sich schließlich rasch vorbeugte und sagte:

»Philipp also. Deine Mutter hat Sinn für Humor. Hat dich Philipp genannt.«

»Hieß mein Vater Philipp?«, fragte ich neugierig.

Der Großvater starrte mich einen Augenblick an, dann lachte er plötzlich brüllend los: »Dein Vater!« Er warf sich rückwärts in den Sessel. Es war ein gespenstisches Gelächter, und ich bereute, hergekommen zu sein. Aber jetzt ließ er mich nicht mehr los. Abrupt hörte er auf zu lachen und fragte leichthin, lauernd, herablassend:

»Ich nehme an, ihr habt heute kein Griechisch mehr auf der Schule?«

Ich schüttelte den Kopf. Er nickte befriedigt und erklärte:

»Phil hippos. Phil – kurz für Freund; hippos – das Pferd; Pferdefreund, Pferdeliebhaber.«

Ich war verwirrt.

»Mein Vater hatte also mit Pferden zu tun«, riet ich, »war er ein Reiter oder was, oder, ach klar«, dachte ich laut, »er hat auf Pferde gewettet und alles Geld verloren …«

Der Großvater setzte mir seinen Stock hart auf die Brust.

»Du verstehst nicht«, zischte er böse; so wild und böse, »dein Vater war kein Reiter oder so was«, äffte er mich nach, »dein Vater war ein Pferd. Ein Pferd!«, wiederholte er. Dann nahm er den Stock von meiner Brust.

»Was?«, fragte ich völlig verblüfft. »Was?«

»Ein Pferd!«, bestätigte der Alte und schlug sich dann vor die Stirn: »Ach natürlich«, unterbrach er sich in plötzlicher Erkenntnis selbst, »es ist ja Genetikerkongress, deshalb seid ihr hier. Deine Mutter«, sagte er nun wieder im Gesprächston, »hat schon immer gern mit Genen gespielt. Es brauchte keinen Mann für dich.«

Es war dieser Gesprächston, der mich überzeugte. Der mir sagte, dass der alte Mann nicht log oder wirres Zeug erzählte. Ich hatte auf einmal das Gefühl, als würde ich alles von weit weg hören. Auch mich selbst.

»Deshalb wollten Sie mich tot haben«, sagte ich flach.

Der Alte nickte.

»Du bist ein Bastard«, sagte er im sachlichen Ton, »wenn es überhaupt einen Bastard gibt, dann bist du einer. Du bist eine lebendige Sünde gegen die Natur. Du bist kein richtiger Mensch. Wenn man bedenkt, was schon ein einziges Chromosom zu viel anrichten kann, und dann dich ansieht: Du kannst gar kein Mensch sein. Sag mir«, fragte er eindringlich und beugte sich vor, »kannst du Gras essen? Deine Mutter wollte, dass du Gras essen kannst. Wegen des Hungers, hat sie gesagt, damals.« Er lachte.

Mir wurde schlecht.

»Hat sie … hat sie mich …«, würgte ich an den Worten herum, »hat sie mich ausgetragen?«

Das Gesicht des Alten verzerrte sich von Hass.

»Ja. Sie hat dich ausgetragen. Ein Tier gemacht, sich eingesetzt und ausgetragen. ›Mein Sohn‹ hat sie gesagt, als sie das erste Mal herkam. Ha! Ha! Sohn! ›Ich hab geworfen‹, hätte sie sagen sollen, ›schaut mal, ich hab geworfen‹. Enkel! Hör zu«, geiferte der Großvater, »ich habe keine Tiere zu Enkeln. Ich bin einer der besten Ärzte dieser Stadt gewesen, und ich hab kein Tier zum Enkel und keine Tochter, die ein Pferd einem Mann vorzieht.«

Der Alte beruhigte sich wieder und sah mich kalt an:

»Geh weg«, sagte er, als er mich würgen sah, »man hat schon Pferde kotzen sehen.«

Ich drehte mich um und ging in den Gang; kämpfte dort mit meiner Übelkeit. Von oben rief die Großmutter besorgt zu mir nach unten: »Philipp?«

Ich schaffte es in den Garten, bis ich mich übergeben musste.

6

Renn! Renn! Renn, Pferd! Renn! Ich peitschte mich selbst durch die Straßen. Ich rannte. Meine Lungen pfiffen längst, aber ich hörte nicht auf. Ein Pferd kann rennen! Ein Pferd kann rennen. Die Menschen um mich herum nahmen mich kaum wahr. Das Mittsommerfest war längst auf dem Höhepunkt, und alle Welt war schon angetrunken. Überall staubte Glitzer; manchmal atmete ich ein wenig davon ein, wenn ich mich weiterquälte. Rina war mir ein Stück nachgelaufen. Was ist ein Mädchen gegen ein Pferd. Renn! Tier. Tier. Renn, Tier, du kannst rennen, du bist nur ein Tier. Tiere rennen. Renn. Ich lief durch die Straßen, ohne zu wissen, wohin. Für wen war die Musik? Für wen gab es Bier und Glitzer? Ich lief durch die Stadt, bis ich irgendwann wirklich nicht mehr konnte und ich einfach irgendwo einknickte und an eine Hausmauer gelehnt sitzen blieb. Jeder Atemzug tat weh. Ich hatte Angst, ich würde Blut spucken, wenn ich husten müsste. Um mich herum standen Menschen, die mich kaum beachteten. Die Straßen wurden für die ersten Feuerräder frei gemacht. Mittsommer. Hallo, dachte ich, heute Nacht können die Tiere eine Stunde lang sprechen. Hallo, ihr Menschen, hört mal. Ich rede mit euch. Das Pferd. Und was weiß ich, was noch alles. Was meine Mutter so zusammengemischt hat für ihren perfekten Sohn. Danke, dass du mich wenigstens ausgetragen hast. Danke, MAMA! Danke für die Haferflocken. Und die Äpfel. Und die Karotten. Sind gut für die Augen, was? Bitte gib mir noch ein Zuckerstückchen, für mein kleines Pony, danke, wiehert dann mein Ponypferdchen mit dem Namen Johnny, weit übers Land will es heute traben, soll mein kleines Ponypferdchen auch ein Zuckerstückchen haben. Irgendwann merkte ich, dass ich weinte.

Als die Welle der ersten Feuerräder durch die Straßen gerollt war und die Menschen ihnen singend hinterherzogen, stand ich auch wieder auf. Es war Nacht geworden. Endlich. Am längsten Tag. Ich ging. Aber ich hatte keine Ahnung, wohin. Ich ließ mich treiben. Als mir jemand Glitzer anbot, wehrte ich erschreckt ab. Erschrocken, weil man mich angesprochen hatte. Ich lief wieder ein Stück. Die Nacht war so warm und Nürnberg ein einziges Fest.

»Klipp – klopp!«, sang ich vor mich hin, als ich endlich aus der Innenstadt heraus war, »klipp – klopp!«

Es war nicht schwer, in der Mittsommernacht in den Tiergarten zu kommen. Der Weg zum Märchentempel war weiter, als er mir im Bus vorgekommen war, aber ich hatte ja Zeit. Schließlich sah ich das schwache bläuliche Leuchten der Induktionsfelder auf der kleinen künstlichen Lichtung. Ich wanderte den sanften Hügel hinab zu dem Tempel, dessen provisorische Wände seit der Eröffnung fortgenommen worden waren, sodass er jetzt offen wirkte. Aus der Nähe konnte man die Felder zwischen den Säulen nur dann wahrnehmen, wenn sie leise knisterten oder wenn man zufällig den scharfen Ozongeruch in die Nase bekam. Ich kam näher. Keines der Wesen schlief. Das Einhorn bewegte noch immer in ruhigem Rhythmus sein Horn durch das Feld. Die Sphinx lag, den Kopf auf den Vorderpfoten schief, und beobachtete mich. Der Vogel Roch drehte den Kopf nach den Geräuschen, die ich verursachte. Ich setzte mich auf die Stufen, dort, wo ich alle sehen konnte.

Von der Stadt klangen verweht die Geräusche des Festes herüber. Dann wurde es kühler im Tiergarten. Und dann musste es Mitternacht sein, denn plötzlich explodierte die Stadt in Feuerwerk, in brennenden Hürden und in Lärm. Die Wesen fuhren entsetzt herum.

»Frohen Mittsommer«, sagte ich, »Geschwister.«

Kein Laster ist so dumm, daß sich’s nicht ein

Paar Tugendfetzen außen um sich schlingt.

aus: William Shakespeare, Der Kaufmann von Venedig, III, 2

Eine Urlaubsliebe

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